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Die Unvereinigten Staaten

Publiziert am 19. September 2024 von Matthias Zehnder

Wenn Sie sich vor den amerikanischen Wahlen etwas mit den USA beschäftigen wollen, dann ist dies das Buch, das sie zur Hand nehmen sollten. Nüchtern und umfassend erklärt Stephan Bierling, wie die Verfassung der USA entstanden ist, wie die Parteien funktionieren, die Präsidentschaft, der Kongress und die wichtigsten Bundesämter. Er zeigt jeweils, wie die Ämter historisch entstanden sind, erzählt, wie sie sich entwickelt haben und zeigt, vor welchen Schwierigkeiten sie heute stehen. Die Gründungsväter der USA hatten zwei grosse Prinzipien: Sie wollten verhindern, dass ein Mann die Macht an sich reisst, deshalb haben sie über all Checks and Balances eingebaut. Dabei setzten sie in der Verfassung auf das Prinzip der Mässigung und legten das politische System auf Kompromisse an. Davon haben sich die USA weit entfernt: Heute prägen Kulturkämpfe rund um die ethnische Identität, die Religion und die Lebensqualität die Auseinandersetzung. Die politischen Lager sind so gespalten wie noch nie. Stephan Bierling erzählt das alles mit leichter Hand und gespickt mit historischen Beispielen. Er ergreift keine Partei, zeigt aber deutlich, wie stark Donald Trump die traditionellen Einrichtungen der USA verändert oder gar beschädigt hat. Wenn Sie dieses Buch lesen, können Sie sich die meisten Hintergrundberichte über die amerikanischen Wahlen schenken. Sie können die Nachrichten (und Donald Trump) besser einordnen.

In elf Bereichen schreitet Stephan Bierling das politische System der USA ab. Er beginnt mit den Ideen der Verfassungväter und schildert, wie die Verfassung entstanden ist und wie sie sich seither verändert hat. Interessant ist, dass sich die Angst vor einer Bedrohung der Freiheit durch Machtkonzentration bei Präsident, Kongress, Gerichten oder Volk durch alle Debatten des Verfassungskonvents zog. Bis vor kurzem war die Verfassung allen Amerikanern heilig. «Ob konservativ oder liberal, wir sind alle Verfassungsanhänger», schrieb Barack Obama 2006. Selbst ein rechter Republikaner wie Senator Ted Cruz pflichtete dem 2012 bei. Mit dieser Einigkeit ist es aber vorbei. Denn die amerikanische Gesellschaft hat sich von der Konsens- zur Kulturkampfnation entwickelt. Ursprünglich galt der Pragmatismus als Kardinaltugend in den USA. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren: Die Konsenskultur ist zerbrochen. Bierling identifiziert dafür drei «Spaltpilze». Er nennt sie «Spaltpilz Race», «Spaltpilz Religion» und «Spaltpilz Lebensqualität». Daraus sind neue Dynamiken für die amerikanische Politik entstanden, die Folgen haben für die Institutionen und Prozesse und für die Architektur des politischen Systems.

Bierling schreibt, der grosse Wandel habe in den 1960er-Jahren begonnen. «Seither beschleunigte sich dieser Wandel dramatisch und erfasste alle Lebensbereiche: Ausbildung, Arbeitsmarkt, Struktur der Wirtschaft, Aussenhandel, Technologie, Immigration und Demographie, Religion und Werte. Die USA wurden vielfältiger, gebildeter, internationaler und reicher, aber auch ökonomisch disparater, säkularer und individualistischer. Was für viele Gruppen einen Gewinn an Gleichberechtigung und Lebensperspektiven brachte, bedeutete für andere Statusverlust und Abstiegsangst.»

Zu einem Treiber der gesellschaftlichen Spaltung wurde dabei die Religion: «Drei Sorgen trieben fundamentalistische Christen in Trumps Arme: Erstens das Gefühl, im Kampf gegen die Verweltlichung der Gesellschaft auf der Verliererstrasse zu sein. Ihre Normen waren unter Druck, 2015 legalisierte der Supreme Court sogar gleichgeschlechtliche Ehen. Zweitens gab es die an Paranoia grenzende Angst, die Demokraten würden ihre religiösen Privilegien beschneiden, die Rechte von Homo-und Transsexuellen stärken und – am wichtigsten – Schwangerschaftsabbrüche erleichtern. Drittens schliesslich glaubten sie, das republikanische Establishment kämpfe nicht engagiert genug für ihre Anliegen.»

Zur Spaltung beigetragen hat der rasante technologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Lebensqualität: «Die Besserausgebildeten konnten die Früchte der Technologisierung, Automatisierung und Globalisierung geniessen in Form kreativer, gutbezahlter Jobs, hoher Renditen an den Kapitalmärkten, günstiger Importprodukte oder internationaler Kontakte und Reisen. Die Schlechtausgebildeten profitierten hingegen allein von billigeren Waren, während ihre Löhne fielen, ihr Anteil am Nationalvermögen zurückging und ihre guten Arbeitsplätze insbesondere in Industrie und Bergbau verschwanden oder unsicherer wurden. Es fiel ihnen zudem schwerer, aus der unteren Einkommensschicht in eine höhere aufzusteigen.» Gutausgebildete und Bessergestellte können die Gewinne der modernen Hochleistungswirtschaft einstreichen, während der Rest der amerikanischen Gesellschaft zurückbleibt.

Das grosse Problem für die USA ist, dass sich die drei grossen Konfliktlinien Race, Religion und Lebensqualität mittlerweile auch geographisch niederschlagen: «In Städten leben tendenziell Bessergebildete, Gutverdienende und Jüngere, die häufig Minderheiten angehören und positive Lebensaussichten haben, auf dem Land Schlechtgebildete, Niedrigverdiener und Ältere, die meist weiss sind und sich vor der Zukunft ängstigen. Städter sind überproportional Demokraten, Landbewohner Republikaner. 2020 gewann Biden mit 58 zu 40 % gegen Trump in Grossstädten mit mehr als einer Million Einwohnern, während Trump in ländlichen Landkreisen mit zwei Dritteln zu einem Drittel vorne lag.»

Die Spaltung der Gesellschaft entlang weltanschaulicher Bruchlinien wird stark durch nicht-staatliche bewirtschaftet. Dazu gehören Interessengruppen und Soziale Bewegungen, die ihren Anliegen durch Lobbying oder Demonstrationen Gehör verschaffen, Think Tanks, die die Politik erforschen, beraten und immer häufiger in eine bestimmte weltanschauliche Richtung zu lenken versuchen, und Medien, die über die Politik berichten und sie kommentieren, aber sie auch mehr und mehr beeinflussen.

Bierling schreibt, dass das Mediensystem damit teilweise ins 19. Jahrhundert zurückrutscht, «als parteiliche Berichterstattung die Norm war. Schlimmer noch: Es aktivierte und verstärkte politische und kulturelle Identitäten, die bisher geschlummert oder zumindest kein Ventil gefunden hatten. Die technologische Revolution bei den Medien weitete die Weltsicht also nicht wie erhofft, sondern verengte sie. In erster Linie die Republikaner schufen sich seither ihre eigene abgeschottete Medienwelt. Bis dahin hatten sie nur wenige Sprachrohre wie die 1955 von William Buckley gegründete National Review oder die Leitartikel des Wall Street Journal. Am wichtigsten war 1996 die Gründung von Fox News durch den Medienunternehmer Rupert Murdoch.»

Das hat umso dramatischere Wirkung, als sich das Parteiensystem der USA in den letzten Jahren extrem polarisiert hat. John Adams schrieb bereits 1780, er fürchte nichts mehr als «eine Spaltung der Republik in zwei grosse Parteien». Ähnlich argumentierten Madison in den Federalist Papers und der erste Präsident George Washington in seiner Abschiedsbotschaft nach zwei Amtszeiten 1796. Parteianhänger, warnte Washington das amerikanische Volk, «ersetzen den delegierten Willen der Nation durch den Willen einer Partei, oft einer kleinen, aber geschickten und geschäftstüchtigen Minderheit». Genau das ist inzwischen geschehen.

Der Grund dafür liegt darin, dass die relative Mehrheitswahl ein Zweiparteiensystem geradezu erzwingt, weil die beiden herrschenden Parteien Drittparteien diskriminieren und die Wähler ihre Stimme nicht an erfolglose Kandidaten verschenken wollen. So hat in den USA noch nie ein Drittpartei-Bewerber die Präsidentschaft gewonnen, und im Kongress sassen selten mehr als eine Handvoll Parlamentarier, die nicht einer der beiden grossen Parteien angehörten.

Diese beiden grossen Parteien, die Republikaner und die Demokraten, haben sich in den letzten Jahren stark voneinander entfernt. «Dieser Megatrend mündete in die Herausbildung von zwei Gruppenidentitäten entlang von Parteilinien. Erhebungen belegen zudem, dass es nicht die Identifikation mit der eigenen Partei ist, die sich in den vergangenen 40 Jahren verändert hat, sondern der Groll auf die andere – speziell seit 2012. ‹Nichts schweisst eine Gruppe mehr zusammen als ein gemeinsamer Feind›, konstatiert Ezra Klein. Die Politikwissenschaftlerin Lilliana Mason von der Johns Hopkins University geht noch einen Schritt weiter: ‹Parteibindung kann man sich inzwischen als eine Art Megaidentität vorstellen, mit all den Verstärkungen in Psychologie und Verhalten, die dies impliziert.›» Verstärkt wird die gegenseitige Abneigung dadurch, dass sich Republikaner und Demokraten physisch kaum noch begegnen und so die Sorgen und Nöte der anderen Seite selten erfahren. «Ihre Lebenswelten drifteteten immer weiter auseinander. 1980 wohnten bei der Präsidentschaftswahl lediglich 4 % der Wähler in ‹Erdrutsch-Landkreisen›, in denen ein Kandidat mehr als 70 % der Stimmen gewann. 2020 waren es 35 %. Und holte Bill Clinton 1996 knapp die Hälfte der 3100 Landkreise der USA, schaffte das seine Frau Hillary 2016 bei gleich hohem Stimmenanteil nur mehr in weniger als 500 – darunter aber 88 der 100 einwohnerreichsten. Die Demokraten waren die Partei der Bevölkerungszentren geworden, die Republikaner die des flachen Landes und der Klein-und Mittelstädte. Eine Folge: 64 % der Demokraten und 55 % der Republikaner sagen, sie hätten ‹nur wenige› oder ‹keine› engen Freunde aus der anderen Partei.»

Weil sich das Land und die Parteien so stark sortiert haben, findet der Wahlkampf heute nur noch in einigen wenigen Staaten statt, in denen nicht eine Partei eine klare Mehrheit hat. «2020 absolvierten die Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten der Demokraten und Republikaner 204 ihrer 212 Hauptwahlkampf-Auftritte (96 %) in lediglich zwölf umstrittenen Staaten. Pennsylvania und Florida hatten mit 47 (22 %) beziehungsweise 31 (15 %) die meisten Events, 33 Staaten und DC keinen einzigen. Trump und Biden gaben 90 % ihres TV-Werbebudgets in gerade einmal sechs Staaten aus.» Das hat drastische Konsequenzen: «Weil sich 95 % der Wähler in den Swing States bereits festgelegt haben, sagt ein demokratischer Politikberater voraus, dass sich der Wahlkampf 2024 um 400’000 gewinnbare Wähler (gettable voters) in drei oder vier Staaten dreht.»

Die drastische Polarisierung des Landes hat Auswirkungen auf allen Ebenen. Eine sichtbare Konsequenz der Ideologisierung der Politik: In den ersten 207 Jahren der US-Geschichte mit der aktuellen Verfassung gab es nur ein Amtsenthebungsverfahren gab. Zwischen 1996 und 2021 kamen dagegen drei Impeachments zustande: «Die politischen Positionen sind ähnlich wie im und nach dem Bürgerkrieg, also während des ersten Impeachment, so verhärtet, dass man Konflikte selbst über die Anklage und Absetzung eines Präsidenten auszutragen bereit ist», schreibt Stephan Bierling

Spannend an seinem Buch ist, dass er die aktuelle Situation in einen historischen Kontext stellt und zeigt, welche grossen Entwicklungen dahinter stehen. Ganz nebenbei bietet er hervorragenden Staatskundeunterricht über die amerikanischen Institutionen, von den Parteien, der Präsidentschaft und dem Kabinett über Senat, Kongress und Bundesämter bis zu den Gerichten. Wer rund um die Wahlen in Amerika mitreden (oder auch nur mitdenken) will, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.

Stephan Bierling: Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie. C.H. Beck, 336 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-406-82159-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406821592

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