Die fünf besten Bücher für neue Perspektiven

Publiziert am 27. Dezember 2024 von Matthias Zehnder

Ein Neues Jahr verlangt von vielen von uns, die Welt neu zu sehen, sich selber neu zu sehen in einer Welt, die sich rasch verändert. Wie kann man es lernen, neue Perspektiven einzunehmen? In neuen Blickwinkeln auf die Welt zu schauen? Durch Lesen! Literatur ermöglicht es uns, mühelos in die Köpfe anderer Menschen zu schlüpfen und die Welt aus deren Sicht zu sehen. Aus der Perspektive eines Königs oder eines Bettlers – oder der Perspektive eines Königs, der als Bettler durchs Land zieht, wie Mark Twain es in «Prinz und Bettelknabe» erzählt. Aus der Perspektive eines Sklaven, einer Astronautin oder eines Verdingkinds. Literatur macht es sogar möglich, dieselbe Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben, so, wie das George R.R. Martin im ersten Band von «Game of Thrones» macht: Er erzählt die Geschichte in jedem Kapitel aus einer anderen Perspektive. Durch die Wechsel der Perspektive erleben wir, dass dasselbe Geschehen ganz unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Literatur, das Lesen, ermöglicht es uns, andere Blickwinkel einzunehmen. Wir lernen, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen. 2024 haben mich fünf Romane mit ihren neuen Blickwinkeln auf die Welt ganz besonders beeindruckt. Ich habe Ihnen deshalb die fünf besten Romane für das Wechseln der Perspektive herausgesucht. Zwei davon haben mich geradezu umgehauen. Ich empfehle Ihnen deshalb hier die (aus meiner Sicht) fünf besten literarischen Augenöffner des Jahres.

Gute Bücher sind für mich die Stützstrümpfe für die Seele. Manchmal sind es einzelne Sätze, einzelne Formulierungen, die man sich beim Lesen in die geistigen Taschen schieben kann wie einen besonders schönen Stein oder eine Muschel beim Strandspaziergang. Manchmal ist es die ganze Geschichte, die bewegt, beschäftigt und zu denken gibt. Und manchmal ist es diese Möglichkeit, beim Lesen in den Kopf eines anderen Menschen schlüpfen zu können, die Welt mit anderen, mit fremden Augen sehen und ganz neue Blickwinkel einnehmen zu können. Das verändert den eigenen Blick auf die Welt dauerhaft und fördert Mitgefühl und Empathie.

 

Das ist nicht einfach eine romantische Vorstellung eines Buchliebhabers, Studien haben mehrfach belegt, dass das Lesen von Belletristik die Entwicklung von Mitgefühl und Empathie erheblich beeinflussen kann. Der Auslöser ist dabei, dass sich die Leserin, der Leser emotional in einen anderen Menschen einfühlt. Entscheidend ist, was Wissenschaftler die «narrative Bindung» nennen, also die Verbundenheit, die man beim Lesen mit den Figuren entwickelt. Wenn Leser emotional in eine Geschichte eintauchen, entwickeln sie mehr Empathie als Personen, die nicht in die Geschichte eintauchen oder nur Sachbücher lesen. Das ist sogar messbar: Bei Kindern ist häufiges Lesen von Belletristik mit einer stärkeren Aktivierung von Gehirnbereichen verbunden, die mit Empathie in Zusammenhang stehen. Dies deutet darauf hin, dass eine frühe Auseinandersetzung mit Belletristik die Entwicklung von Mitgefühl fördert. Der Schlüssel dafür ist dass Leserinnen und Leser emotional in eine Erzählung eintauchen und sich mit den Figuren verbinden. Auch und gerade, wenn diese Figuren ein ganz anderes Leben führen und deshalb eine ganz andere Perspektive auf die Welt haben.

(1) «James» von Percival Everett

Das beste Beispiel für diesen Effekt war dieses Jahr zweifellos der Roman «James» von Percival Everett. Als ich den Roman zum ersten Mal aufschlug, war ich skeptisch. Ich fürchtete, dass er vor allem gut gemeint war. Everett hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als «Huckleberry Finn» von Mark Twain neu zu erzählen. «The Adventures of Huckleberry Finn», 1884 erschienen., ist der erfolgreichste Roman von Mark Twain. Huck wird von seinem Vater, einem arbeitslosen Trinker, gefangen gehalten. Es gelingt ihm, auszubrechen und seine eigene Ermordung vorzutäuschen. Huck flüchtet auf einem Boot und lässt sich den Mississippi heruntertreiben. Da stösst er auf den schwarzen Sklaven Jim. Der ist ebenfalls auf der Flucht, weil seine Besitzerin, Miss Watson, ihn verkaufen wollte. Jims Ziel ist Ohio, ein freier Staat. Von da aus will er seiner Familie die Freiheit erkaufen.

Mark Twain erzählt diese Geschichte aus der jugendlich-naiven Ich-Perspektive von Huckleberry Finn. Es ist eine Abenteuergeschichte: Huck und Jim suchen auf dem Fluss die Freiheit. Jim spricht dabei in einem eigentümlichen Südstaatendialekt, einem verstümmelten Englisch. Percival Everett hat den Stoff neu erzählt: Seine Hauptfigur ist der schwarze Sklave Jim, der bei ihm James heisst. Die verstümmelte Sklavensprache entpuppt sich als Finte: Die Sklaven reden nur vor den Weissen so, um sie im Glauben zu lassen, dass sie der Sprache und des Denkens nicht recht mächtig seien. In Wirklichkeit ist James gebildet. Er hat verbotenerweise lesen und schreiben gelernt und ist belesen. Seinen Kindern bringt er bei, so zu reden, wie es die weissen Besitzer von ihren schwarzen Sklaven erwarten. Anhand dieser sprachlichen Verstellung der Sklaven führt Percival Everett die Machtstrukturen vor. Zuerst hat mich das irritiert, dann verstand ich: Er führt uns Lesern Sklaven als würdevolle, kluge und denkende Menschen ein. Umso härter trifft es uns, wenn wir später davon lesen, wie abschätzig und brutal die Weissen ihre Sklaven behandeln, wie sie sie nach Belieben auspeitschen, quälen, ja vergewaltigen und ermorden dürfen.

James ist ein liebevoller Ehemann und Vater und ein umsichtiger Arbeiter. Wie im Original von Mark Twain erfährt er aber eines Tages, dass seine Besitzerin, Miss Watson, ihn nach New Orleans verkaufen will. Er muss befürchten, dass es ihm da um einiges schlechter gehen wird. Also ergreift James die Flucht und schwört seiner Frau Sadie und Tochter Lizzie, dass er sie so schnell als möglich rausholen wird. Gemeinsam flüchten Huck und James auf dem Mississippi nach Süden. James ist klar, dass er niemand ist, rechtloser als ein Tier auf der Flucht. Also beginnt er, zu schreiben:

Ich heisse James. Ich wünschte, ich könnte mein Leben mit ebenso viel Geschichtsbewusstsein wie Fleiß erzählen. Ich wurde bei meiner Geburt verkauft und dann erneut verkauft. Die Mutter meiner Mutter stammte von irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent, wie man mir erzählt hat oder wie ich vielleicht einfach angenommen habe. Ich kann keinen Anspruch darauf erheben, irgendetwas von dieser Welt oder diesen Menschen zu wissen, ob meine Leute Könige oder Bettler waren. Ich bewundere diejenigen, die sich wie Venture Smith schon als Fünfjährige die Stämme ihrer Vorfahren, deren Namen und die Geschicke ihrer Familien in den Verwerfungen, Gräben und Abgründen des Sklavenhandels merken können. Ich kann Ihnen sagen, dass ich ein Mann bin, der sich über seine Welt im Klaren ist, ein Mann, der eine Familie hat, der seine Familie liebt, der seiner Familie entrissen wurde, ein Mann, der lesen und schreiben kann, ein Mann, der seine Geschichte nicht bloß selbst berichten, sondern selbst aufschreiben wird. Mit meinem Bleistift schreibe ich mich ins Dasein. (Seite 101)

Der sanfte und gebildete James legt die Bigotterie und Morallosigkeit der Weissen gnadenlos offen. Der einzige, der Menschlichkeit beweist in dieser Geschichte, ist der Sklave, der von den Weissen als Besitz verachtet und verhöhnt wird. Wir ballen beim Lesen die Fäuste und verstehen die grenzenlose Enttäuschung und die Wut, die sich in James aufbaut. Widerwillig wird er zum Freiheitskämpfer. Percival Everett gelingt es so, das amerikanische Nationalepos umzustülpen und aus Huckleberry Finn das Freiheits-Epos des Sklaven James zu machen. Dabei schafft Everett das Kunststück, die ursprüngliche Erzählung von Mark Twain nicht zu verunglimpfen.

Den zentralen Satz schreibt James in sein Notizbuch: Mit meinem Bleistift schreibe ich mich ins Dasein. Indem Percival Everett dem Sklaven James auf liebevolle Weise eine Stimme gibt, schreibt er ihn ins Dasein. Die Geschichte macht den Sklaven zum Menschen. Mich hat dieses Buch gepackt und nicht mehr losgelassen.

Percival Everett: James. Übersetzt von Nikolas Stingl. Hanser, 336 Seiten, 36.9 Franken; ISBN 978-3-446-27948-3
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/VnUnZpNWD6g
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/james/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279483

(2) «Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean

«James» von Percival Everett ist ein gutes Beispiel dafür, wie Literatur es schafft, dass wir uns über Zeit, Raum und grosse gesellschaftliche Distanz hinweg mit einem Menschen verbinden können, der in einer ganz anderen Welt lebt. Bei allem Mitgefühl bleibt uns die Welt dabei fremd. Beim neuen Buch des Schweizer Schriftstellers Martin R. Dean ist das anders: Sein Ausgangspunkt ist unsere Welt hier, der mitteleuropäische Mittelstand. Martin R. Dean ist 1955 in Menziken im Kanton Aargau geboren, das ist ziemlich genau in der Mitte zwischen Aarau und Luzern und damit ziemlich genau in der Mitte des Schweizer Mittellands. Er ging im Kanton Aargau zur Schule und hat in Basel und Zürich studiert. So weit, so normal. In einem Punkt hat er sich aber von seinen Mitschülern unterschieden: Er war (und ist), wie er selber sagt kaffeebraun. Der Vater von Martin R. Dean stammt aus Trinidad, der grössten Insel der Kleinen Antillen im karibischen Meer, nur wenige Meilen vor der Küste von Venezuela. Deans Vater war ein Nachfahre indischstämmiger Kontraktarbeiter, die auf den Plantagen der Insel in der Karibik geschuftet hatten.

Ein grösserer Gegensatz ist kaum denkbar. Hier das betuliche Bauerndorf Menziken im Kanton Aargau, da die in jeder Beziehung farbige Insel Trinidad. Nichts verbindet das Dorf im Aargau mit der Karibikinsel. In der Person von Martin R. Dean sind die Gegensätze Menziken und Trinidad vereint: Seine Mutter aus dem Aargauer Dorf hatte in London einen jungen Mann aus Trinidad kennengelernt und war ihm gefolgt. Das Mädchen aus dem Aargau suchte sein Glück auf einer tropischen Insel.

Doch die Beziehung hält kaum ein Jahr. Als sie zwanzig ist, flüchtet seine Mutter mit Martin auf dem Arm aus dem Haus in Port of Spain, um ihn vor seinem Vater zu schützen. Der ist wieder betrunken nach Hause gekommen, sie haben sich gestritten, er hat sie geschlagen. Danach hat er versucht, seine

Zigarette auf der Haut des Kindes auszudrücken. Nur mit einem Nachthemd bekleidet flüchtet das Mädchen aus dem Aargau auf die Strasse. Zufällig fährt in diesem Moment Isa Wright im Jeep vorbei, eine Isländerin, die eine grosse Plantage verwaltet. Sie nimmt Martins Mutter mit. So arbeitet Martins Mutter eine Weile als Sekretärin für die Kaffee- und Kakaoplantagenbesitzerin. Nach vier Jahren auf Trinidad kehrt die Mutter mit dem Kind und ihrem zweiten Mann, einem Arzt, zurück ins Dorf im Kanton Aargau.

Sie verlor nie mehr ein Wort über die Zeit und den dunklen Mann auf der tropischen Insel. Seine Familie habe die frühen Jahre seiner Mutter auf Trinidad verdrängt, sagt Dean. Und mit ihnen den ersten Teil seines Lebens – und ein Teil seiner Identität. Nach dem Tod seiner Mutter streitet die Verwandtschaft um das nicht unbeträchtliche Erbe der Mutter. Dean geht dabei weitgehend leer aus. Ihm bleibt nur ein Fotoalbum, ein rot eingebundenes Album aus den fünfziger Jahren. Als er darin blättert, trifft es ihn wie ein Blitzschlag: Es sind die Bilder aus seiner versunkenen Kindheit auf Trinidad. In seinem Buch erzählt er, wie er der Spur dieser Bilder nachgegangen ist, der Spur seiner Vorfahren, der geknechteten Arbeiter auf Trinidad.

Das Fotoalbum wird zum Schlüssel zu seiner Geschichte. Zu den ersten Jahren seines Lebens, aber auch zu seiner Herkunft väterlicherseits. Seinen indisch-trinidadischen Wurzeln. In seinem Buch erzählt Martin R. Dean präzise und packend, wie er sich auf den Weg macht nach Trinidad, um seine lange vergessenen Verwandten zu besuchen und die Leerstelle zu füllen, die da klafft, wo seine Mutter systematisch jede Erinnerung an seinen leiblichen Vater getilgt hatte. Schritt für Schritt findet er heraus, dass sein Leben von indischem Kastendenken, einer Familienfehde, unterschiedlichen Klassenzugehörigkeiten im vorletzten Jahrhundert und den Gesetzen einer britischen Kolonie beeinflusst war. Die Sache ist verzwickt und lässt sich nicht simpel durch die koloniale Brille lesen. Denn die Kultur, in der sein trinidadischer Vater aufgewachsen war, ist von Rassismus und Kastendünkel geprägt.

Wie eine Welle des Unheils, ausgelöst von vorangegangenen Generationen, die entwurzelt worden waren, kam die Gewalt des Kolonialismus in das Verhalten meines Vaters, der sie an meine Mutter weitergab. Seine Haltlosigkeit aber war nie die eines rohen Alkoholikers, eines Dummkopfs oder eines Verbrechers. Es war die Gewalt eines Menschen, der, als Teil einer ihrer Traditionen beraubten Gesellschaft, keine moralische Verankerung hatte. Seine Haltlosigkeit teilte er mit vielen Inselbewohnern. Sie war es, die ihn trieb, als er an jenem Abend betrunken nach Hause kam und seine brennende Zigarette auf mir ausdrücken wollte. (Seite 53)

Übrigens sind sich Menziken, der Ort im Kanton Aargau, und die tropische Insel doch nicht so fremd wie man meinen könnte. Martins Grosseltern arbeiten beide in einer Zigarrenfabrik im Aargau – die Grossmutter bei Weber & Söhne, der Grossvater bei der Konkurrenz Villiger Söhne. Beide rollten Tabakblätter zu Zigarren. Diese Blätter, die seine Grosseltern zu Zigarren rollten, stammten, wie der Zucker und der Kakao in der Schweizer Schokolade aus tropischen Kolonien. Das kleine Dorf im Aargau ist also eng verbunden mit den Tropen, über die seine Familie so innig schwieg. Es wirkt deshalb geradezu grotesk, wie die Bürger im Dorf sich gegen das Fremde wehren, das die italienischen Gastarbeiter oder geflüchtete Deutsche ins Dorf tragen, selbst aber mit einer noch viel weiter entfernten Fremde verknüpft und verbunden sind. Kein Wunder verdrängen sie und verdrängt die Familie von Martin R. Dean die Erinnerung an die Sklaveninsel in den Tropen.

Wie er Schicht für Schicht die Vergangenheit aufdeckt, den Menschen auf den verschwommenen Schwarzweiss-Bildern im Fotoalbum seiner Mutter Namen gibt und ihren Geschichten nachspürt, das ist wunderbar präzise erzählt und eine wirklich spannende Geschichte. Zu einer universellen Geschichte wird das Buch, weil Martin R. Dean es nicht als Autobiografie erzählt, sondern als Reportage auf der Suche nach der eigenen Geschichte. Wir alle stammen aus einem Land, das wir nicht kennen. Einem Land in der Vergangenheit, das uns nur über vergilbte Fotos und zurecht gebogene Geschichten zugänglich ist. Wir alle gehen den schönfärberischen Erzählungen (und dem Schweigen) unserer Eltern auf den Leim. Wer wissen will, wer er ist und woher er kommt, muss seine eigene Reise nach Trinidad antreten und versuchen, den Menschen auf den Fotos in seinem Fotoalbum Namen und Geschichten zu geben. Das macht die spannende Geschichte von Martin R. Dean universell und das Buch über die kolonialen und historischen Bezüge hinaus unbedingt lesenswert.

Martin R. Dean: Tabak und Schokolade. Atlantis, 208 Seiten, 30 Franken; ISBN 978-3-7152-5039-7
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Text: https://www.mattahiaszehnder.ch/video-buchtipp/tabak-und-schokolade/
Video: https://youtu.be/Dnb1S9oWmKc
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783715250397

(3) «Die Abschaffung des Todes» von Andreas Eschbach

Percival Everett und Martin R. Dean ermöglichen uns beide eine neue Perspektive auf die Geschichte der Sklaverei, des Kolonialismus und der Ausbeutung. Bei meinem dritten Buchtipp für neue Blickwinkel geht es um etwas völlig anderes: Andreas Eschbach erzählt in seinem Thriller von der Abschaffung des Todes mit Hilfe der Digitalisierung des Gehirns. Das klingt zunächst etwas seltsam, ist aber gar nicht so weit hergeholt. Die Nervenzellen im Gehirn sind ständig miteinander in Kontakt. Sie nutzen dafür chemische Neurotransmitter und elektrische Signale. Diese Signale lassen sich messen und abgreifen. Genau das versucht die von Elon Musk gegründete Firma Neuralink: Sie will es mit Hilfe einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer ermöglichen, Informationen direkt aus dem Gehirn zu senden und zu empfangen. Das könnte es ermöglichen, Prothesen und andere Geräte durch Gedanken zu steuern. Elon Musk sagt auch, er wolle das menschliche Bewusstsein erweitern und eine Symbiose mit künstlicher Intelligenz schaffen. Elon Musik sieht darin den nächsten Schritt in der menschlichen Evolution. Andreas Eschbach geht in seinem neuen Roman noch einen Schritt weiter: In seiner Geschichte entwickeln Wissenschaftler eine Möglichkeit, Neuronen elektronisch nachzubilden. Theoretisch sollte das möglich sein – und es lässt sich mit der Zeit auch so skalieren, dass sich das ganze Gehirn in einem Computer nachbauen lässt. Wenn man jetzt eine Schnittstelle wie die von Neuralink an ein Gehirn anlegt, sollte es möglich sein, den Inhalt eines Gehirns digital in einen Computer zu transferieren. Und das bedeutet, dass sich das menschliche Bewusstsein von seinem sterblichen Körper trennen und unsterblich machen lässt.

Die Hauptfigur der Geschichte von Andreas Eschbach ist James Henry Windover. Er ist Journalist, Unternehmer und Herausgeber von The Windover View, einer höchst exklusiven Tageszeitung, die jeden Tag elektronisch auf speziell eingerichteten Tablet-Computern erscheint. Die Zeitung hat nur gerade 49 Abonnenten, die zahlen aber jeweils eine Million Euro im Jahr für The Windover View. Die Zeitung bietet, was man sonst nirgendwo bekommt: einen nüchternen, leidenschaftslosen und einzigartig präzisen Überblick über den Zustand der Welt. Chefredaktor James Henry Windover übernimmt im Roman von Andreas Eschbach die Rolle des unwissenden Helden, durch dessen Augen wir Leser in die Geschichte eintauchen. Wie jeder rechte Held erhält auch James Windover zu Beginn der Geschichte einen Auftrag. Die britische Milliardärin Anahit Kevorkian will wissen, was hinter einer Firma namens Youvatar steckt.

Youvatar ist eine clevere Erfindung von Andreas Eschbach. Hinter Youvatar verbergen sich drei Gründer: Young, Watson und Arnesen. Natürlich sind Firma und Namen fiktiv, die Anklänge an reale Figuren sind aber sehr deutlich. Paul Young ist Investor im Silicon Valley. Eschbach hat ihn nach Peter Thiel geformt, dem deutsch-amerikanischen Investor, der ebenso bekannt wie umstritten als libertärer Unterstützer von Donald Trump und als Gründer von Palantir. Dieser nach Peter Thiel modellierte Paul Young ist der Angel-Investor von Youvatar. Watson und  Arnesen sind die beiden wissenschaftlichen Köpfe. Arnesen ist ein genialer Nano-Wissenschaftler, Watson ist Genetikerin. Young, Watson und  Arnesen haben also Youvatar gegründet. Was die Firma vorhat, bleibt zunächst ein Geheimnis. Klar ist nur, dass sie Milliardäre auf der ganzen Welt zu einer Präsentation ins Silicon Valley eingeladen hat.

Beim Projekt geht es, das verrät schon der Titel des Buchs, um die «Abschaffung des Todes». Young, Watson und Arnesen wollen dafür aber nicht den menschlichen Körper unsterblich machen, sie wollen ihn unnötig machen, indem sie das Gehirn samt aller Erinnerungen, der Persönlichkeit und der kognitiven Prozesse, also inklusive Bewusstsein, auf einen Computer übertragen. Dieses «Mind Uploading» ist keine Erfindung von Eschbach, das ist eine umstrittene Idee aus der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Künstlicher Intelligenz und Informatik.

Die Grundidee ist einfach: Wenn es möglich ist, das Gehirn und seine Funktionsweise komplett abzubilden und die neuronalen Strukturen und Prozesse digital zu emulieren, dann sollte es möglich sein, ein funktionierendes Gehirn auf einen Computer zu übertragen. Wenn es gelingen würde, eine exakte Kopie des Gehirns mit einem Upload auf einen Computer zu befördern und jede Synapse, jeden Neuronenkreis und jede neuronale Aktivität exakt zu simulieren, dann sollte auf einer physikalischen Ebene kein Unterschied mehr bestehen zwischen dem realen Gehirn und der Kopie im Rechner. Das Gehirn könnte dann in der virtuellen Umgebung weiter «leben» – es wäre unsterblich. Der Tod wäre abgeschafft. Allerdings sind die technologischen Herausforderungen riesig, deshalb bittet die Firma Youvatar so viele Milliardäre nach Kalifornien.

Der Roman von Andreas Eschbach dreht sich aber nicht nur um diese technische Ebene, sondern auch um die grosse Frage, die damit verbunden ist. Es ist eines der grössten Rätsel der Gegenwart. Es ist die Frage nach dem Bewusstsein. Selbst wenn es möglich wäre, den Inhalt des Gehirns tatsächlich auf einen Computer zu übertragen, ist nämlich alles andere als sicher, ob diese neuronalen Strukturen wirklich das Bewusstsein mit einschliessen. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, was das Bewusstsein, was dieses Ich in unserem Kopf ist.

Das ist, gelinde gesagt, eine schwierige Frage. Neurologie und Computerwissenschaften haben zwar grosse Fortschritte darin gemacht, das Gehirn zu verstehen, es bleibt aber beim Verständnis für die «Hardware». Was das Bewusstsein ist, das bleibt rätselhaft. Es ist also klar, was passiert, wenn ich mich zum Beispiel in den Finger schneide und die Nerven «Schmerz» ans Hirn leiten. Es ist aber nach wie vor unklar, was es heisst, diesen Schmerz zu erleben, was das Gefühl von Schmerz ausmacht und vor allem, wie dieses «Ich» entsteht, das den Schmerz erlebt.

Vollends unklar ist, ob es, die technische Machbarkeit einmal vorausgesetzt, gelingen könnte, dieses «Ich» auf einen Computer zu übertragen. Und was dann passiert. Würde das «Ich», also dieses Bewusstsein, es bemerken, dass es nicht mehr in einem Kopf sondern in einem Prozessor steckt? Könnte man die Daten kopieren – und damit ein Bewusstsein duplizieren?

In seinem Roman erläutert Andreas Eschbach das Problem des Bewusstseins anhand einer Geschichte, die ein Schriftsteller namens Ferdurci dem recherchierenden James Windover erzählt:

«Als Kind», sagte Ferdurci schließlich, «wollte ich verstehen, wie das mit dem Sehen funktioniert. Ich habe in der Bücherei ein Buch gefunden, in dem es erklärt wurde: dass die Augen wie Kameras gebaut sind, dass die Linsen darin elastisch sind und sich von den Muskeln darum herum auf verschiedene Entfernungen scharf stellen lassen, dass sie ein umgekehrtes Bild auf die Netzhaut werfen, die aus Stäbchen und Zäpfchen besteht, die jeweils einen Lichtpunkt wahrnehmen, so ähnlich, wie das bei einem Fernsehapparat ist. Dass wir einen blinden Fleck an der Stelle haben, an der alle Nervenfasern des Auges zusammenlaufen und zum Sehnerv werden, der ins Gehirn geht … » Er hob die freie Hand in einer Geste der Enttäuschung. «Bloß, wie es dann weiterging, das stand da nicht mehr. Das Buch erklärte, wie die Augen funktionieren, aber nicht, wie das Sehen funktioniert.»
Ich nickte nur. So ähnlich war es mir auch ergangen. Womöglich hatten wir dasselbe Buch gelesen.
«Eine Weile hatte ich die Vorstellung, es gebe im Gehirn eine Art Fernsehapparat, der das Bild zeigt, das die Augen sehen, und dass jemand davorsitzt und es betrachtet. Aber dann wurde mir klar, dass ich damit die Frage nur verlagert hatte, denn wie das Sehen bei diesem Jemand funktionierte, wusste ich dadurch ja immer noch nicht.» Er stellte seine Kaffeetasse ab. «Ich glaube, das war der Moment, in dem ich der Philosophie verfallen bin.»
«Die Neurologie», fuhr er fort, »verlagert die Frage im Grunde genauso. Sie sagt, es gebe im Gehirn ein Sehzentrum, das die Signale, die von den Augen kommen, verarbeitet. Aber wie geht das vor sich? Bis dahin haben wir eine Kette von, sagen wir, im Grunde mechanischen Vorgängen. Auch wenn sie größtenteils chemischer Natur sind. Licht fällt auf eine Sinneszelle im Auge – die Sinneszelle gibt ein Signal ab. Das Signal kommt an einem Neuron an – das gibt, vielleicht, auch ein Signal weiter. Und immer so fort. Eine Kette von einander mechanisch auslösenden Vorgängen, wie eine Kette von Dominosteinen. Doch wo in dieser Kette ist der Punkt, an dem die bloße Verarbeitung von Signalen umschlägt in Bewusstwerdung? An welcher Stelle passiert es, dass da jemand ist, der sieht? Das weiß niemand. Das ist die große, ungelöste Frage. Die Hirnforscher sagen einfach, na ja, irgendwo im Gehirn muss es passieren, wo denn sonst? Unübersichtlich genug ist es ja weiß Gott, dass sich diese Stelle darin verstecken kann.» (Seite 495 f.)

Das ist ein wunderbares Bild für eine der grössten Fragen der Philosophie: Wer sitzt in unserem Gehirn an diesem Fernsehapparat und verwandelt die Signale der Augen in Sehen? Wer ist dieses Ich, das sieht – und wie kommt es zustande? Und was würde es für unser Leben verändern, wenn es möglich wäre, dieses Bewusstsein auf einen Computer zu lade? Andreas Eschbach ist es gelungen, diese Frage in eine spannende Story zu verpacken und auch Leserinnen und Leser zum Denken zu bringen, die sich noch nie damit beschäftigt haben.

Andreas Eschbach: Die Abschaffung des Todes. Die Unsterblichkeit ist nur ein paar Milliarden Dollar entfernt. Bastei Lübbe, 656 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-7577-0051-5
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-abschaffung-des-todes/
Video: https://youtu.be/fVs7TFktrwo
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783757700515

(4) «Martha und die Ihren» von Lukas Hartmann

Die Fragen, die Andreas Eschbach in seinem Roman stellt, beschäftigt heute Philosophie und Kognitionswissenschaften. Für Menschen, die um ihr Leben kämpfen und schuften müssen, ist die Frage wohl absurd. Sie haben ganz andere Probleme. Davon erzählt der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann in seinem Roman «Martha und die Ihren». Es ist die Geschichte seiner Grossmutter Martha. Sie war ein so genanntes Verdingkind. Weil ihre Eltern verarmten und nicht mehr für die Kinder sorgen konnten, wurden die Kinder den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich angeboten. Diese Verdingkinder mussten auf Bauernhöfen schuften wie Sklaven – und das waren sie auch: Sie hatten keine Rechte, wurden ausgenutzt und oft missbraucht. Lukas Hartmann erzählt in seinem Roman die Geschichte von Martha weniger als Leidensgeschichte, denn als Geschichte eines Kampfs. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich mit eisernem Willen und gegen alle Wahrscheinlichkeit aus der Verdingung hochgearbeitet hat. Es ist aber keine simple Tellerwäscher-Geschichte. Lukas Hartmann zeigt, dass Martha einen ungeheuren Preis für den sozialen Aufstieg zahlen musste. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Söhne und sogar ihre Enkel.

Denn Martha lernt auf den Höfen, auf denen sie aufwächst und schuftet, dass sie sich durchbeissen muss. Mit Fleiss und Durchhaltewillen, das trichtert ihr die Pflegemutter ein, kann sie viel gewinnen, auch wenn sie nur ein Verdingkind ist. Als Mahnung steht ihr das Bild der verarmten Mutter vor Augen. Ein Lichtblick ist die Schule. Martha ist intelligent und lernt schnell. Der Lehrer fördert sie. Als sie sechzehn Jahre alt ist, vermittelt er ihr eine Stelle in einer Fabrik in der Stadt. Obwohl sie bei evangelikalen Bauern aufwächst, verlässt sich Martha im Zweifelsfall lieber nicht auf den lieben Gott, sondern auf ihren eisernen Willen. Tief eingegraben hat sich ihr, dass arm zu sein die grösste Schmach ist, in die man geraten kann.

Martha arbeitet sich langsam hoch. Sie heiratet einen Schuhmacher, als der krank wird, erledigt sie heimlich seine Arbeit. Sie will die Schande der Armut von der Familie abwenden. Die beiden haben zwei Söhne, Toni und Peter. Toni ist der Vater von Lukas Hartmann. In Wirklichkeit heisst er anders. Nach dem frühen Tod des Schuhmachers steht die kleine Familie wieder vor dem Nichts. Martha kämpft, Martha schuftet – und sie heiratet bald wieder. Diesmal ist es ein Milchhändler.

Diese aus Vernunft geschlossene Ehe bestand aus Arbeit und aus Absprachen, wofür sie wie viel vom Reingewinn ausgeben sollten. Die Milch beherrschte Marthas Leben wie vormals die Strickmaschine, die Pflege der Kinder und die Schuhe. Es waren andere Handgriffe, andere Gerüche, andere Leute, besser gestellte. Die Frauen aus den Mietwohnungen, die sie mit Milch belieferte, hatten oft toupierte Haare und rochen nach neuartigem Shampoo, das entging Martha nicht. (114)

Nicht nur ihre Ehe, Marthas ganzes Leben besteht aus Arbeit. Aus Arbeit und aus Angst vor Armut. Und aus ihren Pflichten. Pausen kennt sie nicht, sie hat nie gelernt, sich auszuruhen. Wenn die Pflichten fehlen, wird Martha unruhig, ja unzufrieden. Martha arbeitet, bis ihre Gesundheit ruiniert ist. Sie kommt in ein Pflegeheim und fühlt sich dabei nutzlos und abgeschoben. Bloss Enkel Bastian, das Alter Ego von Lukas Hartmann, besucht sie regelmässig und bringt sie mit der Zeit dazu von sich zu erzählen. Lukas Hartmann schreibt, dass sie merkwürdig sachlich erzählt, ohne Anklage, einfach als etwas, das sie damals durchlebt hat. Und genau so ist das Buch geschrieben: sachlich, ohne Anklage, einfach als etwas, das geschehen ist. Diese Sachlichkeit ist das künstlerische Mittel, mit dem Lukas Hartmann die Strenge, die Kraft und den Willen seiner Grossmutter darstellt. Er zeigt dabei auch, wie sich der Drang nach Sicherheit, die Angst vor Scham und Verarmung, übertragen auf die folgenden Generationen. Nur ja keine Schwäche zeigen. Sich auf das Nützliche konzentrieren. Spuren davon sind bis heute in der ganzen Schweiz vorhanden, weil sich die Vorfahren vieler Schweizer Familien hochgearbeitet haben aus bitterer Armut und ihren Nachkommen jenen eisernen Willen mitgegeben haben, durch Arbeit und Fleiss aufzusteigen, die Zeit nicht mit Unnützem zu verplempern, Geld zu verdienen – und zu sparen.

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren. Roman. Diogenes, 304 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07273-0
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/s4NoIUFj4wo
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/martha-und-die-ihren/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072730

(5) «Umlaufbahnen» von Samantha Harvey

Zum Schluss heben wir ab. Und zwar so richtig: Mit ihrem neuen Roman «Umlaufbahnen» ermöglicht es uns Samantha Harvey, die Perspektive von Astronautinnen und Astronauten einzunehmen, die von der Internationalen Raumstation ISS aus auf die Erde schauen. Ich habe das Buch erst diese Woche empfohlen, es war mein letzter Buchtipp des Jahres 2024. Trotzdem möchte ich es Ihnen hier noch einmal ans Herz legen.

Die International Space Station umkreist die Erde in etwa 400 Kilometer Höhe mit einer Geschwindigkeit von etwa 28’000 Kilometern pro Stunde. Für eine Umrundung der Erde benötigt die ISS 90 Minuten. Das ergibt 16 Umrundungen pro 24 Stunden. Wenn man die Umlaufbahn der ISS nachzeichnet, ergibt sich kein geschlossener Kreis: Die Bahn verschiebt sich mit jeder Umrundung, weil sie zum Äquator um etwa 50 Grad geneigt ist. So überfliegt die Raumstation im Laufe der Zeit fast alle Regionen der Welt. Diese Umlaufbahnen sind Titel und Thema des neuen Romans von Samantha Harvey: In präzisen und poetischen Worten schildert sie, wie sechs Astronautinnen und Astronauten auf der Raumstation einen Tag erleben. Ausgehend von kleinen, alltäglichen Arbeiten und Problemen in der Schwerelosigkeit verhandelt sie dabei die ganz grossen Fragen der Gegenwart und führt uns vor Augen, wie sie sich aus der Perspektive der Raumstation ganz neu stellen.

Sehnsüchtig blicken die Astronauten durch die Panoramafenster auf die kleine, verletzliche Erde. Es ist kein neutraler Blick, kein Blick eines Roboters, sondern der Blick eines Kindes auf seine Mutter: ein Blick voller Liebe. Noch intensiver wird der Blick, wenn die Astronauten ihr Raumschiff verlassen, weil sie an der Aussenhülle zu arbeiten haben. Wenn sie im Raumanzug über der Raumstation schweben und vierhundert Kilometer unter sich die Erde sehen. Nichts dazwischen. Nur Raum – und ganz unten etwas Luft. Dann scheint ihnen die Erde wie aus Licht gemacht. Etwas, durch das sie hindurchgleiten könnten. Die Erde erscheint ihnen überirdisch. Sie blicken auf das Raumschiff, ihr Zuhause, und auf diese überirdisch schöne blaue Kugel.

Während ihrer Ausbildung hat man sie vor dem Problem der Dissonanz gewarnt. Davor, was es mit ihnen machen würde, wieder und wieder dem Anblick dieser nahtlosen Welt ausgesetzt zu sein. Ihr werdet ihre Fülle sehen, hat man ihnen gesagt, die Abwesenheit von Grenzen, außer jenen zwischen Land und Wasser. Ihr werdet keine Nationen sehen, nur einen dahinrollenden, unteilbaren Globus, der keine Möglichkeit der Trennung kennt, geschweige denn Krieg. Und ihr werdet widersprüchliche Dinge empfinden. Freudige Erregung, Anspannung, Begeisterung, Traurigkeit, Zärtlichkeit, Wut, Hoffnung, Verzweiflung. Denn natürlich wisst ihr, dass die Kriege zahlreich sind und dass Menschen für Grenzen töten und sterben. Von hier oben betrachtet gibt es vielleicht eine kleine, weit entfernte Unebenheit im Land, die auf ein Gebirge hindeutet, eine Ader lässt einen großen Fluss erahnen, aber das ist auch schon alles. Es gibt keine Mauern oder Schranken – keine Völker, keinen Krieg, keine Korruption oder irgendeinen anderen Grund zur Angst.
Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen. Dieses wundersame und auf bizarre Weise hübsche Ding. Das, in Ermangelung besserer Alternativen, so unverkennbar zu ihrem Zuhause geworden ist. Ein grenzenloser Ort, ein schwebendes Juwel, schockierend hell. Kann die Menschheit nicht in Frieden miteinander leben? Im Einklang mit der Erde? Das ist kein frommer Wunsch, vielmehr eine gereizte Forderung. Können wir nicht aufhören, die eine Sache, von der unser aller Leben abhängt, zu tyrannisieren und zu zerstören, zu plündern und zu vergeuden? Und doch hören sie die Nachrichten, sie leben ihr Leben, und nur weil sie Hoffnung haben, sind sie noch lange nicht naiv. Was tun sie also? Welche Maßnahmen sollen sie ergreifen? Und wozu sind Worte schon gut? Sie sind Menschen mit einem göttlichen Ausblick, und das ist Segen und Fluch zugleich. (Seite 119f)

Das ist das Kunstvoll-wunderbare am Buch von Samantha Harvey: Sie ermöglicht uns dank vieler ganz präzis geschilderter Alltagsdetails den Wechsel der Perspektive. Wir können mit ihr von Aussen auf die Erde schauen, unseren kleinen blauen Planeten. Sie schildert zum Beispiel, wie die Astronauten einen Taifun beobachten, ausmessen, fotografieren und sich darüber mit Meteorologen austauschen. Wie sie, unberührt vom riesigen Sturm, zuschauen müssen, wie der Taifun immer grösser wird. Wie sie immer wieder auf diesen wunderbaren Planeten schauen, die Berge und die Wüsten, die Küstenlinien, die Städte. Diese präzise Schilderung dies im wörtlichen Sinn überirdischen Perspektive auf unseren Planeten verändert den Blick auf unseren Alltag hier, auf all die Grenzen und das kleinliche Gezänk, auf all das, was aus der Sicht der Raumstation einfach verschwindet. Weil wir eine andere Perspektive einnehmen. Das ist es, was dieses Buch so wunderbar macht. Das, und die ebenso poetische wie detailgetreue Schilderung des Alltags auf der Raumstation.

Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, 224 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-423-28423-3
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/umlaufbahnen/
Video: https://youtu.be/G_nTSmhW8_U
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423284233

So. Das waren Sie, meine fünf Buchtipps, mit denen Sie völlig neue Perspektiven einnehmen und so zum Nachdenken über die Welt kommen können:

  1. «James» von Percival Everett, die Neuerzählung von Huckleberry Finn aus der Perspektive des Sklaven ;
  2. «Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean, die Geschichte der Suche nach der eigenen Geschichte, kunstvoll verbunden mit anderen Perspektiven auf den Kolonialismus;
  3. «Die Abschaffung des Todes» von Andreas Eschbach über den Versuch, das Gehirn in einen Computer zu laden und die Frage, ob das Bewusstsein dadurch Unsterblichkeit erlangt;
  4. «Martha und die Ihren» von Lukas Hartmann über die Perspektive eines Verdingkinds, seiner eigenen Grossmutter, die sich mit eisernem Willen hocharbeitet in der Gesellschaft und
  5. «Umlaufbahnen» von Samantha Harvey über die Perspektive der Astronauten auf der ISS auf die Erde und was es verändert, wenn man den Planeten von Aussen betrachtet.

Jetzt wünsche ich Ihnen alles Gute für das neue Jahr. Wenn Sie mögen, begleite ich Sie weiterhin mit Buchtipps und Kommentaren, die Ihnen kleine Anstösse zum Selberdenken geben sollen.

Basel 27. Dezember 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: NASA
Blick am 5. Juli 2020 aus der International Space Station ISS auf die Erde zum Zeitpunkt des Sonnenaufgangs; links im Bild ist der Komet NEOWISE zu sehen.

Rights, P., Bal, P., & Veltkamp, M. (2013). How Does Fiction Reading Influence Empathy? An Experimental Investigation on the Role of Emotional Transportation. PLoS ONE, 8. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0055341.

Collins, K., Zweber, A., & Irwin, A. (2017). Impact of a fictional reading intervention on empathy development in student pharmacists. Currents in pharmacy teaching & learning, 9 3, 498-503 . https://doi.org/10.1016/j.cptl.2016.12.003.

Johnson, D. (2012). Transportation into a story increases empathy, prosocial behavior, and perceptual bias toward fearful expressions. Personality and Individual Differences, 52, 150-155. https://doi.org/10.1016/J.PAID.2011.10.005.

Bohan, J., & Filik, R. (2018). Perspective Effects During Reading: Evidence from Text Change-Detection. Discourse Processes, 55, 113 – 122. https://doi.org/10.1080/0163853X.2017.1330020.

Ein Kommentar zu "Die fünf besten Bücher für neue Perspektiven"

  1. Den 31. 12. haben wir heut. Am Jahresende gebührt ein Dank an M. Zehnder. Ohne seine Seite, seinen Wochenkommentar würde vielen etwas fehlen. Es ist eine Leistung. Nicht immer einfach. Aber geschätzt, vielgeachtet und weit anerkannt. Zu recht.
    Zuversichtlich wünscht man sich, es gehe auch im nächsten Jahr so weiter. Muss nicht besser werden, aber auch nicht schlechter. „Schönes bleibt“ – nicht nur der Slogan vom Radiosender WDR4 – es trifft hoffentlich auch auf den Wochenkommentar zu. Identisch ist es mit der Buchwelt.
    Sie bleibt, und wir können dazu beitragen, dass wir lesen.
    Denn Lesen ist das, so fiel mir auf, was heute unter „Verschlagwortung“ auf der Seite aufgeführt ist: ….Blickwinkel, Bücher, Denken, Lesen, Perspektive…. Auch da: Besser kann man es nicht aussagen…
    Ich hoffe für alle (und auch für mich) inständig, dass das 2025 ruhig, sicher, friedlich, gesund, prosperierend sowie lebenswert (…und…wir sind hier ja auf M.Zehnder’s Seite=lesenswert) wird. Für alle. Ich persönlich habe mehr Hoffnung als zu beginn von 2024… Bücher gibts genug, und Inspiration und Anregungen gibts hier – was will man mehr? LeBen und LeSen Sie, denn das ist nie verkehrt…

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