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China
Europa ist in doppelter Hinsicht abhängig von China: Zum einen hat uns das Land mit günstigen Konsumgütern verwöhnt, von Kleidung, Spielzeug und Haushaltgeräten bis zum Elektroauto. Zum anderen haben europäische Unternehmen gute Geschäfte gemacht, indem sie China mit Maschinen und Knowhow beliefert haben. Doch jetzt hat China seine Lehrmeister in vielen Bereichen technologisch überholt und schickt sich an, selbst die technologische Führung zu übernehmen. Europäische Unternehmen müssen plötzlich von den überlegenen Chinesen lernen. Zudem ist trotz viel Handel kein Wandel eingetreten: China liess sich nicht in die Europäisch-amerikanische Weltordnung einbinden. Im Gegenteil: Bis 2049 will das Land wirtschaftlich, kulturell und militärisch global an der Spitze stehen. Gut die Hälfte der To-do-Liste habe China bereits abgehakt, schreiben Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk in ihrem spannenden Buch über China und seine Wirtschaft. Ihr wichtigster Punkt: Wir schätzen China und seine Politik falsch ein und unterschätzen die Schlauheit der Machthaber. Mit Xi Jinping sei eine neue Ära angebrochen, die Atmosphäre auch in der Wirtschaft sei kühler, ja misstrauisch geworden. Die Politik müsse mit neuen Ansätzen darauf reagieren: «Um Lösungen für unser China-Dilemma zu finden, braucht es staatliche Rückendeckung.» Konkret braucht Europa eine Industriepolitik.

Das ist kein simples Wirtschaftsbuch. Es führt ein in die Art und Weise, wie die chinesische Wirtschaft und der eng mit ihr verzahnte Staat funktioniert. Ich habe viel gelernt über China und das trickreiche Denken seiner Politiker. Ein Beispiel: Ein wichtiger Teil der Sunzi-Strategie sei die Täuschung des Gegners. «Dazu gehören dessen unauffällige Einkreisung oder Geländegewinne in der Abwesenheit seiner Streitmacht. Ein Sieg durch Umgehung der feindlichen Armee gilt im Vergleich zu einer offenen Schlacht immer als der schlauere Weg.» Laut der uralten Sunzi-Strategie sind blutige Kämpfe allenfalls der drittbeste Weg, um das Ziel zu erreichen. «Krieg als Mittel wird zwar nicht ausgeschlossen, dient aber vor allem der Drohung. Denn Kriege sind schmerzvoll und kostspielig – für alle Beteiligten. Heldenhafte Kämpfe mit geringen Erfolgsaussichten hält Sunzi schlicht für dumm.»
Es gehe oft darum, Regeln gezielt zu brechen und den Gegner skrupellos auszutricksen. «Jede List ist recht, wenn sie zum Erfolg führt.» Die Botschaft der Sunzi-Strategie: Ausserhalb der gewohnten Bahnen zu denken und überraschende Lösungen zu finden. «Es geht um die offene Geisteshaltung, mit der man an Schwierigkeiten herangeht.» Als China begann, sich dem Westen und westlichen Unternehmen zu öffnen, hatte das Land kein Kapital, kein Management-Wissen, keine Patente. «Die Reformjahre unter Deng waren von trial and error geprägt. Was klappte, wurde beibehalten, was nicht funktionierte, aufgegeben. Das war die Strategie.» Das ist ein völlig anderes Vorgehen, als wir es kennen: Man entwickelt einen präzisen Plan und führt ihn dann aus. China zeichne sich vielmehr durch eine «spontane Chancenverwertung» aus.
Als Beispiel für den Unterschied zwischen dem chinesischen und dem europäischen Denken erklären die beiden Autoren den Unterschied zwischen Schach und Go: Beim Schach gibt es ein klares Ziel: Es geht darum, an den gegnerischen König heranzukommen und ihn Matt zu setzen. Auf dem Go-Brett ist das Ziel viel weniger klar: «Auch Go-Spieler sprechen im militärischen Jargon über die Lage auf dem Brett. Sie reden von Schlagabtausch, Angriff, Einkreisen, Eindringen in feindliche Bereiche des Brettes, Gebietsansprüche, Verteidigung, aggressiven Zügen im Nahkampf, dem Schutz schwacher Steine durch die Streitkräfte auf dem Brett. Wer im richtigen Moment den entscheidenden Stein setzt, kann Gebietsgewinne vorbereiten, die unerfahrene Beobachter überraschen, wenn plötzlich ganze Bereiche mit Steinen einer Farbe abgeräumt werden.» China geht es also viel mehr um Einflusssphären als um simples Schachmatt. Warum droht China dann ständig mit einem Krieg gegen Taiwan?«Gerade, weil die militärische Option potenziell viel zu viel kostet, droht China glaubwürdig damit. Sunzi empfiehlt, sich stark zu geben, wenn man eigentlich schwach ist, und seine Stärke zu verbergen, wenn man die überlegenen Truppen hat. Hauptsache, der Gegner weiss nicht, was wirklich los ist.»
Das gilt auch für die Kaltblütigkeit und das Selbstbewusstsein, wie Xi den Westen abblitzen liess, als es um die Haltung gegen Russland im Ukrainekrieg ging. Der Westen ist verwirrt, weil China seine Motive verschleiert, indem es «Frieden, Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Länder» fordert und sich «gegen den Ausbau von Militärblöcken» wendet. «Dabei steht für China die Unterstützung für Russland nicht infrage. Durch das Bündnis mit dem grossen Nachbarland entgeht China der Einkreisung durch die USA und ihre Verbündeten. Es gewinnt an seiner Westgrenze neue ‹Freiheiten›, wie man im Go sagen würde.»
Was heisst das alles für die Wirtschaft? Insbesondere Deutschland ist eng mit China verzahnt: «Rund 80 Prozent aller EU-Direktinvestitionen in China zwischen 2020 und 2023 gingen auf zehn Firmen zurück, darunter die Big Five: Siemens, Volkswagen, BMW, Mercedes-Benz und BASF.» China ist für Deutschland aber längst nicht mehr nur ein wichtiger Markt, sondern vor allem auch ein überlegener Konkurrent, und dies dank «guter Organisation, Umsetzungswillen und einem Fokus auf Technik. Waren das nicht auch deutsche Tugenden? Und offenbart sich darin nicht auch ein Teil des Dilemmas? Schlägt China Deutschland nicht längst mit seinen eigenen Waffen, während wir genau diese einstigen Stärken vernachlässigen?»
Auch nach Corona ist der Westen stark von China abhängig. So stammen etwa alle Vorprodukte von Antibiotika, Kinderhustensaft oder des Schmerzmittels Ibuprofen aus Asien. Und zwar zu 70 Prozent. «Eine Trendwende ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Auch unter den Vorzeichen der Zeitenwende schliessen weitere eigene Werke, zum Beispiel soll Ende 2025 die letzte Fabrik für das Schmerzmittel Novalgin die Produktion einstellen.» Die Versorgung hänge dann komplett von Wirkstofflieferungen aus China ab. «Das Ausmass der Abwanderung ist heute also nicht nur traurig, sondern lebensgefährlich.»
Bei zwei der Seltenen Erden, Yttrium und Scandium, liegt der China-Anteil sogar bei 94 Prozent. Sie sind für die Herstellung von Magnetresonanz-Tomographen in der Medizin, von Wasserstofferzeugern, von Zahnkeramik oder Lasern wichtig. «Vorkommen dieser Metalle gibt es auf allen Kontinenten», schreiben die beiden Autoren. «Die westlichen Länder haben die Förderung jedoch gerne China überlassen. Ihre Gewinnung ist schmutzig, mühsam und teuer. China scherte sich nicht gross um die Umweltfolgen und hatte günstige Löhne.»
Wie ist es so weit gekommen? Die beiden China-Spezialisten zeigen detailliert, wie Europa sich mit kurzsichtigem Handeln, Unkenntnis der chinesischen Ziele und der chinesischen Vorgehensweise, vielleicht auch mit Ignoranz und einer gewissen Überheblichkeit in die Abhängigkeit geritten hat. Grosse Firmen wie VW oder BASF kommen ohne China nicht mehr aus. «Europa zögert, Sanktionen im Falle eines Übergriffs auf Taiwan anzudrohen. Denn ohne Lieferungen aus China läuft in den Fabriken der EU kaum noch etwas.» Das betrifft nicht nur Zulieferteile wie Batterien oder Halbleiter, sondern auch Medikamente und Seltene Erden. Unsere Energiewende beruht zu einem grossen Teil auf günstigen Photovoltaikanlagen aus China. «Ein Ende des China-Handels würde nicht nur viele Prozentpunkte Wachstum kosten und soziale Verwerfungen auslösen», schreiben die beiden Autoren.

In ihrem Buch zeigen sie, wie China tickt, wie die chinesische Führung und wie Chinas Bürgerinnen und Bürger denken. «Es fehlt Wissen über Chinas strategisches Handeln und seine Ziele. Ebenso wenig gibt es einen Konsens darüber, wie wir der Volksrepublik und ihrem weltweiten Machtanspruch gegenübertreten sollten.» Das Problem dabei ist, dass es keine einfachen Antworten und Lösungen gibt. «Wir müssen China genauer zuhören, aber wir müssen ihm auch widersprechen», schreiben Felix Lee und Finn Mayer-Kuckuk. «Noch wichtiger aber ist: Wir müssen uns selbst ändern, um unseren Wohlstand und unsere Unabhängigkeit im globalen Wettbewerb zu erhalten.» Die neue Konkurrenz aus China könnte «eine Motivation sein, längst fällige Modernisierungen und Veränderungen mit Tatkraft und Optimismus anzugehen». So würden es jedenfalls die Chinesen machen.
Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk: China. Auswege aus einem Dilemma. Ch. Links, 256 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-96289-218-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783962892180
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