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Café Größenwahn

Publiziert am 16. November 2023 von Matthias Zehnder

Zum Ende des 19. Jahrhunderts gibt es einen Ort, der Hochkultur und Koffeingenuss auf einzigartige Art und Weise miteinander verbindet. Genauer gesagt sind es drei Orte: das Café Griensteidl in Wien, das Café des Westens in Berlin und das Café Stefanie in München. Bald werden sie als «Café Grössenwahn» bezeichnet. Otto Friedländer schreibt, dass Sokrates sich gewiss in der Runde wohlgefühlt hätte. Der Philosoph hätte sicher gut an die Tische der Dichter, Fabulierer und Tagträumer, der Wortjonglierer und Luftgucker und zu ihren leidenschaftlichen Diskussionen gepasst. Das Kaffeehaus, sagt Friedländer, sei «vielleicht der einzige Ort auf Erden, an dem das gelöste, witzige, fantasievolle, grüblerische, scharfsinnige, zynische Gespräch sich am längsten lebendig gehalten hat». Ende des 19. Jahrhunderts ergab sich die Welt der Industrialisierung: Fabrikschlote schossen in den Himmel, Zeit wurde zu Geld, Maschinen übernahmen das Diktat. Wie Oasen blieben die Kaffeehäuser Räume des intelligenten Austausches und des klugen Meinungskampfes. Die künftigen Stars von Politik, Literatur und Theater schärften ihre Talente bei hitzigen Diskussionen über einer Melange oder einem Glas Mokka. Den drei Cafés Grössenwahn in den drei Metropolen Wien, Berlin und München ist dieses Buch gewidmet. Es zeichnet zwischen dem kleinen Schwarzen und dem Verlängerten die europäische Geistesgeschichte an der Jahrhundertwende nach.

Die Helden des Buchs sind die Schriftsteller Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind und Emmy Hennings, die Dichterin Else Lasker-Schüler, der Anarchist Erich Mühsam, der Kritiker und Schriftsteller Karl Kraus, der Kunstmaler Oskar Kokoschka, der Theaterregisseur Max Reinhardt und andere Geistesgrössen der Zeit. Sie alle leben Hunderte Kilometer weit voneinander entfernt, sind aber verbunden durch Briefe, Aufrufe, Zeitschriften, Telegramme und schliesslich auch durch das Telefon, durch das Geflüster über Skandale, Neuigkeiten und Seitensprünge. Und gar nicht so selten durch gegenseitige Besuche bei den jeweils anderen. Mal tauchten Erich Mühsam und Else Lasker-Schüler in Wien auf, dann verschlug es Peter Altenberg nach München, und schliesslich hatten die Wiener Karl Kraus und Oskar Kokoschka für ein paar Tage in Berlin zu tun.

Im September 1891 klagt Hugo von Hofmannsthal zwar über Ekel vor dem Kaffeehaus. Und auch sein Freund Schnitzler fühlt sich von der Atmosphäre im Griensteidl deprimiert und erklärt, er wolle jetzt ein Virtuose der Einsamkeit werden. Doch sie kommen nicht vom Kaffeehaus los. Wie alle anderen brauchen auch Hofmannsthal und Schnitzler die grössere Runde. Sie wollen nicht auf die Meinungen (und schon gar nicht auf die Bewunderung) der anderen jungen Leute verzichten. Sie sind noch jung und unbekannt und können sich ihr Publikum nicht aussuchen.

Das Kaffeehaus ist mal Epizentrum für lästerlichen Klatsch, mal Börse für weltbewegende Neuigkeiten. Mal erweist es sich als Spiegelkabinett törichster Eitelkeiten, mal als Echokammer reizender Bonmots. Die einen suchen es auf, um in einer stillen Ecke zu schreiben, andere markieren lautstark ihr Revier und verbessern verbal die Welt. Kaum wird an einem der Marmortischchen eine Theorie ausgeheckt, fühlt sich die Gesellschaft am nächsten Tischchen provoziert, diese Theorie grundsätzlich zu hinterfragen. Im Zentrum steht nicht ernsthafte Gründlichkeit, sondern das freie Spiel der Assoziationen.

Dirk Liesemer zeichnet in seinem Buch über die Kaffeehäuser der Jahrhundertwende ein lebendiges Porträt der sprichwörtlich gewordenen Kaffeehausliteraten. Wie wenn er selbst an einem der Marmortischchen gesessen hätte, gibt er hinter vorgehaltener Hand den letzten Klatsch des anbrechenden 20. Jahrhunderts weiter. Erzählt von Fürstinnen und Fürsten, echten und erdichteten, von Liebschaften und Fehden, die oft nahtlos ineinander übergehen. Die Geistesgrössen der Zeit, die in unseren Büchergestellen als ehrfurchtgebietende Namen die Bücherrücken zieren, erwachen zum Leben. Wir nehmen an ihren Diskussionen und Auseinandersetzungen teil, leiden mit ihnen an Hoffnungen, die sich zerschlagen, freuen uns über erste Erfolge. Liesemer erschliesst uns auf diese Weise eine künstlerisch und literarisch spannende Zeit, die erst zu Ende geht, als der Erste Weltkrieg düstere Nacht über Europa bringt.

Dirk Liesemer: Café Größenwahn. 1890–1915 Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde. Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-455-01656-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455016567

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