Dieselben Herzen
Wir fahren mit Strom, puzzeln mit Genen und halten Maschinen für intelligent. Wir haben bewiesen, dass es schwarze Löcher tatsächlich gibt, wir können Schafe und Affen klonen und fliegen mit wiederverwendbaren Raketen im Weltall herum. Noch nie wusste die Menschheit so viel wir wir Menschen des 21. Jahrhunderts. Und sind deswegen alle ein bisschen überzeugt, dass es Menschen wie uns noch nie gab auf der Welt. So schien es mir wenigstens.
Und dann besuchte ich das Museo Etrusco Guarnacci in Volterra. Das kleine Museum wurde 1761 und beherbergt die archäologische Sammlung von Mario Guarnacci (1707–1785). Darunter befinden sich über 600 etruskische Urnen. Die Gefässe aus Ton, Marmor und Alabaster stammen aus dem 7. bis 1. Jahrhundert vor Christus. Die Urnen sehen aus wie kleine Sarkophage. Sie sind etwa 70 Zentimeter breit, 30 Zentimeter tief und 40 Zentimeter hoch. Auf dem Deckel des kleinen Sarkophags ist der Verstorbene abgebildet, in liegender Position, wie bei einem römischen Festmahl. Auf der Frontseite der Urne ist ein Relief angebracht, das eine Szene von der Reise in die Unterwelt zeigt. Einige Urnen zeigen, wie der (oder die) Verstorbene sich verabschiedet, einige zeigen die Reise im Streitwagen in die Unterwelt, das Übersetzen auf einem Schiff, die Begegnung mit Seeungeheuern.
Besonders fasziniert hat mich die Darstellung der Verstorbenen auf der Urne. Es sind nicht etwa stilisierte Figuren, sondern lebensechte Gesichter, die ganz unterschiedliche Gefühle zeigen. Da ist ein offensichtlich erfolgreicher und arroganter Politiker ebenso zu sehen wie ein schwärmerischer Dichter, eine junge, schöne Frau, ein selbstzufriedener Fettsack, ein verhärmter, alter Mann. Sie drücken Gefühle aus, die wir heute genauso kennen und erleben: Liebe und Sehnsucht, Gier und Macht, Selbstzufriedenheit und Arroganz, Trauer und Melancholie.
Diese Gesichter haben mich nicht mehr losgelassen. Unbekannte etruskische Künstler haben sie vor gut 2200 Jahren in Marmor gehauen, in Alabaster geschnitten und mit Terrakotta modelliert. Die Menschen haben nichts gewusst von Strom und Genen und intelligenten Maschinen. Und trotzdem hatten sie dieselben Gefühle, waren ebenso von Liebe durchdrungen oder von Ehrgeiz zerfressen wie wir Menschen es heute sind. In seinem Gedicht «Die Entwicklung der Menschheit» schrieb Kästner, dass die Menschen mit dem Kopf und dem Mund / Den Fortschritt der Menschheit geschaffen hätten, im Grunde aber noch immer die alten Affen seien. Mir scheint vor allem, dass in der Brust der Menschen dieselben Herzen schlagen. Wir mögen die Künstliche Intelligenz und die Gentechnologie entwickelt haben – bei Lichte betrachtet und im Grund sehnen wir uns alle immer noch nach Liebe.
Mehr Kommentar gibt es heute nicht. Ich grüsse Sie herzlich aus meiner kleinen Herbst-Pause und wünsche Ihnen – schöne Gefühle.
Basel 28. September 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
2 Kommentare zu "Dieselben Herzen"
Wunderbarer Kommentar. Kann ich voll und ganz zustimmen. Und man gehe ins „Museo Etrusco Guarnacci“ in Volterra und komme (für mich beim Lesen zum finalen Haupt-) Fazit: „…und trotzdem hatten sie dieselben Gefühle, waren ebenso von Liebe durchdrungen oder von Ehrgeiz zerfressen wie wir Menschen es heute sind…“ sowie „… bei Lichte betrachtet und im Grund sehnen wir uns alle immer noch nach Liebe…“
Man gehe nach Tansania und beobachte im Serengeti-Park intensiv 2 Wochen die Tiere (Elefanten) und komme und berichte von folgenden Schlüssen
https://www.teleblocher.ch/downloads/Teleblocher_2024-09-20T09-12-03Z.mp3
Es freut mich, wenn Menschen beobachten und zu Schlüssen kommen. Ob in der Toscana oder in Afrika. Es freut mich aber auch, dass ich zu den selben Beobachtungen unserer Zeit komme. Und dies auch in Baselland.
Wir waren, sind und werden ob hier oder dort oder da alle gleich. Auch wenn einige meinen, sie seien mehr….
Mögen wir von Herzen aus Liebe mit der Lichtkraft von Wut, Trauer, Angst, Scham und Freude
in Frieden mit uns und der Welt leben:
wie wir sind und sein werden.