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Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst
Das wird schon nicht so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Mit dieser Binse beruhigen sich viele Beobachter von extremen Strömungen in der Politik. Doch die Realität straft das geflügelte Wort Lügen: Die AfD hat sich in Deutschland in den letzten Jahren nicht zur Mitte bewegt. Im Gegenteil: Die extremen Ränder haben die Partei übernommen. Das Medienhaus «Correctiv» beobachtet die Partei seit vielen Jahren. Die Journalisten haben über die AfD recherchiert und ihre Politiker, Einflüsterer und Ideologen beobachtet. Correctiv-Journalist Marcus Bensmann hat die Erkenntnisse aus der jahrelangen Recherche in diesem Buch zusammengetragen. Das Buch handelt also nicht nur vom sogenannten «Potsdamer Geheimtreffen». Es belegt, dass die AfD eine «Partei der Entgrenzung» geworden sei, eine Partei Russlands und der Vertreibung. Marcus Bensmann schreibt, die AfD habe «die liberale Welt, in der wir leben, zum Feind erklärt». Offen ist etwa von der Abschaffung universeller Menschenrechte die Rede. Die Radikalisierung der Partei zeigt sich in Programmen, Reden, Aussagen einzelner Politiker sowie deren Büchern. Viele Parteifunktionäre wünschen sich den Sieg Russlands in der Ukraine und hoffen auf den Zerfall des ihrer Meinung nach dekadenten Westens. Sie wollen aus der NATO austreten und denken über die Vertreibung von Millionen von Menschen nach. Auch über deutsche Staatsbürger mit migrantischem Hintergrund. Das ist die sogenannte «Remigration». Marcus Bensmann schreibt: «Die Masken sind gefallen. Niemand kann mehr sagen, er hätte es nicht gewusst. Es ist jetzt klar, was die AfD mit Deutschland und Europa vorhat, wenn sie jemals an die Macht gelangen sollte.»
Als Rechtsextremismus-Experte des Recherchenetzwerks «Correctiv» war Marcus Bensmann über Jahre hinweg auf Parteitagen, Kreisversammlungen und anderen Treffen der rechten Szene dabei, analysierte die Verlautbarungen und Programme rechter Netzwerke und die Bücher ihrer Protagonisten, verfolgte die Entwicklung der AfD von der professoralen Anti-Euro-Partei bis zur rechtsradikalen Übernahme durch den völkischen Flügel und die immense Radikalisierung an der Parteispitze. Aus diesen Recherchen hat Bensmann dieses Buch zusammengesetzt. Er zeigt, welche Pläne die Radikalen an der Parteispitze verfolgen und was Deutschland blühen würde, sollten sie einst tatsächlich tun können, was sie wirklich wollen. Bensmann sagt: «Es geht um die Deportation von Millionen von Menschen, die Hinwendung zu Russland und China und die Abschaffung der universellen Menschenrechte.»
Ende 2023 haben diese Ideen Schlagzeilen gemacht, als «Correctiv» über das «Potsdamer Geheimtreffen» berichtete. Die geheime Zusammenkunft fand im November 2023 in der Nähe von Potsdam statt, ironischerweise in einer Villa, die der Fernsehserie «Babylon Berlin» über den verzweifelten Abwehrkampf der Weimarer Republik gegen die Machtübernahme der Nazis als Kulisse diente. An diesem Geheimtreffen nahmen hochrangige AfD-Politiker, Neonazis und finanzstarke Unternehmer teil. Sie diskutierten darüber, wie sich Millionen von Menschen aus Deutschland vertreiben lassen. Das ist die sogenannte «Remigration», ein Euphemismus für die Zwangsausweisung von Asylbewerbern, Ausländern mit Bleiberecht und so genannt nicht assimilierten Staatsbürgern – Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft eingeschlossen.
Vorgestellt wurden die Pläne von Martin Sellner, einem führenden Kopf der Neuen Rechten. Bei den anwesenden AfD-Politikern stiessen die Ideen auf Zustimmung. Die Berichterstattung von «Correctiv» über das Treffen führte zu grossflächigen Protesten und Demonstrationen in Deutschland. Die AfD griff die Recherche von «Correctiv» gerichtlich an, die zentralen Rechercheergebnisse blieben aber unangetastet.
In seinem Buch zeigt Marcus Bensmann, dass diese radikalen Ideen keineswegs aus der Luft gegriffen sind, auch wenn sich die AfD damit weit von den Ideen ihrer Gründer entfernt. Die Parteigründer der AfD, der Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke oder der FAZ-Publizist Konrad Adam, waren Kritiker des Euros, also der Europäischen Währungsunion. Aber sie standen zu westlichen Werten und waren Transatlantiker. Aus gutem Grund: Als Ökonomen wussten sie, dass es die Westbindung an die USA war, die Deutschland und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratie und Wohlstand garantierte. Die Kritik an der Westbindung, am atlantischen Bündnis und an der NATO kam in der Bundesrepublik Deutschland von links. Heute ist das anders: Heute gehört der rechte Antiamerikanismus, der nichts anderes ist als die Ablehnung der liberalen Demokratie, zum Kern der AfD.
Aber der Feind der AfD ist nicht nur die USA, sondern auch die EU. Von einer Anti-Euro Partei entwickelte sich die AfD zu einer Anti-EU Partei. Im Januar 2019 beschloss die AfD auf ihrem damaligen Europaparteitag sogar den «Dexit», also das Ziel eines Austritts von Deutschland aus der EU. In seinem Buch zeigt Marcus Bensmann, wie die AfD der EU den Rücken kehrt und sich Gegenzug Russland zuwendet. Er zitiert das Wahlprogramm der Partei: «Zur Wiederherstellung des ungestörten Handels mit Russland gehören die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie die Instandsetzungen der Nord-Stream-Leitungen», heisst es da. Die Partei fordert: «Die Beziehungen Deutschlands zur Eurasischen Wirtschaftsunion sollen ausgebaut werden». Statt zu Frankreich, Italien oder Belgien sucht die AfD also die Nähe zu Russland, Armenien, Belarus, Kirgistan und Kasachstan.
Die politischen Vorstellungen und Wünsche der Partei und ihre Politikerfiguren sind zuweilen so abstrus, dass man in Versuchung kommt, bloss den Kopf zu schütteln und die ganze Sache nicht ernst zu nehmen. Den AfD-Europa-Politiker Maximilian Krah zum Beispiel und dessen Nähe zu China. Krah lobbyiert im Europaparlament für China und hat einen chinesischen Spion in seinem Vorzimmer sitzen. Oder der Kreml-freundliche Petr Bystron, der Geld von einem Moskau-treuen Medium angenommen haben soll. Krah und Bystron haben Russland auch nach dem Angriff auf die Ukraine verteidigt und die AfD auf Kremlkurs hielten. Es sind Figuren, die jeder Lektor aus einem Romanmanuskript streichen würde, weil sie zu unglaubwürdig und zu überzeichnet wirken. Genau deshalb besteht laut Bensmann die Gefahr, dass man sie nicht ernst nimmt.
Das Buch enthält eine ganze Reihe weiterer solcher Geschichten. Etwa die Recherche über die Identitäre Bewegung rund um Martin Sellner und Maximilian Krah. Sie sehen die «ethnokulturelle Identität» von Deutschland in Gefahr. Anders als bei den Nazis geht es nicht gegen «die Juden», sondern gegen sogenannte «minderwertige Rassen». Bensmann schreib, bei Sellner seien es «vor allem Flüchtlinge und Muslime, aber auch Gastarbeiter und Staatsbürger mit migrantischem Hintergrund, die einen angeblichen ‹Bevölkerungsaustausch› herbeiführen». Sellners Ziel sei es, «diesen ›Bevölkerungsaustausch’ rückgängig zu machen, nämlich durch das, was er ‹Remigration› nennt.» Krah und Sellner tun so, als würden sie mit der Abschiebung der Menschen diesen auch noch etwas Gutes tun. Maximilian Krah schreibt in seinem Buch «Politik von rechts – Ein Manifest»: Die Remigration «ermöglicht den Migranten ein Leben im Einklang mit ihren Traditionen in der angestammten Heimat». Bensmann seziert in seinem Buch diese wohlklingenden Sätze und zeigt, welche menschenverachtende Haltung dahinter steht.
Bensmann zeigt in seinem Buch nicht nur das wahre Gesicht der AfD, er gibt der Republik auch Ratschläge, wie sie diese Partei in Schranken halten kann. Damit überschreitet er zwar die Linie des blossen Berichterstatters, die Gedanken sind aber klug und lesenswert. Ein Beispiel: Er empfiehlt anderen Parteien, AfD-Abtrünnige aufzunehmen. Die Radikalisierung der AfD und ihre Haltung zu Russland missfalle auch vielen ihrer eigenen Mitglieder, Mitarbeiter und Funktionäre. Doch diese Menschen sind in der AfD gefangen. Ihnen wird ihre Mitgliedschaft in der AfD nicht verziehen. Wenn sie aus der Partei austreten, können sie deshalb nur verlieren. Also bleiben sie in der AfD und machen gute Miene zum bösen Spiel. Bensmann empfiehlt deshalb den anderen Parteien, offen für Abtrünnige zu sein: «Die Möglichkeit zur Rückkehr in die Demokratie ist auch die Stärke einer Demokratie; wenn sie diese Möglichkeit nicht bietet, schafft sie eine Wagenburgmentalität.»
Marcus Bensmann hat ein spannendes Buch vorgelegt, das (nicht nur in Deutschland) zu denken gibt. Seine Ratschläge sind klug, die Recherche erschütternd. Das Problem ist nur: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, können Sie nicht mehr sagen, sie hätten es nicht gewusst. Wer das Buch liest, muss handeln.
Marcus Bensmann, Correctiv: Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. Die ungeheuerlichen Pläne der AfD. Galiani Berlin, 256 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-86971-311-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783869713113
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