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1760-1859: Hinter der Mauer, vor der Moderne
Der fünfte Band der Basler Stadtgeschichte setzt 1760 ein, etwa eine Generation vor der Französischen Revolution von 1789. Den Schlusspunkt des Bandes bildet der Beschluss von 1859, die Stadtmauer abzubrechen. Dazwischen findet im Rahmen der Basler Revolution von 1798 die Aufklärung in Basel ein breiteres Publikum, Basel wird Teil der Helvetischen Republik. Nach der Mediation und dem Wiener Kongress 1815 drehen die Schweizer das Rad aber zurück und machen viele der Neuerungen rückgängig. Deshalb kommt es 1832/33 (aus Basler Sicht) zur Katastrophe: zur Kantonstrennung. Aus dem offenen Basel wird eine verschlossene Stadt, die sich noch lange gegen die Modernisierung und Öffnung wehrt. Bis dahin war Basel auf vielfältige Weise in die Änderungen verstrickt. Die Stadt ist eine Drehscheibe für materielle und immaterielle Güter. «In den Handelskontoren, wo der Blick weit in die Welt hinaus geht, weiss man seit jeher um den Wert von Waren und Menschen. Informationen und Raubkunst werden gehandelt, Diplomaten und Spione quartieren sich ein, die europaweite Verschiebung der napoleonischen Massenheere geht auch durch Basel, eine Epidemie
wird eingeschleppt», schreibt Andreas: Salvisberg. Dazu kommen eine Hungersnot, Krankheiten, konfessionelle Kämpfe und die immer rascher fortschreitende Modernisierung. Die Stadt öffnet sich zwar während der Revolution, kapselt sich danach aber wieder ab. «Die zweite Hälfte der knapp sechzig Jahre zwischen 1760 und 1817 ist auch ein Scheitern der Kräfte, die demokratische ideale entwickeln, ihren Handlungsspielraum erweitern und doch wieder verlieren, schreibt Salvisberg. «Den Erfolgen einer aufgeklärt-reformerisch bis revolutionär eingestellten Interessengruppe stehen zunehmend ernüchternde Erfahrungen und eine konservative Gegenbewegung gegenüber.» So fehlte es zum Beispiel am Interesse und am Austausch mit der eigenen Landschaft. Basel war (und ist) stärker nach Norden orientiert als ins ländliche Baselbiet. Eine Folge davon ist die bis heute nachwirkende Katastrophe der Kantonstrennung.
Die Zeitspanne von der französischen Revolution bis zum Beginn der Moderne ist eine faszinierende Zeit. Viele Schweizerinnen und Schweizer blicken auf ihr Land als das Resultat von Unabhängigkeit und Eigensinn. Am Beispiel der Ereignisse in Basel lässt sich nachverfolgen, wie wenig der Entwicklungen ihren Anstoss innerhalb der Eidgenossenschaft nahmen. Im Gegenteil ist die heutige Schweiz in viel stärkerem Ausmass das Resultat «fremder Mächte», wie es rechtskonservative Kreise formulieren würden: Die Schweiz ist von Napoleon und dem Wiener Kongress geprägt worden. Das gilt auch für die Stadt Basel: Die Neuerungen der französischen Revolution und der Aufklärung waren nicht nachhaltig. Die Herren der Stadt drehten das Rad sofort zurück, als sich nach dem Abzug der napoleonischen Truppen die Gelegenheit das gab – und lösten damit die Kantonstrennung aus. Das sind für mich die eindrücklichsten Passagen an der neuen Stadtgeschichte: Wie vehement sich die Stadtherren gegen Veränderungen sträubten, etwa gegen die Aufnahme des Fricktals oder gegen die Öffnung der Stadt zum Land. So manche damalige Halsstarrigkeit erinnert an die heutige Sturheit der Schweizer im Umgang mit der Europäischen Union.
Spannend am Projekt «Stadt.Geschichte.Basel» ist die Mischung aus Geschichte, Kulturgeschichte des Alltags und städtischer Erinnerungskultur. So ist in den Büchern nicht nur die Rede von Politik, sondern auch von Kleidung, Moden, den Wirtshäusern und den Medien. Im 19. Jahrhundert setzt etwa die bürgerliche Schriftkultur ein, Tagebücher werden zu einer wichtigen historischen Quelle. Aufklärung und wissenschaftliches Denken setzten der Religion zu. Das führte zu zwei gegensätzlichen Bewegungen: Skeptische Freigeister und liberale Aufklärer wandten sich von der (in Basler reformierten) Staatskirche ab, im Gegenzug warnten fromme Pietisten vor den ungläubigen und gefährlichen Menschen. Daraus entstanden in Basel Erweckungsbewegungen, die bis heute nachwirken.
Die Bände der Basler Stadtgeschichte sind reich illustriert. Im fünften Band finden sich zum ersten Mal zeitgenössische Fotos aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darauf ist eine ärmliche Stadt zu sehen, verwinkelte Gassen mit engen Häusern – und viel Schmutz. Das sollte sich erst mit dem Abriss der Stadtmauer ändern, die mit der Industrialisierung nötig wurde. Es ist ein spannender Bogen, den dieser fünfte Band der Stadtgeschichte schlägt, vom fast noch mittelalterlichen Basel zu einer Stadt, die das Zeug zur europäischen Grossstadt hat. Mit den Revolutionen und der Kantonstrennung sind Geschehnisse abgebildet, deren Nachwirkungen (und Wunden) bis heute in der Stadt nachwirken.
André Salvisberg et al.: 1760-1859: Hinter der Mauer, vor der Moderne. Stadt.Geschichte.Basel Band 5. Christoph Merian Verlag, 336 Seiten, 39 Franken; ISBN 978-3-03969-005-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039690053
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