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Salut les amis

Publiziert am 12. September 2024 von Matthias Zehnder

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron können es nicht so miteinander. Die Medien beider Länder berichten immer wieder über Krisen zwischen dem «couple franco-allemand – dem deutsch-französischen Paar». Die Missverständnisse zwischen dem emphatischen Franzosen und dem staubtrockenen Deutschen stehen aber in keinem Vergleich zur Geschichte: Dreiundzwanzig Kriege haben Frankreich und Deutschland in den vergangenen vierhundert Jahren gegeneinander geführt. Der letzte, der Zweite Weltkrieg, war so mörderisch, dass in Frankreich und Deutschland die Idee eines geeinten Europas geboren wurde. Ziel: endlich ein dauerhafter Frieden. Den Grundstein dafür haben Charles de Gaulle und Konrad Adenauer nach dem Krieg gelegt. Ihre Nachfolger setzten die Arbeit fort. Der französische Präsident Giscard und der deutsche Kanzler Schmidt legten den Grundstein für die europäische Währung und gründeten den G7-Gipfel. Der französische Präsident Mitterrand stand Hand in Hand mit dem deutschen Bundeskanzler Kohl auf dem Gräberfeld von Verdun – siebzig Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Und doch ticken die Länder grundverschieden und haben es manchmal schwer in ihrer Partnerschaft. In seinem Buch über die deutsch-französische Partnerschaft erzählt Ulrich Wickert, wie er die Freundschaft der beiden Länder nach dem Krieg am eigenen Leib erlebt hat. Er ist überzeugt, dass die beiden «Erbfeinde» definitiv Frieden geschlossen haben. Er plädiert aber dafür, dass in beiden Ländern wieder mehr in die Zukunft Europas investiert werden müsse. Das fängt damit an, dass wieder mehr Schüler Französisch oder Deutsch lernen sollten.

Denn bei aller Freundschaft sind die beiden grossen Länder Europas sehr unterschiedlich. Frankreich ist ein stark zentralistisch regiertes Land mit einem Hang zu Protektionismus, Deutschland ist föderal organisiert und stolz auf seine soziale Marktwirtschaft mit vielen ökonomischen Freiheiten. Frankreich hat als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg ein ungetrübtes Verhältnis zu Armee und Waffenindustrie, in Deutschland sehen viele Menschen den Verkauf von Waffen kritisch und die Politik blockiert einzelne Geschäfte ganz. Frankreich ist eine präsidiale Demokratie, der französische Präsident wirkt manchmal fast wie ein König. In Deutschland regiert das Parlament mit viel Palaver. Die vertikale Machtstruktur Frankreichs steht gegen die deutsche Kompromisskultur. Der französische Präsident agiert. Der deutsche Bundeskanzler reagiert.

Der Präsident in Frankreich bestimmt, ähnlich wie der US-Präsident, die Aussen- und die Verteidigungspolitik fast nach Gutdünken. In Deutschland hat das Parlament das Sagen. Der französische Präsident kann seine Regierung entlassen, er bestimmt, wie soeben geschehen, wer Premierminister wird oder welcher Minister welches Ressort leitet. Der deutsche Bundeskanzler dagegen ist in eine (derzeit sehr schwierige) Koalition eingebunden. Er muss den Ausgleich zwischen sehr unterschiedlichen Partnern suchen und alle wichtigen Entscheidungen in den Bundestag tragen.

Zum Glück kann Ulrich Wickert in seinem Buch erzählen, wie er persönlich die beiden Länder in seiner langen journalistischen Karriere erlebt hat. Mögen sich die politischen Systeme wie Katz und Hund gegenüber stehen – auf der Ebene der Menschen sieht es anders aus. Da sind die Länder verflochten miteinander und gehen konkrete Schritte im Alltag. Bloss in einem Punkt sind die beiden Länder sich im täglichen Leben wirklich grundverschieden: In allen Fragen der nationalen Identität ticken die Franzosen ganz anders als die Deutschen.

Frankreich, schreibt Wickert, «strebt immer noch nach einer Führungsrolle in Europa», und sucht dafür die Unterstützung Deutschlands. «Bundeskanzler Olaf Scholz jedoch, der sich als Transatlantiker bezeichnet, lehnt ein deutsch-französisches Kondominium ab, wonach Frankreich und Deutschland sich einigen und ihr Ergebnis dann den anderen EU-Staaten mitteilen. Für Scholz hat Deutschland zwar die Aufgabe, die europäische Einheit zu fördern, aber nicht zu führen.» Da ist er wieder, der Zauderer aus Hamburg.

Nein, Freunde werden Olaf Scholz und Emmanuel Macron in diesem Leben wohl nicht mehr. In seinem Buch zeigt Ulrich Wickert aber, dass das in der Vergangenheit nicht besser war. Es hat die damaligen Präsidenten und Bundeskanzler nicht daran gehindert, grosse Projekte anzupacken. Schmid und Giscard standen sich nicht näher, sie hatten aber ein gemeinsames politisches Ziel: die Entwicklung der gemeinsamen europäischen Währung. «Wie sie dies zum Teil in aller Heimlichkeit vorbereiteten und in der EU durchsetzten – man denke nur an die Einführung des Ecu –, zeugte von großem Vertrauen. Solch ein Projekt eint», schreibt Wickert.

Zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl habe eine wechselseitige Beziehung bestanden, aber mindestens zu Beginn kaum Vertrauen. «Mitterrand liess über seinen Außenminister Roland Dumas manchmal bei Genscher nachfragen, wie er Kohls Handlungen einzuschätzen habe», erzählt Wickert. Dennoch haben die Auseinandersetzungen während des deutschen Einheitsprozesses sie einander nähergebracht: «Kohl hätte bei der Gedenkfeier für Mitterrand in Nôtre-Dame keine Träne vergossen, wenn er nicht auch Gefühle empfunden hätte.»

Eher die Ausnahme waren Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die sich am Ende nicht nur vertrauten, sondern «auch eine sehr persönliche, intime Beziehung entwickelten. Dazu wird ihr ursprünglich heftiger Streit um die Neuordnung der europäischen Instanzen beim Gipfel in Nizza beigetragen haben, der bei Chirac zum Bedürfnis führte, das Verhältnis zu entspannen.» Ihr Vertrauen habe sich entwickelt, als es um die Frage ging, ob Chirac mit Frankreich Schröders Entscheidung, Deutschland aus dem militärischen Engagement im Irak-Krieg herauszuhalten, unterstützen würde. «Er tat es.» Aus dem Vertrauen wurde Intimität, als Schröder und Chirac sich 2003 mit ihren Frauen in Dresden zu einem Mittagessen trafen.

Und trotzdem sind Franzosen und Deutsche, sind Macron und Scholz grundverschieden. Macron ist ein begnadeter Kommunikator, Scholz ein wohl ebenso begnadeter Verwalter. Macron und seine Beamten ärgern sich über die hölzerne Art des Deutschen. Wickert schreibt dazu: «Mich erinnert dieses Aufplustern allerdings an den Satz meines Metzgers in der Rue de Varenne, als ich in Paris arbeitete: Der Hahn sei Frankreichs Wappentier, und das habe seinen Grund, er stehe mit den Füssen im Mist und schreie, sich gockelhaft spreizend, in den Himmel.»

Es sind diese Bilder und Beispiele, die das Buch von Wickert lesenswert machen. Dies und sein Optimismus. Er steht dazu: «Ein Krieg zwischen Deutschen und Franzosen ist ‹out›, ist Geschichte. Wir erinnern uns zwar an die Vergangenheit, und das ist auch gut so, aber in der Erinnerung zu verharren bedeutet, in der Geschichte und daraus resultierend auch in Verblendungen verhaftet zu sein.» Er fordert aber auch, dass beide Länder wieder mehr in die Zukunft Europas investieren. «Das fängt beim Engagement für die deutsch-französische Verständigung an. Verständigung aber setzt Verstehen voraus.» Und das heisst: Es sollten wieder mehr Schüler Französisch respektive Deutsch lernen. «Aber der Weg, den ich in den letzten Jahrzehnten mitgegangen bin, beruhigt mich», schreibt Wickert. Es gebe in der Geschichte kein anderes Beispiel für einen so rasanten Wandel von der «Erbfeindschaft» hin zu dauerhaftem Frieden und Freundschaft nicht nur zwischen zwei Ländern, sondern in Europa. «Und wir sehen ja trotz vieler Tiefpunkte: Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.»

Ulrich Wickert: Salut les amis. Meine Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Piper, 208 Seiten, 31.5 Franken; ISBN 978-3-492-05962-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492059626

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