Was dürfen wir hoffen?

Publiziert am 20. Dezember 2024 von Matthias Zehnder

Wir leben wahrlich in düsteren Zeiten. In Europa herrscht  Krieg, das Klima spielt immer verrückter, viele Tiere und Pflanzen sind in ihrem Lebensraum bedroht und die Menschen – die scheinen nur noch eins zu kennen: Eigennutz, Profit – Gier. Wir haben offensichtlich wenig Grund zur Hoffnung. Aber braucht Hoffnung wirklich einen Anlass? Zeichnet sich Hoffnung nicht durch genau dieses «trotzdem» aus? Ist nicht gerade Hoffnung oft eine Hoffnung wider besseren Wissens? Zum Jahresende habe ich meine Bücher konsultiert. Alte und neue. Ich habe nach Hoffnung gesucht, nach Anleitungen zum Hoffen. Der Grund ist schlicht: Ich möchte mich nicht mit der Düsterkeit abfinden. Hoffnungslosigkeit kann keine Grundlage für das Leben sein. Mir geht es dabei nicht um den simplen Zweckoptimismus von Lebenscoaches, jenen ultimativen Aufruf zum Hollywood-Optimismus, der das Happy End herbeitricksen soll. Meine Frage ist vielmehr: Wo können wir unsere Hoffnung festmachen, wie der Bergsteiger seinen Karabinerhaken? Mit Kant gefragt: Was dürfen wir hoffen? Meine fünf Lesetipps, die Hoffnung machen.

Hoffnung hat viele Gesichter. Sie kann wohlfeil wirken, wenn wir, gut genährt, aus einer warmen Stube heraus zu Hoffnung aufrufen. Hoffnung kann zynisch wirken, oder sich als blosse Taktik zum Erreichen eines Businessziels erweisen. Und doch ist die Hoffnung das, was uns am Leben hält, was uns, wieder besseren Wissens, jeden Morgen dazu bringen kann, uns dem Alltag auszusetzen, weiter zu arbeiten, vielleicht weiter zu kämpfen, zu lieben – zu leben.

Ich hatte das Jahr 2024 eigentlich schon ad acta gelegt, abgeheftet unter den hoffnungslosen Fällen, als am 8. Dezember in Syrien Diktator Baschar al-Assad gestürzt wurde. Über 50 Jahre lang hat die Familie Assad Syrien brutal regiert, fast 24 Jahre lang war Baschar al-Assad der Herrscher, der nicht zögerte, das eigene Volk zu bombardieren. Und dann ist sein Regime innert weniger Tage in sich zusammengebrochen. Jetzt stellen sich grosse Fragen. Wird es die Allianz der islamistischen Rebellen zulassen, dass sich Syrien wieder in eine offene Gesellschaft entwickelt? Was machen die Türkei, Israel, der Iran, Russland, die USA? Es sind viele Fragen offen. Und doch macht der Sturz des Diktators Hoffnung.

Der syrisch-deutsche Autor, Lyriker und Erzähler Suleman Taufiq schreibt in einem Gedicht:
was machst du
ich zähme
die hoffnung,
trainiere
die geduld
und befreie
mich von zweifeln.

Das bringt poetisch die Hoffnung auf den Punkt: Hoffnung heisst, Zweifel zu überwinden und Geduld zu trainieren. Das haben die Syrer zweifellos gemacht: Sie mussten sich lange in Geduld üben und hatten viele Zweifel zu überwinden. Und jetzt hat sich die Hoffnung ganz plötzlich erfüllt: Der Diktator ist gestürzt.

Immanuel Kant: Was darf ich hoffen?

Aber was ist Hoffnung genau? Immanuel Kant hat die drei grossen Grundfragen der Philosophie auf die einfachste mögliche Form gebracht. Bei ihm lauten sie:

  1. Was kann ich wissen? Die Antwort darauf ist das, was er Erkenntnistheorie nennt, beschrieben in der «Kritik der reinen Vernunft»
  2. Was soll ich tun? Das ist die moralische Frage. Kant Antwortet darauf mit seiner Ethik. Er sagt, dass eigentlich alle Menschen das Gute erkennen, aber nur selten danach handeln.
  3. Was darf ich hoffen? Die Frage klingt zunächst seltsam. Warum dürfen? Brauche ich eine Erlaubnis dafür, zu hoffen? So ist das aber nicht gemeint. In allen drei Fragen verwendet Kant ein Modalverb. Bei der Frage nach dem Wissen ist es «können», bei der Frage nach dem Tun ist es «sollen» und bei der Frage nach der Hoffnung ist es «dürfen». In dieser Zusammenstellung wird vielleicht klarer, wie Kant das meint.

Mit der Frage: «Was kann ich wissen?» lotet Kant die Grenzen des Denkens aus. Er denkt also darüber nach, ob es Dinge gibt, die der Mensch nicht wissen kann (gibt es). Bei der Frage «Was soll ich tun?» geht es nicht um eine lockere Frage danach, was ich tun könnte, es geht um die Frage nach der Verpflichtung: Welche ethischen Regeln soll ich einhalten? Die Hoffnung verhält sich anders. Da geht es nicht um eine Fähigkeit oder Möglichkeit wie beim Wissen und nicht um eine Verpflichtung wie beim Tun. Es geht darum, dass Hoffnung so etwas wie ein Geschenk ist, das ich nutzen darf.

Kant unterscheidet zwischen Wissen, Glauben und Hoffen. Wissen bezieht sich auf das, was empirisch und wissenschaftlich nachweisbar ist. Zum Beispiel weiss ich, dass ein Apfel zu Boden fällt, wenn ich ihn loslasse. Ich weiss das, weil es ein Gravitationsgesetz gibt. Ob ich an die Gravitation glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Der Apfel fällt immer zu Boden.

Glauben ist bei Kant die Überzeugung von etwas, das sich nicht beweisen lässt, aber dennoch denkbar ist. So kann Kant zum Beispiel nicht empirisch beweisen, dass der Mensch einen freien Willen hat, weil alles, was in der Natur geschieht, durch Naturgesetze bestimmt zu sein scheint. Wenn es keine Freiheit gäbe, könnten die Menschen aber nicht für das verantwortlich gemacht werden, was sie tun. Kant setzt die Freiheit deshalb als Glaubenssatz voraus: Er glaubt, dass der Mensch frei ist. Glauben bezieht sich also immer auf etwas, das ich nicht wissen kann, von dem ich aber trotzdem überzeugt bin.

Und die Hoffnung? Sie ist die schwächste der drei Schwestern. Der Vernunftmensch Kant hegt auch die Hoffnung mit dem Verstand ein. Bei ihm ist Hoffen die vernünftige Annahme eines Wunsches. Er hofft konkret auf Fortschritt des Menschen. Er meint damit nicht den technischen Fortschritt, sondern die geschichtliche Entwicklung, zum Beispiel die Entwicklung der Menschenrechte. Kant sagt, weil die Welt oft ungerecht sei, brauche es die Hoffnung darauf, dass moralisches Handeln letztlich zu einem gerechten Ausgang führt. Hoffnung ermöglicht es, trotz widriger Umstände moralisch zu handeln. Sie motiviert den Menschen, sich über seine eigene Endlichkeit hinaus für moralische Prinzipien einzusetzen, auch wenn keine unmittelbare Belohnung sichtbar ist. Hoffnung ist bei Kant deshalb keine naive Erwartung, sondern ein praktisches Prinzip, das dem Menschen eine Perspektive eröffnet, über das empirische Leben hinaus Sinn und Gerechtigkeit zu finden.

Philipp Blom: Hoffnung

Philipp Blom hat sich in seinem neuen Buch ausführlich mit der Hoffnung beschäftigt. Und tut sich schwer damit. Er schreibt, dass viele Menschen meinen, sie hätten ein Recht darauf, in Sicherheit und Wohlstand zu leben, ja ein Recht auf Glück. Die Vision von einem guten Leben schrumpfe ihnen zu einem Verbraucherrecht, schreibt Philipp Blom:

Sie führen ein Leben mit Sicherheitskonzept und Schutzweste, mit Garantie, Rückgaberecht, Kreditplan, Verbraucherschutz, DIN-Normen, Zulassungsprozessen und Zertifizierung. Jede Enttäuschung kann in eine Beschwerde münden, in eine Klage, eine Verurteilung.
Hoffnung als Garantie, die bessere Zukunft als Verbraucherrecht?
Ja, das ist Gewäsch. Verbaler Müll, moralisches Appeasement. Aber das wollen die Leute hören. Sie zahlen gutes Geld dafür. Psychologen und Ratgeberinnen befehlen uns, positiv zu denken und optimistisch zu sein, Religionen bieten uns einen schützenden Raum für unsere Ängste und unsere Erlösung vom Tod, Business Coaches und Management-Konsulenten und Meditations-Apps verdienen mit Phrasen wie diesen ordentliches Geld. Die Leute wollen das. (Philipp Blom: Hoffnung. München: Hanser 2024)

Philipp Blom fordert uns dazu auf, in den Abgrund zu sehen. Die Menschheit, schreibt er, stehe vor drei gigantischen Krisen: die Erderhitzung, der Zusammenbruch der Artenvielfalt und die Risiken von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Jede davon habe das Potenzial, das Leben auf diesem Planeten auszulöschen. Haben wir also keinen Grund zur Hoffnung? «Nein» schreibt Philipp Blom, «wir werden die Klimaerwärmung wie andere Katastrophen nicht abwenden, und ja, das wird tragische Konsequenzen haben». Es sei nun mal so, dass wir nicht in einem Cartoon oder einem Bollywood-Epos leben, «in dem die Welt drei Minuten vor Schluss durch ein Wunder gerettet werden kann». Die Welt sei ein «tödlicher Ort, an dem es trotzdem möglich ist, gut zu leben, zu hoffen, solange man sich von der naiven Idee verabschiedet, Hoffnung sei nichts anderes als eine Garantie auf eine bessere Zukunft, auf den endgültigen Sieg der Good Guys.»

Aber wie können wir hoffen, wenn wir wissen, dass wir es nicht schaffen werden, die Welt zu retten, dass wir eines Tages alle tot sein werden? Hoffnung entsteht aus der Weigerung, sich einfach ins Unvermeidliche zu schicken, und am Ende stellt sich heraus, dass ein so betrachtetes Leben alles ist, was wir haben, das tägliche Leben und die täglichen Ängste und Träume und die tägliche Praxis, dass es nicht das Erreichen historischer Ziele oder das Vermeiden schrecklicher Katastrophen ist, sondern das tätige Leben und Lieben und Gestalten, die Verletzlichkeit des Handelns, der Bezogenheit. Es ist die Geschichte selbst, die spannend zu erleben ist, nicht ihr vorweggenommenes Happy End. (Philipp Blom: Hoffnung. München: Hanser 2024)

Hoffnung entsteht aus der Weigerung, sich einfach ins Unvermeidliche zu schicken. Da ist es wieder, das Trotzige, das der Hoffnung innewohnt. Wir wissen, dass die Welt bachab geht, manche glauben auch daran. Und trotzdem besteht Hoffnung, weil und wenn wir uns weigern, uns einfach bachab mitspülen zu lassen.

Aber können wir diesem Homo sapiens wirklich vertrauen? Diesem Menschen, der manchmal nichts anderes zu kennen scheint als Krieg und Kampf und Tod? Geht es nicht letztlich immer darum, dass im Überlebenskampf der Stärkere ermittelt wird und der setzt sich dann durch?

Hanno Sauer: Moral

Das bringt mich zu einem ungemein spannenden Buch von Hanno Sauer. In seinem Buch «Moral. Die Erfindung von Gut und Böse» geht Hanno Sauer der Frage nach, wie die Menschen auf die Idee der Moral gekommen sind. Dabei geht es nicht um eine Geschichte der Philosophie, er greift viel weiter zurück in die Menschheitsgeschichte. Es geht also nicht um Sokrates und Aristoteles, nicht um die Bergpredigt oder um Immanuel Kant. Es geht um die Frage nach der Evolution von Ethik und Moral: Inwieweit haben die frühen Hominiden eine Moral entwickelt – und vor allem: warum?

Die entscheidende Phase der Menschwerdung fand vor etwa zwei Millionen Jahren statt. Damals veränderte sich die Umwelt für erdgeschichtliche Verhältnisse rasant. Unsere Vorfahren waren gezwungen, die schützenden Wälder zu verlassen. Sie mussten sich zunehmend in der Steppe behaupten und grössere Strecken zu Fuss zurücklegen. Das führte dazu, dass sich unsere Vorfahren aufrichteten. Zu diesem Zeitpunkt, schreibt Hanno Sauer, habe sich unter den Gruppen der frühen Menschenarten eine besondere Form von Kooperation entwickelt, die letztlich die Moral des Menschen geformt habe. Sie «besteht darin, das Interesse des Einzelnen zugunsten eines grösseren Gemeinwohls hintanzustellen, von dem alle profitieren», schreibt er. «Die Entstehung menschlicher Kooperation war die erste entscheidende moralische Transformation unserer Spezies.»

«Wir fanden Rückhalt und Stärke in grösseren Gruppen mit engerer Zusammenarbeit», schreibt Sauer. Die Menschen seien das, «was aus den intelligentesten Affen wird, wenn man diese fünf Millionen Jahre lang dazu zwingt, auf offenen Flächen in grossen Graslandschaften zu leben.» «Viele Tiere jagen kooperativ», schreibt Sauer, «aber das Niveau an Präzision und Koordination, das Menschen an den Tag legen, ist sonst unerreicht.» Unsere Vorfahren waren zunehmend auf Kooperation angewiesen, um sich mit dem Fleisch grosser Tiere zu versorgen. Diese Zusammenarbeit in grösseren Gruppen funktioniert aber nur, wenn Regeln eingehalten werden. Dass zum Beispiel alle an der Beute teilhaben können. Sauer sagt deshalb: «Kooperation ist ein zentrales Fundament menschlicher Moral.»

Die Folge davon: Die Evolutionsgeschichte des Menschen ist zu einem erheblichen Teil eine Geschichte des Überlebens der Freundlichsten. Das ist eine Überraschung: Es haben also nicht die aggressivsten Menschen ihre Gene weitergegeben, sondern die nettesten. Hanno Sauer sagt, das sei logisch: «Unsere Verträglichkeit war der Grund für unsere Anpassungsfähigkeit.» Die besonders verträglichen Menschen arbeiteten besser zusammen, konnten sich deshalb besser an veränderte Bedingungen anpassen und überlebten deshalb besser.

Die Evolution hat uns also mit einer Moral ausgestattet. Diese Moral hat sich als äusserst nützlich erwiesen, ja sie macht uns aus. Sie hat den Menschen geholfen, die Probleme zu lösen, mit denen sie in den letzten Jahrmillionen konfrontiert wurden. Die Menschen sind zur Zusammenarbeit geboren. Das ist ein tröstlicher Gedanke, aus dem ich ganz konkret Hoffnung schöpfen kann.

Franziska Augstein: Winston Churchill

Jetzt sagen Sie vielleicht: Alles gut und recht. Aber schau Dich einmal um. Einmal abgesehen von der Entwicklung in Syrien – glaubst Du wirklich, dass wir Grund zur Hoffnung haben? Die Antwort ist: Nein, glaube ich nicht. Aber Hoffnung braucht keinen Grund, um ihre Kraft entwickeln zu können. Das ist mir dieser Tage aufgefallen, als ich zeitgleich die neue Churchill-Biographie von Franziska Augstein las und mir die Doku-Serie «Churchill at War» auf Netflix ansah. Beide, Buch und Film, führen deutlich vor Augen, dass der Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg an einem seidenen Faden hing. Churchill gilt heute als grosser Staatsmann. Er war aber ein Sonderling, er hatte jeden Tag Tausend Ideen, davon waren aber 950 Mist. Seine Entscheidungen führten ihn immer wieder ins Abseits. Im ersten Weltkrieg erlitt er Schiffbruch mit der Schlacht auf Gallipoli – die Kämpfe um die Dardanellen forderten 100’000 Tote und 250’000 Verletzte. Danach musste er aus der Regierung austreten und schien politisch erledigt.

In den 30er-Jahren war er zunächst fasziniert von Hitler und vor allem von Mussolini, erkannte dann aber die Gefahr und wurde zum grossen Warner vor dem Nationalsozialismus. Als 1940 das Scheitern der Appeasement-Politik von Premierminister Neville Chamberlain offenbar wurde, weil Hitler sich nicht an die Abmachungen hielt, wählte das Parlament den 65jährigen Churchill zum Premier – ohne grosse Erwartungen. Am 13. Mai 1940, drei Tage nach seiner Ernennung, hielt Churchill im Unterhaus eine Rede, die bis heute als die berühmteste Churchill-Rede überhaupt gilt. Er schenkt Parlament und Volk reinen Wein ein. Er sagt, dass Grossbritannien vor gigantischen Problemen stehe und er dem Land nichts anderes zu bieten habe als «Blut, Mühsal, Tränen und Schweiss». Und, das sagte er nicht, verkörperte es aber während seiner Zeit als Premier: Hoffnung. Hoffnung wider besseren Wissens. Vielleicht hat der Westen Deutschland nur besiegt, weil Winston Churchill die Hoffnung nie verloren hat.

In der Dokumentation von Netflix kommt das besonders stark zum Ausdruck, weil die historischen Filme KI-koloriert sind. Churchill wirkt farbig gegenwärtiger, menschlicher und zerbrechlicher als auf den Schwarzweissbildern, die ich bis dahin kannte. Mir wurde beim Lesen des Buchs und beim Betrachten des Films klar: Der Mann hatte wirklich nur seine Hoffnung. Und das gibt mir heute Hoffnung, auch wenn die Welt zerfahren und verloren scheint.

Das sind sie, meine fünf Lesetipps rund um die Hoffnung in schwierigen Zeiten:

  • Das Gedicht «Ich zähme die Hoffnung» stammt aus dem gleichnamigen Gedichtband von Suleman Taufiq. Das Buch ist allerdings zur Zeit nicht lieferbar.
  • Immanuel Kant im Original zu lesen, ist für Nicht-Philosophen eher schwierig. An Stelle des Originals, also der «Kritik der praktischen Vernunft», empfehle ich Ihnen die Sonderausgabe No. 28 des Philosophie Magazins: «Kant. Die Kraft der Vernunft in chaotischen Zeiten.»
  • Einen eher skeptischen Blick auf die Hoffnung wirft Philipp Blom in seinem Buch «Hoffnung. Über ein kluges Verhältnis zur Welt», das soeben bei Hanser erschienen ist.
  • Mir persönlich hat das Buch von Hanno Sauer sehr geholfen: «Moral. Die Erfindung von Gut und Böse» ist bei Piper erschienen.
  • Und dann hat mich die neue Churchill-Biographie von Franziska Augstein beeindruckt, die bei DTV erschienen ist, und die Netflix-Dokuserie «Churchill at War» mit kolorierten, historischen Filmaufnahmen.

Aber vielleicht ist Ihnen das alles zu trocken und Sie fragen sich immer noch, was Hoffnung denn nun sei. In seinem Buch «Die Revolution der Hoffnung» hat der  Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm Hoffnung als eine «psychische Begleiterscheinung von Leben und Wachstum» beschrieben. Er schreibt:

Wenn ein Baum, der keine Sonne bekommt, seinen Stamm der Sonne zudreht, können wir nicht sagen, dass der Baum genauso «hofft», wie das ein Mensch tut, da die Hoffnung beim Menschen mit Gefühlen und mit Bewusstsein verbunden ist, die der Baum wohl nicht besitzt. Und doch wäre es nicht falsch zu sagen, dass der Baum auf Sonne hofft und dass er diese Hoffnung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er seinen Stamm der Sonne zudreht. Ist es denn etwas anderes bei dem Kind, das geboren wird? Es nimmt vielleicht noch nichts wahr und doch drückt sich in seiner Aktivität seine Hoffnung aus, geboren zu werden und selbständig atmen zu können. Hofft der Säugling nicht auf die Brust seiner Mutter? Hofft das Kleinkind nicht, aufrecht stehen und laufen zu können? Hofft der Kranke nicht, gesund zu werden, hofft der Gefangene nicht, frei zu werden, der Hungrige nicht, etwas zu essen zu bekommen? Hoffen wir nicht, am nächsten Tag wieder aufzuwachen, wenn wir abends einschlafen? (Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. 1968)

Hoffnung ist der Wille zu leben. Allen Zweifeln zum Trotz.

Basel 20. Dezember 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: KEYSTONE/EPA/bilal al Hammoud
Feiernde Menschen nach dem Sturz des Syrischen Machthabers Baschar al-Assad auf dem Umayyad Platz in Damaskus am 9. Dezember 2024.

Suleman Taufiq: Ich zähme die Hoffnung. Gedichte. Sujet-Verlag, 100 Seiten, ISBN 978-3-96202-001-9

Philosophie Magazin: Kant. Die Kraft der Vernunft in chaotischen Zeiten. Sonderausgabe No. 28, Winter 2024.

Philipp Blom: Hoffnung. Über ein kluges Verhältnis zur Welt. Hanser, 184 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-446-28135-6

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse. München: Piper.

Franziska Augstein: Winston Churchill. Biographie. DTV, 624 Seiten; ISBN 978-3-423-28410-3

Netflix: Churchill at War.

Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik. (1968). Open Publishing: ISBN 978-3-95912-032-6

4 Kommentare zu "Was dürfen wir hoffen?"

  1. Wir dürfen hoffen, wenn wir den Schmerz der Wellt (als) wahr nehmen, und wenn es uns gelingt, gemeinsam eine neue Kultur zu schaffen. – Wo Hass ist, möge Klarheit werden. Wo Resignation ist, möge Liebe werden. Wo Lähmung ist, möge Schöpfung werden. Wo Illusion ist, möge Aneignung werden. Wo Verzweiflung ist, möge Demut werden. – Mögen wir aus ganzem Herzen und aus Liebe im Frieden mit uns in und mit der Welt leben, wie sie ist: wo Schmerz ist, möge Heilung werden. – Mögen wir uns von Kopf bis Fuss und von Herz bis Hand ganz, wohl geborgen und frei fühlen: frei von Hass, dem Schattengefühl von Wut; frei von Resignation, dem Schattengefühl von Trauer; frei von Lähmung, dem Schattengefühl von Angst; frei von Illusionen, dem Schattengefühl von Freude; frei von Selbstzerfleischung, dem Schattengefühl von Scham.

  2. Hoffnung
    Die einen suchen sie im Glauben
    Andere in Lektüren
    Wieder andere in der Wissenschaft (z.B. Impfen), doch auch sie muss regelmässig hinterfragt werden
    Andere in der Spiritualität ausserhalb des Kirchenwesens (immer mehr)
    Manchmal verlässt sie einem, dann kommt sie wieder – schwankend stark und schwach von hoffnungslos bis hoffnungsvoll und alles dazwischen
    Viele haben kleine Hoffnungen
    Dass die Kupplung im Auto noch lange hält, dass die Blasen an den Händen weggehen, dass der Schimmel im Haus ein ungiftiger Schimmel ist, dass die Weihnachtsgans auch gut gelingt…
    Alltag halt – welcher uns vom grossen Hoffen abhält, da das Hirn mit Kleinkram voll ist.
    Normal.
    Grosses Hoffen – bei mir positiv besetzt. Die Ansichten zum Krieg in Europa nahmen seit dem 5. November gute Wendungen. Was litt ich davor. Der Atomkrieg so nah wie nie. Jeweils am 9. Mai (zur grossen Militärparade in Moskau) tauchte ich unter die Decke. Was wenn… Ost und West redeten nur von Aufrüsten, Waffen, Truppen, Raketen, Panzer. Die Ostermärsche, Friedensmärsche, die Peace-Stände und die Frauen für den Frieden = wo sind sie, dachte ich. Sogar die Grünen, auch die Linken liessen mich erstarren. Als treibende Kräfte wollen sie Raketen auf Moskau, die deutsche FDP-Frau Stark-Zimmermann (Verwaltungsrätin von Rheinmetall) rief „Taurus bis zum Endsieg“. Keine Friedenstaube am Himmel. Harris, Biden drehten die Eskalationsspirale mit Langstreckenraketen noch höher…
    Doch (mein) und aller Beten und Hoffen lohnte sich. Half. Die Welt merkt, das ohne Dialog, Reden, Kompromiss das Gemetzel weitergeht. Selbst CDU-Merz versenkt den Taurus bei seiner letzten Rede wieder in den Raketenschächten. Und die Adventslichter verlieren ihre Leere und glänzen irgendwie wieder magischer.
    Beides ist fürs Leben massgebend:
    Hoffnung im Kleinen, bei Finanzen, Familie, Liebe, bei Wohnen, Mobiliar, bei Mobilien und Immobilien, bei Garten, Bäumen, Speis und Trank und der unverzichtbaren Gesundheit, welche vieles ist.
    Im Grossen: Die Welt, die Umwelt, die Gesellschaft, die Freiheit, die Selbständigkeit für Volk und Demokratie, die Tier und Pflanzenwelt und was es sonst noch alles gibt zwischen Himmel und Erde…
    Beides ist bedeutsam: Gross und Klein, Licht und Dukel, Ying und Yang
    Innerlich äusserlich gänzlich. Sonst gehen wir zugrunde, sonst sterben wir. Lichtblick: Die Hoffnung; denn die stirbt zuletzt….

  3. Lieber Herr Zehnder,

    ein ganzes Jahr lang anregende Wochenkommentare, dafür vielen Dank.

    Hoffnung hat für mich etwas statisches, inaktives. Zuversicht haben, heisst für mich aktiv werden. Mein Problem benennen und versuchen mit den eigenen Möglichkeiten zu lösen.

    Frohe Festtage und viel Gutes im neuen Jahr

  4. Sehr geehrter Herr Zehnder

    Sie geben einem etwas zum Denken, richtig zum Denken. Vollwertnahrung ist das. Da kommen Immanuel Kant, Winston Churchill, Hanno Sauer, KI und viele andere. Ich liebe Ihren breiten Ansatz, das Feld für Auseinandersetzung, das Sie auftun. Da ist Platz zum Selber-Denken, Stoff, der Mut macht und aufweckt.

    Ich wollte das schon mehrmals schreiben, zum Beispiel zu Ihren Ausführungen, wie man die Schweiz vor Angriffen durch Fake News schützen könnte und müsste. Sie haben absolut recht: So geht Landesverteigung. Aber auch Ihre Betrachtungen zur KI. Und nun die Hoffnung.

    Ich bin sehr froh, dass Sie Ihre Sicht formulieren und an Ihren Prozessen, wie Sie die Welt sehen, teilhaben lassen. Sie inspirieren mich.

    Martin Rafael Steiner

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