Buchtipp

Letzter Tipp: Schicksalsjahr 1925

Entpolarisiert euch!

Publiziert am 16. April 2025 von Matthias Zehnder

Der niederländische Philosoph Lammert Kamphuis ist in einem stark religiösen Umfeld aufgewachsen. «Die heutige Gesellschaft erinnert mich immer mehr an meine frühere Kirche», schreibt er. «Man steht entweder auf der guten oder der schlechten Seite. Einen Mittelweg scheint es nicht mehr zu geben. Wenn wir nicht aufpassen, beziehen wir unsere Stellungen und graben uns darin tief ein.» Er zitiert Betrand Russel: «Das ganze Problem mit der Welt ist, dass Spinner und Fanatiker sich immer so sicher sind, und weisere Menschen so voller Zweifel.» Ein Grund dafür: «Die meisten Diskussionen im Fernsehen sind zu einem Spektakel geworden. Talkshows vermitteln den Eindruck, als gäbe es zu fast jedem möglichen Thema nur zwei Standpunkte, die dann auch noch diametral entgegengesetzt sind.» Kamphuis sagt deshalb, dass wir unter «Allodoxaphobie» leiden, also unter der Angst vor Menschen mit anderen Ansichten. Die Frage ist: Warum? «Was müssen wir konkret von einem Menschen befürchten, der andere Vorstellungen als wir selbst hat? Solange diese Ansichten nicht direkt unsere Existenz, unsere Liebsten oder unsere Besitztümer bedrohen, gibt es doch gar keinen Grund zur Angst?» Woher also kommt diese Angst? Seine Diagnose: aus Unsicherheit. Je lauter jemand schreie, desto unsicherer sei er. «Ein Mangel an innerer Stärke wird mit heftigen Tiraden kaschiert. Denn der andere erinnert einen an die eigene unerträgliche Verzweiflung.» In der Gesellschaft sei die Unsicherheit gestiegen, weil wir alle Fundamente verloren haben. Im Mittelalter verschaffte der Glaube an Gott uns festen Boden unter den Füssen. Er gab dem Leben einen Sinn, sorgte für ein Zusammengehörigkeitsgefühl und war ein klarer Kompass. Dann kam die Aufklärung und die Vernunft wurde zum Fundament. Doch im 20. Jahrhundert begann auch die Vernunft zu wackeln: «Plötzlich gab es überhaupt kein Fundament mehr», schreibt Kamphuis. «Das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und anderen Autoritäten wuchs an. Wir würden lernen müssen, ohne Sicherheit zu leben.» Er zitiert Václav Havel: «Wir leben in der Postmoderne, in der alles möglich und praktisch alles ungewiss ist.» Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman charakterisiert unsere Gesellschaft deshalb als liquid: All unsere traditionellen, festen Beziehungen sind beweglicher geworden. «Unsicherheit nagt an unserem Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben», schreibt Kamphuis. «Das Rathaus, das Polizeirevier und das Krankenhaus sind buchstäblich immer weiter von uns entfernt. Und auch die politische Entscheidungsfindung scheint auf einer immer höheren Ebene stattzufinden. Wir empfinden uns als machtlos. Und die Zukunft als ungewiss. Um das zu kompensieren, beginnen wir lauter zu schreien. Um ein Gefühl von Kontrolle wiederzuerlangen.»

PDF-Version

Die Verständigung wird auch dadurch erschwert, dass wir einem starken Confirmation Bias unterliegen: Wir haben die Tendenz, Dinge so wahrzunehmen, dass sie unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen. Kamphuis zitiert Anaïs Nin: «Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, wir sehen die Dinge so, wie wir sind.» Noch schlimmer: Wer von etwas extrem überzeugt ist, weiss normalerweise nicht besonders gut über die betreffende Sache Bescheid. Das ist der Dunning-Kruger-Effekt: Gerade wegen ihrer Inkompetenz schätzen sich Menschen vorteilhafter ein. Oder, wie C. G. Jung es ausdrücke: «Denken ist so schwer – darum urteilen die meisten».

In seinem Buch zeigt er ganz konkret, wie wir durch Philosophieren dem schwarz-weissen Weltbild Farben hinzufügen können und neu zu sehen lernen. Als Philosoph werde er oft gefragt, was Weisheit sei. Er verweise dann auf die nigerianische Philosophin Sophie Oluwole: «Weisheit ist die Möglichkeit, etwas auf eine andere Weise zu sehen.» Das sei die wesentliche Leistung des Philosophierens: sich darin zu üben, eine Situation, eine Person, eine Idee aus mehreren Blickwinkeln betrachten zu können. Was dabei auffällt: Aus jeder Perspektive sieht eine Sache, ein Thema anders aus.

Entscheidend, so Kamphuis, sei dabei, zu akzeptieren, wie wenig wir wirklich wissen. Er zitiert Yuval Noah Harari: «Die wissenschaftliche Revolution war keine Revolution des Wissens, sondern vor allem eine Revolution der Unwissenheit. Die grosse Entdeckung, mit der die wissenschaftliche Revolution losgetreten wurde, war die Erkenntnis, dass wir Menschen nicht im Besitz der Wahrheit sind, und dass wir auf die wichtigsten Fragen keine Antworten wissen.» Deshalb sei es so wichtig, sich der Grenzen des eigenen Wissens bewusst zu sein und zuzugeben, wenn man etwas nicht weiss. Kamphuis: «Wir müssen uns selbst und dann unsere Jugend lehren, dass die Worte «Ich weiss es nicht» die wichtigste treibende Kraft hinter jeder Innovation, hinter jeder Forschung sind.»

Mit ganz konkreten Übungen zeigt Kamphuis im zweiten Teil seines Buchs, wie wir zu mehr «perspektivischer Gelenkigkeit» kommen, wie wir also lernen, eine Sache aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Das heisst nicht, sein Fähnchen in den Wind zu hängen. «Wenn man überhaupt keinen Standpunkt vertritt, kann man leicht nach Belieben von einer Perspektive zu einer anderen wechseln. Dazu braucht man nicht gelenkig zu sein. Wer kein Rückgrat hat, braucht kein Training, um beweglicher zu werden», schreibt Kamphuis. Beweglichkeit sei erst dann eine Leistung, wenn man einen Standpunkt vertrete und sich gleichwohl aus dieser Position heraus in andere Sichtweisen hineinversetzen könne. Die wichtigste Übung: Begegnung mit Andersdenkenden. Es sei schwieriger geworden, Menschen ausserhalb der eigenen Blase zu begegnen. Aber es ist möglich, wenn man seine Komfortzone verlässt.

Lammert Kamphuis: Entpolarisiert euch! Mit Philosophie gegen die Spaltung der Gesellschaft. Aufbau, 184 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-351-04241-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351042417

Wenn Sie das Buch lieber digital für Ihren Kindle beziehen möchten, klicken Sie hier

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/

Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/

Abonnieren Unterstützen Twint-Spende