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Die große Odyssee

Publiziert am 30. Mai 2024 von Matthias Zehnder

Sie sorgen derzeit für hitzige Debatten: Migranten aus dem Maghreb und Asylsuchende aus Afrika. In diesem Buch zeigt der spanisch-französische Biologe Lluís Quintana-Murci, dass es die Wanderbewegungen von Afrika in den Norden schon seit sechzigtausend Jahren gibt. Unsere Vorfahren verliessen den afrikanischen Kontinent und besiedelten den Rest des Planeten. Das war die erste grosse Migration in der Geschichte der Menschheit. Die moderne Populationsgenetik ermöglicht es, Wanderungsereignisse und andere demografische Prozesse zu kartieren und zu datieren. «Heute wissen wir, dass Vermischung ein kontinuierlicher Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte war und ist», schreibt der Biologe. «Wir alle sind, in unterschiedlichem Masse, multiethnisch, da unsere Genome aus einer Vielzahl von DNA-Segmenten unterschiedlichster Herkunft bestehen», schreibt er. Ohne Vielfalt gebe es keine Evolution und keinen Fortschritt in irgendeinem Sinne des Wortes.

Die Paläogenetik ist heute in der Lage, aus kleinsten Knochenüberresten die Geschichte der Spezies zu rekonstruieren, zu der sie gehören, und sie damit in die grosse biologische Familie der Spezies Mensch einzuordnen. «Heute ist die Erde ein riesiges Raum-Zeit-Puzzle mit unzähligen Indizien, die von der Geschichte der Lebewesen und unserer Spezies berichten», schreibt Lluís Quintana-Murci. «Wir müssen sie nur noch ordnen: Und genau da kann die Genetik neue Daten liefern.» Die fulminanten Fortschritte der Gentechnik und des Wissens über die Gene haben uns in die Lage versetzt, mit ganzen Genomen zu arbeiten, und nicht nur mit Genomen von Individuen, sondern mit denen von ganzen Populationen. Seit 2001 ist die Sequenzierung des menschlichen Genoms möglich. Dessen 3 Milliarden Buchstaben oder Nukleotide transportieren die gesamte biologische Information, die den Menschen ausmachen. Der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert war in der Populationsgenetik auch der Übergang von der Genetik zur Genomik. Genome wurden entziffert, man konnte sie vergleichen: ein signifikanter Sprung in der Biologie. Es ermöglichte es, genetisch in Dimensionen von Populationen zu denken.

Dieses Buch stellt den neuen biologischen Wissensstand vor, den die Genomik ermöglicht: «Wir können heute nämlich die Milliarden Basenpaare im Genom eines Individuums sequenzieren und analysieren, dieses Genom mit den Merkmalen der aktuell auf der Erde präsenten Populationen in Bezug setzen und es dann im Kontext einer Geschichte verorten – der Geschichte der Individuen sowie der Populationen und ihrer Wanderbewegungen», schreibt Quintana-Murci. Zu dieser Geschichte gehört dann auch die Evolution der Spezies, einschliesslich der heute ausgestorbenen Arten, von denen wir abstammen.

Die Überreste in Form von ausgegrabenen Knochen enthalten immer noch Spuren des Lebens. Von einem jungen Mädchen, das vor über 50’000 Jahren in Südsibirien gelebt hat, wissen wir heute anhand einer einfachen Knochenanalyse, dass sie eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte – zwei heute ausgestorbene Populationen der Gattung Homo. Quintana-Murci ist überzeugt: «Indem wir entdecken, woher wir kommen, verstehen wir auch besser, wer wir sind.» Die Genomik erzeugt dabei ein Bild grosser menschlicher Diversität. Das sei keine ideologische Parole, sondern eine wissenschaftliche Feststellung. Dieser Diversität, den biologischen Mechanismen, die sie erzeugen, der Geschichte, die sie werden lässt, und den naturwissenschaftlichen und medizinischen Anwendungen, die sich daraus ergeben können, geht er in seinem Buch nach.

Denn die Diversität der heutigen menschlichen Genome beweist nicht nur, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt. Sie zeigt zugleich, dass unter unseren afrikanischen Vorfahren eine weitaus grössere Variabilität bestand, als wir bisher vermuteten. Wir haben nicht nur einen oder zwei Vorfahren, sondern viele genetisch unterschiedliche Urväter und Urmütter. Sie lebten zwar alle in Afrika, doch Spuren können wir nur von denen finden, deren genetisches Erbe bis heute überlebt hat; und da weichen die weibliche Linie und die männliche Linie klar voneinander ab. So sei es also durchaus denkbar, dass die viel zitierten «Evas», also die mütterlichen Vorfahren, deren genetisches Erbe in unserem Genom weiterhin fortbesteht, in Ostafrika lebten, unsere väterlichen Vorfahren, die «Adams», dagegen zum Beispiel in Südafrika.

Der sogenannte «moderne» Mensch, also wir, der Homo sapiens, und der Neandertaler galten lange Zeit als getrennte Arten, die sich per definitionem nie verpaarten und keine gemeinsamen Nachkommen zeugten. Die Analyse der Genome bewies das Gegenteil: Homo sapiens und Homo neanderthalensis vermischten sich sehr wohl und zeugten gemeinsame Nachkommen. «Wir alle, zumindest alle diejenigen von uns, die nicht afrikanischer Herkunft sind, tragen nämlich heute in unserem Genom 1 bis 3 Prozent genetisches Material, das vom Neandertaler stammt», schreibt Quintana-Murci. Mit Hilfe eines Fingerknochens, der in einer sibirischen Höhle gefunden wurde, konnte mit genetischen Methoden eine neue Menschenart identifiziert werden: der Denisova-Mensch. Die Vorfahren der heutigen Bevölkerung Asiens vermischten sich sehr wahrscheinlich mit dem Denisova-Menschen. Es vermischten sich also nicht nur verschiedene Populationen von Homo sapiens, sondern diese vermischten sich außerdem noch mit anderen archaischen Vertretern der Gattung Homo, deren Gene in uns bis heute fortleben.

Der Biologe findet, diese genetische Diversität wirke sich positiv aus. So sei der Homo sapiens eine «allgegenwärtige, eine expandierende Spezies»: «Menschen sind auf der ganzen Welt präsent: von der trockenen, heissen Savanne bis in den hohen Norden mit von Kälte und geringer Sonneneinstrahlung geprägtem Klima, von den tropischen Regenwäldern bis in die extremen, unwirtlichen Lebensbedingungen des Hochgebirges mit niedrigem Sauerstoffgehalt, etwa im Himalaya oder in den Anden.» In den vergangenen zwanzig Jahren haben Wissenschaftler aus den Genomen der menschlichen Populationen, die solchen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, viel über die Fähigkeit des Menschen gelernt, sich genetisch unter anderem an Klima, Nahrungsressourcen und Krankheitserreger anzupassen. Insbesondere habe sich gezeigt, dass unsere Vorfahren sich bei ihren Wanderungen rund um den Erdball so gut an neue Umweltbedingungen anpassen konnten, weil sie sich untereinander vermischt haben.

Biologe Lluís Quintana-Murci sagt: «Wir sind das Produkt unserer Vergangenheit, unseres Auszugs aus Afrika, unserer Anpassung an unseren Lebensraum, unserer zahlreichen Vermischungen sowohl mit heute ausgestorbenen Formen der Gattung Mensch wie mit anderen Populationen des Homo sapiens.» Er ist überzeugt, dass das Wissen um die genetische Ausgestaltung des Menschen uns auch dabei helfen wird, eine genetisch präzise abgestützte Medizin zu entwickeln: «Es wird uns die Mittel an die Hand geben, um eine besser an das Individuum angepasste Medizin zu entwickeln, die sogenannte ‹personalisierte‹ oder ‹Präzisionsmedizin›. Je genauer wir ein Individuum und seine genetische Disposition kennen, desto gezielter und punktgenauer kann es behandelt werden. Je besser wir die Natur und ihre Mechanismen kennen, desto wirksamer lassen sie sich einsetzen, um unsere Schwächen auszugleichen oder die Erreger von Infektionskrankheiten zu bekämpfen.»

Lluís Quintana-Murci: Die große Odyssee. Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat. C.H. Beck, 288 Seiten, 39.80 Franken; ISBN 978-3-406-81429-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406814297

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