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Im Land Gottes
Die USA seien ein «goldenes Land, in dem die Zukunft immer gut aussieht, weil sich niemand an die Vergangenheit erinnert», schrieb Joan Didion einmal. Es ist einer dieser hellsichtigen Sätze, die einem die Welt plötzlich erklären. Die amerikanische Journalistin, Schriftstellerin und Essayistin Joan Didion ist bekannt für solche Sätze. Wenn wir heute die amerikanische Politik verfolgen mit all ihrer Bigotterie, fragen wir uns manchmal, wie es so weit kommen konnte. Warum die Religion einen so grossen Stellenwert hat und was mit den Konservativen passiert ist. In ihren Essays hat Joan Didion das erklärt, lange bevor die MAGA-Bewegung uns das Grausen lehrte. Schon mit dem Einzug von Ronald Reagan ins Weisse Haus beobachtete sie das Aufkommen einer neuen rechten Strömung und sah bereits in den 1980er-Jahren jene Polarisierung der Gesellschaft und ihre Manipulation durch Populisten vorher, die wir heute untrer Trump erleben. Dabei steigt Joan Didion nicht auf die Barrikaden, weder auf die realen noch auf die metaphorischen. In geradezu sanften, aber messerscharf präzisen Worten entlarvt sie das Verrückte am Normalen, die schönen Lügen, in die sich Amerika in den letzten Jahren verstrickt hat. Die in diesem Buch versammelten sieben Essays gehen vom 11. September 2001 aus rückwärts hinein in die jüngere amerikanische Geschichte und ergeben das Bild einer Gesellschaft, die sich zunehmend verengt und polarisiert. Sie erklären damit das, was wir heute erleben.
Die Zusammenhänge, die Joan Didion offenlegt, sind manchmal atemberaubend. So erzählt sie zum Beispiel, wie Franklin Roosevelt die Basis für jene politischen Widersprüche legte, in die Amerika bis heute im Nahen Osten verstrickt ist. Er versuchte als Erster, Palästina dauerhaft als jüdischen Staat zu etablieren. Gleichzeitig legte Roosevelt das Fundament für das gute Verhältnis der Amerikaner zu den Saudis. «Hier gab es einen inneren Widerspruch, und es war Roosevelt, ein Zoon politikon, wie es im Buche steht, der intuitiv die Methode verwandte, die die folgende Regierung übernehmen würde: hinhalten», schreibt Didion. «Alle Möglichkeiten offenhalten. Öffentlich gewisse Versprechungen machen und sie nicht öffentlich konterkarieren.» Eine Zeit lang schien diese Taktik aufzugehen: «Wir bekamen das Öl dafür, dass wir den Saudis halfen, wir bekamen die moralische Anerkennung dafür, dass wir den Israelis halfen, und dafür, dass wir beiden Parteien halfen, kamen wir in den Genuss regelmässiger Aufträge für unsere Rüstungsindustrie, die sich darauf stützen konnte, dass sie alle Seiten mit Waffen versorgte.» Seit 2001 geht diese Rechnung nicht mehr auf, heute sind die USA hoffnungslos verstrickt in die Widersprüche ihrer Politik. Und was ist die Folge? Die Frage der US-amerikanischen Beziehungen zu Israel sei mittlerweile das rhetorische Gegenstück zu einer unbeaufsichtigten Tasche in der U-Bahn, schreibt Didion. «Wir gehen in Deckung. Wir warten darauf, dass das ganze Thema entschärft wird, dass es verschwindet hinter einem Schutzschild aus verbalen Attacken und Gegenattacken. Viele Meinungen kommen zum Ausdruck. Wenigen wird erlaubt, sich zu entwickeln. Kaum welche ändern sich.» Das schrieb sie 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Wir sind bis heute keinen Schritt weitergekommen.
Spannend und erhellend sind ihre Ausführungen darüber, warum die Religion in den USA so zentral ist. Auch wenn über religiöse Fragen seit je gestritten wird, teile die amerikanische Politik eine unangefochtene Prämisse, dass nämlich «Religion, ob öffentlich oder privat, zentral für die amerikanische Erfahrung» sei. Die Trennung von Kirche und Staat habe in den USA nie bedeutet, dass Religion keinen Platz im Leben mehr hätte. Immerhin reden wir von jenem Land, dessen Geldscheine immer noch die Worte «In God We Trust» zieren tragen. Didion zitiert Präsident Dwight Eisenhower: «Unsere Regierung ist sinnlos, solange sie nicht auf einem tief empfundenen religiösen Glauben fusst –und mir ist einerlei, welcher das ist.»
In den sieben Essays, die in diesem Buch versammelt sind, führt uns die grosse amerikanische Publizistin zurück ins 20. Jahrhundert: Sie beginnt mit den Anschlägen 2001. Ausgehend vom missverständlichen Slogan vom «mitfühlenden Konservatismus» widmet sie sich der bigotten Bedeutung der Religion. Sie zeigt, wie die Widersacher von Bill Clinton mit höchsten Einsätzen (und heiligem Eifer) um die Deutungsmacht gekämpft haben. Sie rekonstruiert die Denkweise von Newt Gingrich, jenem Sprecher der Republikaner, der als erster die Wahrheit über Bord geworfen hat. Sie erklärt, warum es in im Weissen Haus von Ronald Reagan Raum für grosse Erwartungen gab und sich selbst Oval Office Begeisterung entwickeln konnte: «Keiner hatte einen Plan, aber jeder hatte einen Zeitplan, man lag nicht falsch, sondern total daneben, man arbeitete nicht einfach an etwas, man rackerte sich ab, und man einigte sich nicht einfach, sondern machte gleich einen Deal.» Kommt Ihnen das bekannt vor? Im Nachhinein erweisen sich die Essays von Joan Didion als unglaublich hellsichtig. Hätten wir ihr nur früher zugehört.
Joan Didion: Im Land Gottes. Wie Amerika wurde, was es heute ist. Ullstein, 192 Seiten, 20.90 Franken; ISBN 978-3-548-06625-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783548066257
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