Buchtipp
Nächster Tipp: Hitlers Interviews
Letzter Tipp: Das Prinzip Trotzdem
Künstliche Intelligenz und echtes Leben
Digitalisierung betrifft uns alle und sie wird unser aller Zukunft prägen, ob wir nun digitale Dienstleistungen nutzen oder nicht. Christian Uhle findet deshalb, dass ein so weitreichender Prozess «wohlüberlegt, gemeinsam und demokratisch gestaltet werden» sollte. Uhle geht dabei von einer philosophischen Perspektive aus: Er forscht als Wissenschaftler zu gesellschaftlichen und technologischen Transformationen. In seinem Buch gibt er Anregungen, wie wir über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nachdenken können. Er geht dafür den fünf zentralen Versprechungen nach, die mit der Einführung von KI verbunden sind: mehr Zeit, mehr Gemeinschaft, weniger Stress, mehr Unterstützung – und mehr Sinn. Die Versprechen klingen alle gut. Bloss stehen hinter den KI-Werkzeugen handfeste Interessen amerikanischer Grossunternehmen. Diese Interessen sind eher selten deckungsgleich mit den Wünschen, die Menschen an ihr Leben stellen. Uhle fordert uns mit seinem Buch deshalb dazu auf, eigenständig über KI nachzudenken und das Feld der KI (und den Grossunternehmen) nicht gedankenlos zu überlassen.
Dabei beinhaltet schon die Frage «Wie verändert Künstliche Intelligenz unser Leben?» einDenkfehler: «Sie klingt, als wäre KI etwas, das ausserhalb unserer Gesellschaft steht und wie eine übergeordnete Macht auf uns einwirkt, schreibt Uhle. Doch das ist nicht so: KI ist keine Kraft von aussen, sondern ein Produkt unserer Gesellschaft. Technologie wird von Menschen gemacht. Uhle fragt deshalb: Welche gesellschaftlichen Werte und Vorstellungen kommen in den KI-Anwendungen zum Ausdruck? Welche Menschenbilder, welche Ansichten über das Leben, welche Wünsche und Sehnsüchte leiten die digitalen Technologien und ihren Einsatz? Welche sozialen Machtverhältnisse spiegeln sich in der Gestaltung und den Visionen neuer Technologien wider?
Neue Technologien sind immer auch ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Seinem Buch geht Uhle fünf solcher Technologieversprechen mit den Mitteln eines Philosophen auf den Grund. Da ist zunächst das Urversprechen aller neuen Technologien: Endlich mehr Zeit! Geht diese Rechnung auf? Haben wir wirklich mehr Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens oder werden wir im Gegenteil noch gestresster?
Das zweite Versprechen: Du bist nicht allein! Social Media, aber auch Übersetzungsprogramme und Angebote wie Online-Dating versprechen, Menschen miteinander zu verbinden. Funktioniert das?
Das dritte Versprechen: Die neue Technik, Dein Freund und Helfer! Wie verändern sich soziale Strukturen und unser Sinnempfinden, wenn wir nicht nur mit Menschen, sondern zunehmend auch mit KIs sprechen?
Das vierte Versprechen: Die Welt ist dir zu Diensten! Vom Kühlschrank bis zum Auto werden Geräte und Dinge mit dem Internet vernetzt. Führt das zu einer dienstfertigeren Umwelt und einer neuen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt? Mehr sinnhafte Einbettung oder noch mehr Entfremdung?
Schliesslich das fünfte Versprechen: Sinn statt Hamsterrad! KI verändert die Arbeitswelt grundsätzlich. Das Stichwort heisst «New Work». Aber werden wir auf diese Weise wirklich mehr Sinn bei der Arbeit erfahren? Oder erzeugt diese Entwicklung vor allem mehr Verliererinnen und Verlierer?
Eins vorweg: Christian Uhle gibt keine einfachen Antworten, er gibt aber spannende Anregungen, um über die Fragen nachzudenken und sich damit der Auswirkungen von KI besser bewusst zu werden. In weiten Teilen haben wir es selbst in der Hand, ob etwa die KI durch Effizienzsteigerungen am Arbeitsplatz zu einem entspannteren oder zu einem stressigeren Leben führt. Auch die Frage, was passiert, wenn die KI mehr Aufgaben übernimmt, muss offen bleiben: Bleibt den Menschen mehr Zeit dafür, soziale Kompetenzen aufzubauen oder schwächt der Einsatz der KI am Arbeitsplatz gerade diese Kompetenzen? Werden wir dank KI entscheidungsstärker oder verlieren wir im Gegenteil Entscheidungskompetenz, weil wir zu viele Entscheidungen an die KI auslagern? Beides ist möglich – wir haben es in der Hand. Das Problem ist: Es ist wesentlich bequemer, einer KI zu folgen und selbst nicht denken zu müssen, als den Denkapparat einzuschalten und kritisch zu bleiben.
Die KI selbst hilft uns dabei wenig. Denn neue Technologien sind das Produkt von grossen Unternehmen, die in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen. Was dem Aktienkurs von Microsoft und Meta zuträglich ist, muss nicht zwingend auch dem Wohlergehen der Nutzerinnen und Nutzer dienen. Das gilt für soziale Netzwerke, aber auch für digitale Assistenten.
Weil KI einen so tiefgreifenden Einfluss auf Gesellschaften hat, sollte die Gesellschaft mitreden, wenn es um die Regulierung und die Rahmenbedingungen des Einsatzes von KI geht. «Es ist bemerkenswert, dass eine Handvoll amerikanischer Konzerne über die Algorithmen entscheidet, die soziale und ökonomische Strukturen weltweit prägen», schreibt Uhle. Vom Stellenwert her seien KI-Modelle eher vergleichbar mit Strassen und Schulen als mit Sonnenbrillen: «KI ist nicht einfach nur irgendein Produkt, sondern entwickelt sich zu einer Infrastruktur des 21. Jahrhunderts.»
KI sei nicht einfach ein weiterer Hammer, sondern «eine Assistenz, die selbst den Hammer schwingt». Auf absehbare Zeit wird keine KI ein Bewusstsein entwickeln. Doch der Umgang mit ihnen fühlt sich heute schon an, als wären es «denkende Wesen». Es stellt sich deshalb die Frage, wie wir KI-Systeme in unser Leben integrieren, «damit KIs auch wirklich unsere Assistenzen werden – und nicht umgekehrt». Uhle unterstreicht deshalb, wie wichtig es ist, dass wir Menschen unsere Kompetenzen auch und gerade im Umgang mit KI stärken.
Derzeit sei, schreibt Uhle, die Situation verquer: KI könne «komplette künstlerische Projekte umsetzen, aber nicht die Steuererklärung automatisieren». «Wir könnten diese neue Schlüsseltechnologie besser nutzen, um tatsächlich mehr Platz für das Wesentliche zu schaffen. Und wir könnten sie nutzen, um mehr Gleichheit zu ermöglichen.» Das geht aber nur, wenn wir kompetent über den Einsatz von KI nachdenken. Mit seinem Buch leistet Uhle einen spannenden Beitrag dazu.
Christian Uhle: Künstliche Intelligenz und echtes Leben. Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft. S. Fischer, 304 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-10-397604-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103976045
Wenn Sie das Buch lieber digital für Ihren Kindle beziehen möchten, klicken Sie hier
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/