Truman Capote und das mitfühlende Schreiben
Fast genau vor 100 Jahren ist im Süden der USA Truman Capote zur Welt gekommen. Wenn Sie ihn vor allem als Autor von «Frühstück bei Tiffany» kennen und Ihnen dabei Audrey Hepburn als Holly Golightly in den Sinn kommt, liegen Sie zwar richtig, Sie sind aber trotzdem auf der falschen Spur. Truman Capote konnte sich nie mit dem Film anfreunden. Capote hatte eine gesellschaftskritische Geschichte über ein Mädchen geschrieben, das sich in der Grossstadt verliert. Hollywood hatte daraus einen liebenswerten Film gemacht und der Story erst noch ein Happy End verpasst. Truman Capote hasste den Film. Er selbst stand für das Gegenteil einer seichten Hollywood-Geschichte. Er verband in seinem Schreiben akribische Recherche mit literarischem Erzählen. So entstand zum Beispiel «In Cold Blood», auf Deutsch «Kaltblütig», ein «nichtfiktionaler Roman». Später wurde dieser literarische Journalismus als «New Journalism» bezeichnet. Ich glaube, dass diese Art des Schreibens wieder wichtig werden wird. Gerade heute. Warum, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem Wochenkommentar über Truman Capote und das mitfühlende Schreiben.
Text und Informationen erhalten Sie heute auf Knopfdruck an jedem Computer. KI-Angebote wie ChatGPT, Perplexity, Google Gemini und andere füllen Ihnen den Bildschirm innert Sekunden mit Sprache. Grammatikalisch korrekt und in vielen Fällen sogar zutreffend. Zwar ist der künstlichen Intelligenz das Halluzinieren nicht abzugewöhnen, weil die KI keinen Zugang zur Bedeutungsebene hat und deshalb nicht weiss, was sie da sagt. Es ist aber immerhin etwas besser geworden. Selbst wenn alle Informationen korrekt wären, haben die Texte einen grossen Mangel: Da spricht niemand. Die grossen KI-Sprachmodelle sind letztlich nichts anderes als unglaublich leistungsfähige Papageien.
Wenn Sie wissen möchten, wie die letzten fünf Präsidenten der USA hiessen, wie man eine Focaccia zubereitet oder was gutes von schlechtem Cholesterin unterscheidet, ist das nicht allzu schlimm. Es sind Angaben, die Sie auch in einem Lexikon oder bei Wikipedia finden könnten. Aber wie ist es, wenn es um einen Menschen geht? Nehmen wir Marlon Brando. Wenn Sie das Internet fragen, finden Sie in Sekundenbruchteilen heraus, dass er von 1924 bis 2004 gelebt hat, und als einer der grössten und einflussreichsten Schauspieler des 20. Jahrhunderts gilt. Dass er zweimal einen Oscar in der Kategorie bester Hauptdarsteller erhielt, einmal 1955 für seine Rolle als Terry Malone in «On the Waterfront» und einmal 1973 für seine Titelrolle in «The Godfather». 1973 verweigerte er die Annahme des Oscars allerdings, weil er gegen den Umgang der Amerikaner mit der indigenen Bevölkerung protestieren wollte. Alles Fakten – die Frage ist: Helfen diese Fakten Ihnen, Marlon Brando zu verstehen?
«Der Fürst in seinem Reich»
Truman Capote hat Marlon Brando 1956 portraitiert. «The Duke in his Domain» heisst der Text, der zum ersten Mal im Magazin «New Yorker» veröffentlicht wurde. Auf Deutsch finden Sie ihn unter dem Titel «Der Fürst in seinem Reich». Capote besuchte Marlon Brando während der Dreharbeiten für den Film «Sayonara» in seinem Hotel in Kioto. Nach seiner Veröffentlichung sorgte der Text damals für Aufsehen, weil Capote Marlon Brando nicht als glamourösen Filmstar zeigte, sondern als verletzlichen jungen Mann. In «Truboy», ihrem (übrigens sehr empfehlenswerten) Buch über Truman Capote, schreibt Anushka Roshani: «Bis heute hat ‹Der Fürst in seinem Reich› die journalistische Latte für echte Nahaufnahmen von Prominenten gesetzt: Damit wurde es ein früher Vorläufer, ein Brandbeschleuniger für den New Journalism.» (Seite 38)
Marlon Brando selbst sah das übrigens anders. Er hatte offenbar den Eindruck, dass Capote sein Vertrauen missbraucht und ihn in einem ungünstigen Licht dargestellt habe. Im Vorwort von «Die Hunde bellen», der Buchausgabe seiner Reportagen und Portraits, schrieb Truman Capote 1973: «Nach meiner journalistischen Erfahrung hat sich noch jeder, über den ich geschrieben habe, falsch dargestellt gefühlt. Und falls einmal nicht, dann sorgten spätestens Freunde und Verwandte dafür, dass der Betreffende irgendwann doch etwas auszusetzen fand.»
Zugang zur Seele erschlichen
Am schlimmsten war es aber nach der Publikation des Portraits im «New Yorker» mit Marlon Brando. Capote erzählt: «Zwar konnte er in der Story selbst keine Fehler entdecken, argwöhnte jedoch eine grundsätzlich negative Tendenz, ja, beinahe etwas wie Verrat, so, als hätte ich mir den Zugang zu seiner ebenso leidenden wie hochintellektuellen Künstlerseele schnöde erschlichen. Was soll ich dazu sagen? Ich halte die Brando-Story für die zutreffende und nicht einmal unsympathische Beschreibung eines traumatisierten jungen Mannes, der zwar ein Genie ist, aber eben nicht übermässig intelligent.»
Ganz im Gegensatz zu Capote selbst: der war auch traumatisiert und ebenfalls ein Genie, aber er war hochintelligent. Bei einem Intelligenztest in der Grundschule erzielte Truman Capote einen IQ von 215 – er selbst sagte, das sei die höchste je gemessene Intelligenz eines Kindes in den USA. Truman ist ein Genie und er weiss es schon sehr früh. In seinen letzten zwei Lebensjahren traf sich Truman Capote mehrmals mit Lawrence Grobel. Eigentlich wollte Grobel nur ein Interview mit Capote führen, es wurden aber mehrere lange Gespräche daraus, die dann in Buchform erschienen. Titel: «Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie.» Er wusste es, sein Leben lang.
Welcher Dreck lässt sich am schwersten zu Gold machen?
Marlon Brando war genial als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera, aber nicht als Redner. Truman Capote interessierte sich, wie er selber sagt, vor allem aus literarischen Gründen für Marlon Brando. Er wollte mit seinem Porträt-Text seinen neuen Ansatz deutlich machen: «dass eine Reportage ebenso anspruchsvoll geschrieben sein kann wie jede andere Art Prosa, sei es Essay, Kurzgeschichte oder Roman.» 1956 war das ein Wagnis. Truman Capote schreibt, er habe sich das wie folgt überlegt: «Was ist die niederste Stufe des Journalismus? Anders gefragt, welcher Dreck lässt sich am schwersten zu Gold machen? Antwort, ganz klar: Interviews mit Hollywood-Stars, dieses unerträgliche Promi-Gelaber, das man in Filmzeitschriften wie Silver Screen zu lesen kriegt. So etwas zur Kunst zu erheben, wäre eine echte Aufgabe.»
Truman Capote hatte sich Marlon Brando also schlicht als schwieriges Versuchskaninchen ausgesucht. Wie er bei der Entwicklung des Texts vorgegangen ist, beschreibt er präzise in «Die Hunde bellen». Sein Text besteht einerseits aus dem, was Marlon Brando im Gespräch mit Capote sagte, und aus den Beschreibungen des Settings, des Hotels in Japan, der Stimmung. Für das Interview konnte sich Capote auf sein Gedächtnis verlassen. Er war in der Lage, sich mehrere Stunden Gespräch wörtlich zu merken und konnte deshalb auf Hilfsmittel beim Interview verzichten. Er schreibt: «Ich glaube nämlich, dass Notizblock oder – Gott bewahre! – ein echtes Tonbandgerät eine extrem künstliche Stimmung erzeugen, die jede natürliche Beziehung zwischen den Interviewpartnern (dem nervösen Kolibri und dem Vogelfänger) zerstört.»
Seil und Eispickel für den Bergsteiger
Während der langen Stunden mit seinem «nuschelnden und ewig abschweifenden» «Kolibri» Marlon Brando habe es viel zu behalten gegeben, erzählt Vogelfänger Capote. Er habe am Morgen danach aber alles getreulich niedergeschrieben. Für das Drumherum brauchte er mehr Zeit: «Einen ganzen Monat dauerte es, bis der Verlauf des Abends seine endgültige Form gefunden hatte.» Capote schreibt, diese «Gestaltung jener gewissermassen ‹statischen› Textteile» sei sehr wichtig, «um den Charakter meiner Hauptfigur und die Stimmung, in der das Interview stattfand, herauszuarbeiten». Dieses erzählerische Gerüst habe «etwa dieselbe Funktion wie Seil und Eispickel für den Bergsteiger».
Das Porträt von Marlon Brando, das dabei entstanden ist, liest sich bis heute faszinierend. Es gibt einen tiefen Einblick in, ja: die Seele von Marlon Brando. Kein Wunder, war der damit nicht glücklich. Es ist etwas völlig anderes als die nackten Fakten von Wikipedia oder die von einer KI zusammengeschusterten Informationen über die Erfolge des Schauspielers. Aber warum? Im Vorwort zu «Die Hunde bellen» schreibt Truman Capote: «Alles in diesem Buch beruht auf Tatsachen, was nicht bedeutet, dass es sich immer um die reine Wahrheit handelt, aber zumindest um meine grösstmögliche, persönliche Annäherung an die Wahrheit. Kein Journalismus ist je ganz rein, selbst der Kamera gelingt kein ganz getreues Abbild der Realität.» Wenn es sich beim Porträt von Marlon Brando nicht um die «reine Wahrheit» handelt – was ist es dann?
An Gefühlen teilhaben
Ich würde sagen, es ist erlebte Wahrheit. Truman Capote macht uns sein Erleben von Marlon Brando zugänglich. Dieses Erleben beruht nicht auf Lexikondaten, Informationen und anderen Angaben, es beruht auf der Begegnung von Truman Capote mit Marlon Brando im Hotelzimmer in Kioto und wie er den jungen Filmstar empfunden hat. Truman Capote lässt uns also an seinen Gefühlen teilhaben. Das ist der springende Punkt dabei. Es ist kein rein rationaler, sachbezogener Zugang. Truman Capote ermöglicht es uns, seine Gefühle mitzuempfinden. Truman Capote ermöglicht uns Mitgefühl.
In «Truboy» schreibt Anuschka Roshani, dass sie erkannt habe dass «Schreiben und Lesen und Träumen sich auf den immer gleichen Vorgang besinnen: den des Übersetzens von Emotionen.» Sie habe kapiert, «dass Gefühle vom Unterbewusstsein in ein Geschehen übersetzt werden, in Handlung, und aus einer gefühlten Wahrheit Sprache wird. Beim Schreibenden, Lesenden, Träumenden eine Erinnerung wach wird, ein Abdruck der Vergangenheit – und der wiederum in etwas sehr Persönliches rückübersetzt wird. Wie verrückt, dass diese ‹synaptische Synchronisation› von Menschen unbewusst abläuft, die Imaginationen simultan und mühelos ineinandergreifen wie Zahnräder ein und desselben Organismus.» (Seite 279)
Das Übersetzen von Emotionen in Sprache
Um das geht es beim Schreiben von Truman Capote: um empfundene Wahrheit. Um das Übersetzen von Emotionen in Sprache, auf eine Art und Weise, die es uns ermöglicht, mitzufühlen. Das ist der grosse Unterschied zwischen einem KI-generierten Text, möge er noch so viele schöne Worte enthalten, und einem menschlichen, einem literarischen Text. Hinter der KI steckt ausgeklügelte Statistik, die in der Lage ist, eine komplexe Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Sprache anzuwenden und daraus Texte zu produzieren. Mit Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechung können wir uns aber nicht verbinden. Da schlägt das Herz ins Leere. Richtiges Schreiben setzt diese ‹synaptische Synchronisation› von Menschen in Gang, wie es Anuschka Roshani beschreibt.
«Kein Journalismus ist je ganz rein, selbst der Kamera gelingt kein ganz getreues Abbild der Realität.» schreibt Truman Capote. Jedes Foto ist ein Ausschnitt und beinhaltet eine Perspektive. Wir belügen uns selbst, wenn wir Informationen lupenreine Objektivität unterstellen. Jede Nachricht, jeder Artikel, jeder Text hat immer einen Absender und damit eine Perspektive auf das Geschehen – und das ist gut so. Wenn wir es uns bewusst sind. Persönlich geschriebene Texte wie die Reportagen von Truman Capote ermöglichen es uns, die Sprache wieder zu übersetzen in Empfindung und Erleben.
Ja, das ist subjektiv. Aber Sie wissen dabei, wer dahintersteht. Das ist der grosse Unterschied zu Texten die von der KI generiert werden. Da steht niemand dahinter, nur eine Rechenmaschine im Silicon Valley und ganz viel Statistik. Damit können Sie sich nicht verbinden und wenn sie es lesen wie Text von einem Menschen, verhalten Sie sich wie Ihre Katze, wenn die dem Leuchtpunkt Ihres Laserpointers hinterherrennt. Sie reagieren mit anderen Worten instinktiv auf Sprache, weil wir hinter Sprache immer einen Menschen vermuten. Die KI ist ein Papagei. Und Papageien bewundern Sie vielleicht für ihre Sprachfähigkeit, aber sie nehmen sie nicht ernst. Die Texte von Truman Capote sind völlig anders. Es sind Kunstwerke, die das wichtigste ermöglichen, was es unter Menschen gibt: Mitgefühl.
Base,l 20. September 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str
Der amerikanische Schriftsteller Truman Capote posiert, nur mit einem Handtuch bedeckt, vor einem Spiegel, aufgenommen im Jahr 1978.
Capote, Truman (2017): Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie. Zürich: Kein & Aber Verlag.
Capote, Truman (2024): Die Hunde bellen. Zürich: Kein & Aber Verlag.
Roshani, Anuschka (2024): Truboy. Mein Sommer mit Truman Capote. Zürich: Kein & Aber Verlag.
3 Kommentare zu "Truman Capote und das mitfühlende Schreiben"
Gefühle als Kraft
Mit und in den Füssen den Boden spüren.
Die Kraft der Erde durch den Körper strömen lassen.
Sich im und mit dem Rückgrat aufrichten.
Aufrecht und aufrichtig da sein.
Der Welt wie sie ist gewachsen sein und Stand halten.
Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Scham oder Freude: sie wahrnehmen, sich in sie einfühlen
und sie in das Leben integrieren.
Abstand halten oder nehmen:
von allem was nicht gut tut.
Was krank machen kann aus dem Kopf raus lassen:
und ihn für das Licht des Himmels frei und offen halten.
Möge ich von Herzen aus Liebe und mit Freude
in Frieden leben: mit mir und der Welt
wie wir sind und sein werden.
Menschen = Mitgefühl.
Viele? Weniger? Alle? Keiner? Wandel? Gepflegt? Gefördert? Abgewöhnt? Vergessen? Echt? Gespielt? Gegen Bezahlung? Freiwillig? Ehrlich? Aufgesetzt? Nutzniessend? Selbstlos? Steigend? Fallend? Antrainiert? Von Herz? Schulfach? Konträr dazu Vorgänge im Pausenhof? Manager? Karriere? Ellenbogen? Säuselnd? Predigend? Ausgrenzend? Im elitären Club? Oder überall?
Ich beobachte immer. Und weiss es nicht…
Anuschka Roshani schreibt: „Wie verrückt, dass diese ‹synaptische Synchronisation› von Menschen unbewusst abläuft, die Imaginationen simultan und mühelos ineinandergreifen wie Zahnräder ein und desselben Organismus“. Sie bezieht sich auf das geschrieben Wort. Noch unmittelbarer spielt diese Synchronisation in der direkten Begegnung; doch selbst dann bleibt die Tatsache, dass wir uns der Realität zwar annähern können, aber uns letztlich doch nur unsere eigene Projektion des Gegenübers bleibt. Das soll unser Mitgefühl nicht schmälern, aber uns zu Bescheidenheit in unseren Urteilen mahnen.
Die Grenzen der Künstlichen Intelligenz machen uns das Wunder menschlicher Kommunikation erst recht bewusst. Wie Matthias Zehnder betont, projizieren wir intuitiv einen Menschen hinter K.I. Wir gewöhnen uns daran, diesen Ersatz als normale Beziehung zu erfahren. Noch steckt Künstliche Intelligenz in den Kinderschuhen, doch bald wird sie auch Emotionen, und vielleicht sogar Bewusstsein, ‘nachplappern’ können. Nur indem wir unser eigenes Bewusstsein schärfen, werden wir unser menschliches Wesen, wie imperfekt es auch sein mag, bewahren und entwickeln können.