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Der Chip-Krieg
Was der Motor für ein Auto ist der Prozessor für einen Computer oder ein Mobiltelefon. Umso erstaunlicher ist es, dass Apple keinen einzigen dieser Chips selbst herstellt. Diese Chips sind kleine Wunderwerke: Sie bestehen aus Strukturen, die weniger als halb so gross sind wie das Coronavirus. Apple hat die Prozessoren zwar entwickelt, ist jedoch nicht in der Lage, sie selbst herzustellen. Auch kein anderes Unternehmen in den USA, Europa, Japan oder China kann das. Diese komplexesten Prozessoren der Welt können nur von einem einzigen Unternehmen in einer einzigen Produktionsanlage gefertigt werden. In seinem Buch über Computerchips schreibt Chris Miller, das sei die vermutlich «teuerste Fabrik der Menschheitsgeschichte». Sie gehört der Firma TSMC in Taiwan. Laut Miller wird mittlerweile in Taiwan ein Drittel der jährlich von uns eingesetzten Rechenleistung hergestellt. Chips für Computer und Mobiltelefon, aber auch für Autos, Küchengeräte und Staubsauger. Die Welt ist abhängig von Taiwan. Das ist ein Grund dafür, warum China und die USA so erbittert über die Insel im chinesischen Meer streiten. Es ist kein Ringen um die Macht auf einer Insel, es ist ein Kampf um die Kontrolle über die Zukunft der IT-Technologie. In seinem Buch erzählt Chris Miller, wie es dazu gekommen ist, dass die ganze Weltherrschaft sich in die Hand von ein paar Firmen auf einer kleinen Insel vor der chinesischen Küste gegeben hat. Aufbauend auf Recherchen in historischen Archiven von Taipeh bis Moskau und über hundert Interviews mit Wissenschaftlern, Ingenieuren, Firmenchefs und Regierungsvertretern zeigt er, wie die Chips die Welt umgekrempelt haben.
Chris Miller beginnt seine Geschichte der Computerchips mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Krieg waren zum ersten Mal Rechenmaschinen zum Einsatz gekommen. Sie halfen dabei, die verschlüsselten Nachrichten der Nazis zu dechiffrieren. Diese Rechenmaschinen waren so gross wie ein ganzes Wohnzimmer, weil sie über 18’000 Vakuumröhren enthielten. Erst Ende der Vierzigerjahre entdeckten Physiker die Halbleitertechnik. Halbleiter sind Materialien, die sich wie ein Ventil verhalten können: Sie können also zwischen leitend und nicht leitend wechseln und so als Schalter funktionieren. Als eigentliche Geburtsstunde der Halbleitertechnik gilt eine Pressekonferenz im Juni 1948, als die Bell Labs bekannt gaben, dass zwei ihrer Wissenschaftler den Transistor erfunden hatten. Das ist nur gerade 75 Jahre her!
In seinem Buch schildert Chris Miller, wie sich aus dieser Erfindung schrittweise das entwickelt hat, was wir heute als Silicon Valley kennen. Er schränkt seinen Blick aber nicht auf Amerika ein, sondern zeigt zum Beispiel, wie die Sowjetunion mitten im Kalten Krieg unter Nikita Chruschtschow mit den USA in einen Wettstreit in der Mikroelektronik trat. Allerdings waren die sowjetischen Anstrengungen zu dieser Zeit zum Scheitern verurteilt. Miller schreibt: «Die gesamte sowjetische Halbleiterindustrie funktionierte wie ein Rüstungsbetrieb – verschwiegen, hierarchisch, auf militärische Systeme ausgerichtet, weisungsgebunden mit wenig Spielraum für Kreativität.» Die Halbleitersysteme der beiden Länder hätten nicht unterschiedlicher sein können. «Während die Gründer von Start-up-Unternehmen im Silicon Valley die Arbeitsplätze wechselten, praktische Erfahrungen in den Fabrikhallen sammelten und im ständigen Austausch mit Gleichgesinnten waren,» steuerten in der Sowjetunion Funktionäre das Geschehen von Moskau aus. Wer beruflich vorankommen wollte, mussten nicht besonders innovativ sein, sondern sich gut mit Verwaltungsstrukturen und -vorgängen auskennen. «Produkte für den zivilen Bereich blieben angesichts der überwältigenden Konzentration auf die militärische Produktion eine Nebensache.» Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren aber war die Entwicklung von Computerchips geprägt von Wettstreit der Grossmächte und ihren Kampf und die Vormacht in der digitalen Welt.
In den Achtzigerjahren kam das Silicon Valley zum ersten Mal so richtig unter Druck. Ausgestattet mit billigem Kapital, starteten japanische Unternehmen einen unerbittlichen Kampf um Marktanteile. Auch untereinander führten Toshiba, Fujitsu, Sony und andere einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf. Die Amerikaner nahmen die Konkurrenz aus Japan zunächst nicht ernst, weil auch die Japaner in den Chip-Markt eingestiegen waren, indem sie die Produkte aus den USA kopierten. Bloss waren die japanischen Unternehmen in kurzer Zeit in der Lage, die Qualität der amerikanischen Vorbilder zu überbieten und das zu einem günstigeren Preis. Zum Ausdruck kam diese Überlegenheit, als Sony den Walkman auf den Markt brachte. Miller schreibt: «Eingebaut in diesen tragbaren Musikplayer – nichts Geringeres als eine Revolution in der Musikindustrie – waren fünf hochmoderne integrierte Schaltkreise des Unternehmens.» Japan traf die amerikanische Unterhaltungsindustrie mitten ins Herz. Bald gab es kaum eine Technologie, in der die Japaner die USA nicht übertrafen.
Eine der Firmen, die ins Trudeln kam, war Intel. Sie hatte die Speicherchips praktisch erfunden und musste jetzt zusehen, wie die Japaner ihr das Geschäft wegnahmen. Es gab nur noch einen Markt, in dem die Japaner hinterherhinkten: der Markt für kleine Mikroprozessoren. Bloss war dieser Markt viel zu klein. Keine Firma konnte sich Hoffnungen machen, darin viel Geld zu verdienen. Für einen kleinen Hoffnungsschimmer sorgte ein Vertrag mit IBM. Miller erzählt: «Dabei ging es um die Herstellung von Chips für ein neues Produkt, den sogenannten ‹Personal Computer›. IBM beauftragte einen jungen Programmierer, einen gewissen Bill Gates, mit dem Schreiben von Software für das Betriebssystem des Computers.» Und im Gerät drin steckte ein kleiner Chip von Intel. Allerdings schien es unmöglich, dass der Umsatz mit Mikroprozessoren demjenigen mit Speicherchips den Rang ablaufen könnte. Intel setzte also auf den PC – und die Wette ging auf.
Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass die amerikanische Industrie unter Druck kam. Miller schildert im Buch den Aufstieg von Korea, wie China die Computerindustrie aus dem Boden stampfte und wie es kommt, dass wir heute fast ganz vom Taiwan abhängig sind. Sein Buch steht in den Buchhandlungen wohl in der Abteilung «Wirtschaft», es liest sich aber so spannend wie eine Biografie. Es ist die Biografie des Computerchips. Nach der Lektüre versteht man sehr viel besser, was in den Hochleistungsmobiltelefonen in unser aller Westentasche abgeht und warum die amerikanische Armee die kleine Insel Taiwan um jeden Preis beschützen will. Eine spannende und lehrreiche Lektüre.
Chris Miller: Der Chip-Krieg. Wie die USA und China um die technologische Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Rowohlt, 500 Seiten, 42.50 Franken; ISBN 978-3-498-00435-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498004354
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