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Schlafen

Publiziert am 15. August 2024 von Matthias Zehnder

Etwa ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir. Wenn es gut geht: Denn ohne Schlaf kommt das Gehirn nicht aus. Man könnte meinen, die Welt sei sich deshalb einig, dass wir unsere Ruhe brauchen. In ihrem spannenden Buch über das Schlafen zeigt Theresia Enzensberger, dass dem nicht so ist. Denn im Schlaf braucht der Mensch nichts als Ruhe – und das ist schlecht für den Konsum. «Also muss der Schlaf, wenn er schon nicht gänzlich abgeschafft werden kann, kontrolliert, optimiert und so weit wie möglich begrenzt werden», schreibt sie. Schlaf unterwandert aber auch in anderer Beziehung unser Selbstbewusstsein: Wenn wir schlafen, verlieren wir die Kontrolle über unser Bewusstsein und unseren Körper. «Damit zerstört der Schlaf eine Illusion, die für viele Menschen sehr wichtig ist – dass wir die Herrschaft über unseren Körper und Geist haben.» Was sich im Schlaf abspielt, mag gesund sein, es ist ganz schön unheimlich. Wir liegen wie gelähmt im Bett und liefern uns ganz unserem Gehirn aus. Das wird aktiv, zaubert Bilder und Träume hervor und kann uns dabei innerlich ganz schön auf Trab halten.  Sie selbst, schreibt Enzensberger, leide unter Schlaflosigkeit. Die Insomnie sei «ein Biest, das «aggressiver wird, je genauer man es betrachtet. Wenn man die Augen schliesst, ist es da, und wenn man es beobachtet, schlägt es zu.» Gute Nacht!

Schlaf ist, bei Lichte betrachtet, etwas höchst eigenartiges. Einerseits sind wir dabei fast bewusstlos, abwesend, nicht erreichbar. Die Interaktion mit der Umwelt ist eingestellt. Andererseits lässt sich der Zustand jederzeit rückgängig machen. Selbst wenn jemand tief schläft, wird eine intensive und beharrliche Störung den Schlafenden aufwecken. Es sei denn, er schlafe nicht, sondern sei bewusstlos oder tot. Dabei ist Schlaf höchst individuell. Auf alles, beklagt sich Enzensberger, werde heute Rücksicht genommen, selbst wenn jemand «keine rohe Paprika mag», stosse er auf Verständnis. «Nur der Schlaf soll heute genau sechs bis acht Stunden dauern, im eigenen oder im gemeinsamen Bett eines Paares zu den richtigen Zeiten stattfinden, und am besten durchgehend sein. Alle Abweichungen werden pathologisiert oder zumindest verurteilt.» Wer zu lang oder am Nachmittag schlafe, gelte als «faul und dekadent»; auszuschlafen sei ein «unerhörter Luxus», den man sich erarbeiten müsse; und Frühaufsteher seien dementsprechend «besonders vorbildlich und produktiv». Schlaf also ist unter Druck.

Doch die Schläferin, die ihren Bedürfnissen nicht entspricht und stattdessen versucht, sich ihrem Umfeld und dessen Anforderungen anzupassen, wird krank. «Durch einen perfiden Knick in der Logik wird die Pathologisierung der Normabweichung vermengt mit der simplen Tatsache, dass Schlaflosigkeit krank macht.» Die Folgen von chronischem Schlafmangel lesen sich wie ein extrem dramatischer Beipackzettel: Nicht nur steigt das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Übergewicht und Diabetes, auch das Immunsystem leidet, man wird anfälliger für Infekte, das Krebsrisiko steigt. Schlafmangel hat kognitive Auswirkungen: Reaktionsfähigkeit, Urteilskraft und Gedächtnis sind stark eingeschränkt. Gerade der Kapitalismus sollte eigentlich das grösste Interesse daran haben, dass die Konsumenten gut und tief schlafen.

Schlaf ist unheimlich, eine Art Ohnmacht. : «Der Atem geht langsamer, vor den Augen flimmert es, jedes einzelne Körperteil verliert an Kraft, die Hand erschlafft vielleicht als Letztes.» Im Schlaf werden wir handlungsunfähig, wir werden verletzlich, schutzlos, wir liefern uns der Obhut anderer aus, wir sind auf sie angewiesen. «Wir werden schwach», schreibt Enzensberger. «Vielleicht ist der Schlaf in der politischen Sprache deshalb hauptsächlich negativ definiert, weil Schwäche in unserem Wertesystem einer moralischen Verfehlung gleichkommt.»

Theresia Enzensberger hat keinen Ratgeber geschrieben, nach dessen Lektüre Sie besser schlafen. Es ist vielmehr eine philosophische Betrachtung des Schlafs. Klug, spannend, kenntnisreich. Und deshalb gut zu lesen. Auch im Bett. Geschrieben hat Theresia Enzensberger das Buch, weil sie selbst nicht schlafen kann. Beim Schreiben ist sie den verschiedenen Stadien gefolgt, die wir in der Nacht durchleben. Sie beginnt in der Leichtschlafphase mit einem Essay über die Moralisierung von Schlaf, Traum als politische Metapher und die Folgen allgemeinen Schlafmangels. Fast unmerklich wird ihr Text in der Tiefschlafphase privater, innerlicher, und eröffnet eine intensivere, persönlichere Sicht auf die Welt, die Kunst, die Literatur. Zum Schluss folgt die REM-Phase – ein Traum.

Theresia Enzensberger: Schlafen. Hanser Berlin, 112 Seiten, 28.9 Franken; ISBN 978-3-446-27962-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279629

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