Buchtipp

Nächster Tipp: China
Letzter Tipp: Fakten sind auch nur Meinungen

Grönemeyer

Publiziert am 17. Oktober 2024 von Matthias Zehnder

Herbert Grönemeyer ist jetzt 68 Jahre alt und hat noch immer Energie für zwei: Nach vier erfolglosen Alben schaffte er vor genau 40 Jahren mit «4630 Bochum» den Durchbruch. Lieder wie «Bochum», «Männer», «Flugzeuge im Bauch» und «Alkohol» gehören heute quasi zum Deutschen Liedgut. Das Album gehört bis heute zu den zehn mistverkauften Alben Deutschlands – «Mensch» aus dem Jahr 2002 ist sogar das zweitmeistverkaufte Musikalbum in Deutschland. In diesem Buch erzählt Michael Lentz nicht einfach das Leben von Grönemeyer, sondern führt ein in sein Werk und erklärt vor allem seine Arbeitsweise. Die ist einzigartig: Herbert Grönemeyer vertont nämlich keine Texte, sondern «vertextet» Musik. Er schreibt zunächst das Lied und singt dazu einen «Bananentext», wie er es nennt. So nennt er sein pseudoenglisches Lautieren, Nonsenstexte aus englischen Wörtern, die dem Lied eine lautliche Gestalt geben, aber noch nicht der Text des Liedes sind. Den Text entwickelt Grönemeyer erst auf Basis des musikalisch fertigen Lieds. Michael Lentz zeigt anhand von vielen Beispielen, wie das konkret geht, wie Grönemeyer arbeitet und seine Lieder konstruiert. Das macht das Buch über die Fangemeinde hinaus äusserst spannend.

In die breite Öffentlichkeit ist Herbert Grönemeyer 1981 als Schauspieler getreten: Als Leutnant Werner im Kinofilm «Das Boot» ist er bekannt geworden. Doch Grönemeyer war ursprünglich Musiker. Er hat in Bochum das humanistische Gymnasium besucht und sich schon da unter anderem im Schulchor engagiert. Am Gymnasium lernte er den späteren Schauspieler Claude-Oliver Rudolph kennen. Zusammen mit Rudolph verdiente Grönemeyer am Schauspielhaus Bochum als Pianist sein erstes Geld. Nach seinem Abitur 1975 begann er mit dem Studium der Musik- und der Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität in Bochum.

1981 positionierte ihn «Das Boot» als Schauspieler. Als er 1984 mit dem Album «4630 Bochum» die Charts stürmte, glaubten viele Menschen, dass der «Boot»-Schauspieler sich als Musiker versuche. Es war aber eher umgekehrt: «4630 Bochum» war bereits sein fünftes Studioalbum. Vor allem mit dem Lied «Männer» hat sich Grönemeyer in die ewigen Gedächtnisgründe der deutschen Kultur gesungen. Mit seinem elften Studioalbum «Mensch», das 2002 erschien, schaffte es Grönemeyer endgültig in den Pop-Olymp. Man könnte deshalb erwarten, dass ein Grönemeyer-Buch, das vom Verlag auch noch gross beworben wird, auf dieser Pop-Schiene fährt. Doch das Buch von Michael Lentz ist alles andere als eine huldigende Promi-Biographie. Es ist vielmehr ein Werkstattbesuch, ja eine Werkanalyse. Lentz erzählt zwar auch, wie das alles gekommen ist, vor allem aber zeigt er, wie Grönemeyer arbeitet.

Diese Arbeitsanalyse ist (mindestens für Schreibende Menschen) sehr spannend. Denn Grönemeyer schreibt keine Gedichte, die er vertont, er schreibt Lieder, die er vertextet. Zuerst entsteht immer die Melodie, die Klanggestalt eines Songs. Grönemeyer nutzt dafür ein Nonsense-Englisch, das er «Bananentext» nennt. Was die Wörter bedeuten, spielt dabei (fast) keine Rolle, es kommt nur darauf an, wie sie klingen. Lentz schreibt, bei Grönemeyer sei die Melodie« das Mass der Textdinge: Sie gibt, im Verbund mit seiner Bananentext-Methode, das Zeitmass der Zeilen und in gewisser Weise ihr Versmass vor. Sie gibt aber auch Gestalt, Ausdruck und Atmosphäre vor, indem sie zum Beispiel melancholisch ist oder Heiterkeit ausstrahlt. In gewisser Weise ist sie der Platzhalter des Textes, der aus der melodischen Führung, der klanglichen Gestalt herauswächst.» So paradox das klingt: Der Text ist bereits mit oder in der Musik da, er muss nur noch geschrieben werden.

Der nächste Schritt ist ein «Blindtext» für das Lied. Der basiert auf einer Stichwort-und Ideensammlung. Daraus baut Grnemeyer einen deutschsprachigen «Blindtext», der in sich unstimmig und semantisch ambivalent sein kann. «Als Zwischenstufe zur finalen Fassung des Liedes hat der Blindtext aber, analog zum Bananentext, die Funktion eines Passepartouts und entsteht auf Grundlage der melodiespezifischen Matrix aus Grundstimmung und Tempus sowie Metrum, Rhythmus und Zählzeit, die auch die Silbenanzahl, zumindest ihr Minimum und ihr Maximum, regulieren und die Betonungen über die Zeilen verteilen», schreibt Michael Lentz.

Das ist im Detail ausgesprochen interessant. So sagt Grönemeyer, die Sprache eines Lieds müsse im Deutschen besonders «eckig, rau und kantig» sein, damit er die Texte singen könne. Musik wirke auf Worte wie ein Dämpfer, Worte müssten sich gegenüber der Musik behaupten, da diese ihnen Energie entziehen. Schnell werde es dann «milde» und «schlagerhaft». Deshalb müsse man das, was man ausdrücken will, dramatisieren und überhöhen, aber auch «verwildern». Wie er das macht, beschreibt Lentz im Detail und mit vielen Text- und Notenbeispielen.

Als Sänger und Songwriter machte Grönemeyer immer wieder die Erfahrung, dass ein Text, der an sich «eine gute Figur» macht, zusammen mit der Musik, für die er geschrieben wurde, nicht funktioniert, sich vielleicht generell für Musik nicht eignet: «Der Text erweist sich als nicht singbar, er ist nicht mit der Musik kompatibel. Die Musik braucht zum Beispiel mehr perkussiven Druck, als der Text hergibt. Seine Worte haben nicht die entsprechende inhaltliche und phonetische Wucht, ihnen fehlt die nötige Sperrigkeit, er ist an den entscheidenden Stellen zu weich.» Es kann deshalb sein, dass sich der Text eines Lieds auch nach Drucklegung des Booklets im Studio oder bei Konzerten noch ändert. Alles vor dem «letzten Drücker», so Herbert Grönemeyer, sei für ihn ein Schnellschuss. «Nur im Chaos bleibt bis zuletzt die Spannung erhalten. Nur wenn man dann immer noch die Nerven hat, Dinge umzuwerfen.»  Man dürfe sich bei der Entstehung eines Theaterstückes oder einer Platte bis zuletzt nie zu sicher sein. Das Credo heisse «Präsenz». Neue Lieder lernen, so Grönemeyer, erst vor Publikum «fliegen», wie er sagt. Ein spannendes Buch, weiter der das Leben, als über das Arbeiten von Grönemeyer und die Poetik seiner Songs.

Basel, 17. Oktober 2024, mz@matthiaszehnder.ch

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103975857
Wenn Sie das Buch lieber digital für Ihren Kindle beziehen möchten, klicken Sie hier
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/