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Schach-Euphorie
Am 19. November 2022, am Tag vor Beginn der Fussball-WM in Katar, postete Cristiano Ronaldo ein Bild auf Instagram, das zu einem der meistgelikten Beiträge aller Zeiten wurde. Das Foto, aufgenommen von der legendären Porträtfotografin Annie Leibovitz, zeigte Lionel Messi und Cristiano Ronaldo beim Schachspielen. Als Schachbrett nutzten sie dabei einen karierten Koffer von Louis Vuitton. Bildunterschrift: «Victory is a State of Mind» – Sieg ist Einstellungssache. «Es wäre», schreibt Peter Doggers, «kaum vorstellbar gewesen, dass Messi und Ronaldo vor einem Dame- oder Kartenspiel sitzen.» Schach ist mehr als nur ein Spiel. Es steht für das geistige Ringen von Strategen, für List, Mut und Klugheit. In seinem Buch erzählt er gut verständlich die Geschichte des Schachspiels von seinen Anfängen vor etwa 1500 Jahren bis zu den neusten Entwicklungen des Computerschachs und der Schach spielenden KI. Das ist nicht nur für Apologeten des Schachspiels interessant. Denn Peter Doggers erzählt auch, welche Rolle der Computer heute spielt. Seit Gary Kasparow gegen Deep Blue verloren hat, haben sich Schachcomputer dramatisch weiterentwickelt. Dennoch haben die Menschen nicht aufgehört, Schach zu spielen. «Heute können sich weder Schachamateure noch Grossmeister eine Welt ohne einen Computer vorstellen, mit dem sie ihre Entscheidungen analysieren, sich auf ihre Partien vorbereiten oder online spielen können», schreibt Doggers.
Schachhistoriker sind sich weitgehend einig, dass das Spiel seinen Ursprung in Indien hat. Vermutlich ist es us einem anderen Brettspiel namens Chaturanga hervorgegangen, das um das 6. Jahrhundert auftauchte. Von Indien aus verbreitete sich das Schachspiel in Asien und Persien. Nach der muslimischen Eroberung Persiens in der Mitte des 7. Jahrhunderts lernten die Araber das Schachspiel kennen, das jetzt den Namen «Schatrandsch» trug. Im 9. oder 10. Jahrhundert war Schach im gesamten arabischen Raum bekannt, von Indien bis nach Spanien. Eine reichhaltige arabische Schachliteratur beschrieb das Spiel und seine Verbindungen zur Mathematik und zum logischen Denken. Arabische Spieler brachten das Schachspiel im 10. Jahrhundert über die Iberische Halbinsel und das Byzantinische Reich nach Europa. Mit der Zeit änderten sich die Figuren, sie wurden verwestlicht und christianisiert.
In den letzten Jahren hat Schach wieder stark an Beliebtheit gewonnen. Das liegt unter anderem an der Netflix-Serie «Das Damengambit», die 2020 online ging. «Nur vier Wochen später hatten 62 Millionen Haushalte die Serie gesehen, die in 92 Ländern die Top Ten erreichte und in 63 Ländern auf Platz eins stand», schreibt Peter Dohhers. «Es dauerte weniger als einen Monat, bis Das Damengambit die meistgesehene Serie auf Netflix wurde.» Die Serie löste einen unglaublichen Schachboom aus. Die Verkaufszahlen von Schachbrettern und -figuren stiegen um mehr als 1000 Prozent, die Mitgliedschaften bei Chess.com gingen durch die Decke.
Die Netflix-Serie geht auf den gleichnamigen Roman von Walter Tevis zurück. Er reiht sich ein in eine ganze Reihe literarischer Verarbeitungen des Schachspiels. Peter Doggers nennt natürlich die «Schachnovelle» von Stefan Zweig und Vladimir Nabokovs «Lushins Verteidigung». Zweig und Nabokov erzählen von Menschen, die vom Schach zutiefst besessen sind, und damit auch von den zerstörerischen Kräften, die das Spiel haben kann. Beide Werke hätten deshalb «dazu beigetragen, den Archetyp des Schachgrossmeisters als gequältes Genie zu schaffen», schreibt Doggers. Es sei heute ein «weitverbreitetes und bedauerliches Vorurteil zu glauben, eine Brillanz im Schach gehe zwangsläufig mit einer Form von Wahnsinn einher».
Peter Doggers erzählt von Büchern und Filmen, in denen Schach eine wichtige Rolle gespielt haben, von Theaterstücken und Musik und landet dann bei der Wissenschaft. Nein, nicht bei der Mathematik, sondern zunächst bei der Psychologie. Schach habe einen riesigen Einfluss auf die Psychologie gehabt, schreibt er. «Mithilfe des Schachspiels wurden viele Aspekte des menschlichen Verstandes untersucht, darunter Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lernen, Kreativität, Denken und Entscheidungsfindung.» Der früheste dokumentierte Einsatz von Schach in der psychologischen Forschung stammt aus dem Jahr 1893. Durchgeführt wurde die Studie von Alfred Binet, der für die Erfindung des ersten praktischen IQ-Tests bekannt ist. Seine Studie war der Beginn einer langen Serie von Forschungsvorhaben in der kognitiven Psychologie, die bis heute andauert. Dabei geht es um Fragen wie: Wie denken grosse Schachspieler? Wie unterscheidet sich das von der Denkweise von Amateuren? Was sagen diese Unterschiede im Schachdenken über die Kognition im Allgemeinen aus?
Die Stars im Schach kommen im Buch ausführlich vor. Peter Doggers portraitiert die Grossen des Spiels, darunter Bobby Fischer, Gary Kasparow und Magnus Carlsen. Er erzählt nicht nur ihre Geschichten, sondern erklärt auch, was ihr Schachspiel ausmachte.
An dieser Stelle enden die meisten anderen Schachbücher. Das Buch von Peter Doggers ist empfehlenswert, weil es die Entwicklung des Computers und der künstlichen Intelligenz einbezieht. Er erzählt die Geschichte von Alan Turings ersten Rechenmaschinen bis zu Deep Blue, dem Computer von IBM, der Gary Kasparow schlug. Doggers zeigt dabei auch die Grenzen der KI auf: Generative Sprachmodelle wie ChatGPT können nicht Schach spielen, weil sie auf Sprachstatistik beruhen. Sie verstehen Schach nicht und schlagen deshalb unsinnige Züge vor. Das Schachbuch wird auf diese Weise zu einem spannenden Streifzug durch die Geschichte von Computer- und Kognitionswissenschaften.
Peter Doggers: Schach-Euphorie. Warum das königliche Spiel uns immer wieder neu begeistert . Ullstein, 480 Seiten, 22.50 Franken; ISBN 978-3-548-06940-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783548069401
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