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Die Schande Europas
Wenn Sie ruhig schlafen möchten, sollten Sie dieses Buch nicht kaufen. Die Bücher von Jean Ziegler waren schon immer leidenschaftliche Plädoyers für mehr Menschlichkeit. In seinem neusten Buch erzählt Ziegler, was er erlebt hat, als er im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besuchte in seiner Rolle als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Vier Jahre zuvor, im April 2015, waren gemäss eines Abkommens zwischen der Europäischen Kommission und der griechischen Regierung auf den Ägäisinseln Lesbos, Kos, Leros, Samos und Chios Hotspots eingerichtet worden: Aufnahmezentren für Flüchtlinge vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzte die Zahl der in den fünf Hotspots der Ägäis geparkten Flüchtlinge im November 2019 auf 39’000. Fast zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder. Für Touristen kostet die Überfahrt mit der Fähre von der Türkei nach Lesbos 35 Euro. Flüchtlinge bezahlen für die Überfahrt im Schlauchbot den Schleppern 500 bis 1000 Euro – viele bezahlen auch mit dem Leben dafür.
Jean Ziegler beschreibt in seinem Buch, wie die Frontex und die griechischen Polizeieinheiten die Flüchtlinge zurückdrängen und vergrämen. «Push Back» heissen die Operationen. Er beschreibt die «Konzentrationslager am Ägäischen Meer», das Leiden der Menschen, die da festgehalten werden. Ziegler schreibt darüber, nicht neutral und sachlich, sondern wütend. Seine Wut ist ansteckend. Er beschreibt seine Begegnungen mit Flüchtlingen. Menschen, die das Pech hatten, auf der anderen Seite des Mittelmeers zu leben. Ziegler legt dabei gnadenlos offen, wie Europa im Umgang mit den flüchtenden Menschen seine eigene Moral diskreditiert. Ziegler schreibt vom «moralischen Verfall», auf den Europa zusteuert. Er appelliert eindringlich an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, der unmenschlich geschlossenen Grenzen ein Ende zu machen. Er nennt die Praxis der «Push-Backs» die Schande Europas.
Nein, das ist kein neutrales Buch über die Flüchtlingskrise. Es ist ein packender Bericht über die Zustände auf den griechischen Inseln, aus erster Hand leidenschaftlich erzählt von Jean Ziegler. Bloss: Einen wirklichen Ausweg aus der Krise kennt auch Ziegler nicht. Er fordert am Schluss des Buches dazu auf, dass wir überall auf dem Kontinent für die strikte Einhaltung des universellen Menschenrechts auf Asyl kämpfen und uns für die sofortige und endgültige Schliessung aller Hotspots einsetzen müssen. «Denn sie sind die Schande Europas.» Bloss: Selbst wenn das durchsetzbar wäre, würde sich dadurch die Flüchtlingskrise wohl kaum ändern. Trotzdem: Wer die Augen nicht vor der Krise verschliessen willl, sollte dieses Buch lesen.
Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. C. Bertelsmann, 144 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-570-10423-1
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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 24. Januar 2020: Was würden Sie wählen – Freiheit oder Wohlstand?
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier: