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Jerusalem

Publiziert am 24. Mai 2024 von Matthias Zehnder

Wenn es ein Buch gibt, das Sie lesen sollten, um eine Ahnung davon zu erhalten, wie komplex der Konflikt im Nahen Osten ist, dann dieses Buch: Simon Sebag Montefiore erzählt die Geschichte der Stadt Jerusalem. Oder besser: Er erzählt die Geschichten der Stadt Jerusalem beginnend mit König David. Er spannt den Bogen über die Eroberung durch die Römer, das byzantinische Reich, die arabische Eroberung, die Kreuzzüge und die Zeit des Imperialismus bis zum modernen Zionismus. Montefiore zeigt dabei, dass Jerusalem immer schon eine Stadt der Kontinuität und Koexistenz war, eine gemischte Metropole, die einer Einordnung in die engen Kategorien trotzt, die erst mit den separaten religiösen Legenden und nationalistischen Darstellungen späterer Zeiten entstanden. Er erzählt die Geschichte deshalb anhand von Familien nach – von den Davidern, Makkabäern, Herodiern, Omaijaden und den Dynastien Balduins und Saladins bis hin zu den Husseinis, Khalidis, Spaffords, Rothschilds und Montefiores. «Denn sie offenbaren die organischen Muster des Lebens, das sich den abrupten Ereignissen und sektiererischen Darstellungen der konventionellen Geschichtsschreibung entzieht», meint der britische Historiker.

Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt und doch nur die Chronik einer meist verarmten Provinzstadt im Bergland Judäas. «Einst galt Jerusalem als Mittelpunkt der Welt – eine Einschätzung, die heute mehr denn je den Tatsachen entspricht», schreibt Simon Sebag Montefiore. Denn die Stadt ist Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Abrahamitischen Religionen, das Heiligtum eines zunehmend populären christlichen, jüdischen und islamischen Fundamentalismus, strategisches Schlachtfeld eines Kampfes der Kulturen, Frontlinie zwischen Atheismus und religiösem Glauben, Anziehungspunkt säkularer Faszination, Gegenstand schwindelerregender Verschwörungstheorien und Internetmythen und grell beleuchtete Bühne für die Kameras der Welt in einem Zeitalter der Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensendungen. «Religiöses, politisches und mediales Interesse schüren sich gegenseitig und sorgen dafür, dass Jerusalem stärker denn je im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.»

Dabei habe Jerusalem «die Angewohnheit, Eroberer wie auch Besucher zu enttäuschen und zu quälen», schreibt Montefiore. Der Gegensatz zwischen der realen und der himmlischen Stadt sei so schmerzlich, dass «die psychiatrische Klinik der Stadt alljährlich gut hundert Patienten aufnimmt, die an dem sogenannten Jerusalem-Syndrom leiden: einer Geistesstörung, die sich aus Erwartung, Enttäuschung und Wahn speist.» Das Jerusalem-Syndrom gibt es aber auch auf politischer Ebene: Jerusalem trotzt gesundem Menschenverstand, praktischer Politik und Strategie und existiert im Reich heisser Leidenschaften und unbesiegbarer Emotionen, die der Vernunft nicht zugänglich sind. Das erleben wir derzeit ja jeden Tag.

Spannend am Buch von Montefiore ist, dass er es uns ermöglicht, direkt in die Geschichte der Stadt einzutauchen. Er beginnt mit den Geschichten rund um König David und die Irrungen und Wirrungen rund um die jüdische Zeit. Eine Zeit, die keineswegs friedlich und einheitlich war, sondern geprägt durch blutige Auseinandersetzungen. Noch bevor die Römer Jerusalem unterwarfen, waren da die Perser, die Makedonier und die Makkabäer. Und dann, 64 vor Christus, eroberte Pompejus Jerusalem und betrat, wohl erst als zweiter Nichtjude überhaupt, das Allerheiligste des Tempels. Montefiore schreibt: «Pompejus und sein Gefolge betraten das Allerheiligste – ein unsägliches Sakrileg, da selbst der Hohepriester es nur einmal im Jahr betrat. Respektvoll betrachtete er den goldenen Altar und den heiligen Leuchter – und stellte fest, dass der Raum sonst nichts enthielt, keinerlei Götterstatue.» Das besorgte später Crassus: Er plünderte den Tempel in Jerusalem und stahl 2000 Talente, die Pompejus nicht angerührt hatte. Es sollte noch schlimmer kommen: 70 n. Chr. Erstürmte Titus, der Sohn des römischen Kaisers Vespasian und Feldherr über die viermonatige Belagerung Jerusalems, im Morgengrauen den Tempel. Seine Soldaten plünderten und zerstörten ihn. Ohne es zu wollen, legten sie damit den Grundstein für das mythische Jerusalem.

Simon Sebag Montefiore schreibt, Jerusalem sei ein «Ort von solcher Besonderheit, dass die jüdischen religiösen Schriften ihn durchgängig als weiblich beschreiben – immer als sinnliche, lebendige Frau, immer als Schönheit, zuweilen aber auch als schamlose Hure oder als verletzte Prinzessin, die von ihren Verehrern im Stich gelassen wurde.» Als die Bibel ins Griechische und später ins Lateinische und in andere Sprachen übersetzt wurde, entwickelte sie sich zum Universalbuch und machte Jerusalem zur Universalstadt. Montefiore: «Jeder grosse König wurde zu einem David, jedes besondere Volk sah sich als die neuen Israeliten, und jede Hochkultur galt als neues Jerusalem, jene Stadt, die niemandem gehört, aber in der Phantasie eines jeden ihre eigene Existenz führt. Eben das macht sowohl die Tragödie als auch die Magie Jerusalems aus: Jeder, der von Jerusalem träumt, jeder, der im Laufe der Zeiten hierher gekommen ist – von den Aposteln Jesu über die Soldaten Saladins und die viktorianischen Pilger bis hin zu den heutigen Touristen und Journalisten –, bringt seine Vision des authentischen Jerusalem mit und ist bitter enttäuscht über das, was er vorfindet: eine sich ständig wandelnde Stadt, die viele Male erblüht und wieder verwelkt ist, wieder aufgebaut und erneut zerstört wurde.»

Simon Sebag Montefiore: Jerusalem. Die Biografie. Klett-Cotta, 896 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-608-98788-1

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