Ukraine: Der Krieg gegen die Kultur

Publiziert am 1. April 2022 von Matthias Zehnder

Wir sehen immer wieder schreckliche Bilder vom Krieg in der Ukraine. Ausgebombte Menschen, Städte in Trümmern, verletzte, ja tote Kinder. Trotzdem sind es manchmal die kleinen Dinge, die einem unter die Haut gehen. Mich hat diese Woche ein Bild besonders berührt, das Bürger dabei zeigt, wie sie Sandsäcke rund um ein Denkmal aufschichten und so versuchen, die Statue vor Bomben und Granaten zu schützen. Das Bild symbolisiert für mich die Sinnlosigkeit und Schrecklichkeit des Krieges: Warum sollte jemand ein Denkmal zerstören? Das Bild führt uns mit Macht vor Augen, um was es in diesem Krieg eigentlich geht: Die russische Armee will die Ukraine zerstören – und das heisst: die ukrainische Kultur vernichten. Die Ukraine will um jeden Preis als Land überleben – und das heisst: die ukrainische Kultur um jeden Preis zu erhalten. Die Bürger mit den Sandsäcken schützen also nicht einfach eine Statue, sie schützen ihre Identität. Was heisst das für uns? 

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine geht in die sechste Woche – Tag für Tag erreichen uns schreckliche Nachrichten und Bilder aus den umkämpften Städten Cherson und Mariupol. Aber auch aus anderen Regionen der Ukraine, aus der Hauptstadt Kiew, aus Tschernihiv und sogar aus Lviv erreichen uns Bilder sinnloser Zerstörung. Wobei das Wort «sinnlos» ja zynisch ist: Der ganze Krieg ist sinnlos. Aber wenn eine Armee schon angreifen muss, dann doch bitte die gegnerische Armee, militärische Einrichtungen und Stellungen. Doch die russische Armee wirft ihre Bomben gezielt auf Krankenhäuser, auf Theater, auf Museen und auf Kirchen.

Ja, auf Kirchen: Bisher hat das ukrainische Kulturministerium 59 Kirchen gezählt, die durch den Artilleriebeschuss der russischen Armee zerstört oder schwer beschädigt worden sind. Betroffen sind Gebäude in acht Regionen der Ukraine, in Kiew, Donezk, Zhytomyr, Zaporizhia, Lugansk, Sumy, Charkow und Tschernihiv. Bei den meisten Kirchen handelt es sich um orthodoxe Kirchen, es sind aber auch einige evangelische Kirchen und Synagogen darunter. Das Ministerium hat auf seiner Informationsseite die Schäden der Kirchen dokumentiert – es bricht einem das Herz, wenn man die Bilder der zerstörten Kirchengebäude sieht, weil sie die zerstörerische Wut der russischen Armee augenfällig machen. Im Durchschnitt sind in den vergangenen Wochen pro Tag zwei Kirchen beschädigt oder zerstört worden. Zwei Kirchen pro Tag – das kann kein Zufall sein. Was soll das?

Die Symbolkraft der Ziele

Andere Kirchen sind weiterhin stark gefährdet, darunter etwa die Sophienkathedrale in Kiew aus dem 11. Jahrhundert. Die Kirche gehört zum Unesco-Weltkulturerbe in der Ukraine und gilt als das wichtigste christliche Denkmal der Kiewer Rus (862-1242), des ersten ostslawischen Staates. Die Sophienkathedrale liegt gefährlich nahe am Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit, der seit der Orangen Revolution im Jahr 2004 weltbekannt ist. Der Platz ist deshalb ein Symbol für die Unabhängigkeit der Ukraine – und könnte für die russische Artillerie ein entsprechend attraktives symbolisches Ziel darstellen.

Denn ebenso wichtig wie die militärische Bedeutung ist in einem Krieg die Symbolkraft der Ziele. In diesem Krieg gilt das ganz besonders: Russland spricht der Ukraine die Existenzberechtigung ab. Die Angriffe der russischen Armee gelten deshalb immer wieder ukrainischem Kulturerbe. Das Ziel ist dabei nichts Geringeres als die Vernichtung der kulturellen Identität der Ukraine.

Auch die Schweiz gibt Kulturgütern Asyl

Mittlerweile haben auch die westlichen Länder begriffen, wie gefährdet die ukrainischen Kulturgüter sind. Heute Freitag treffen sich die Kulturminister des Europarates und sprechen in Strassburg über die Folgen des Kriegs in der Ukraine für die Kulturgüter und Kulturstätten. Auch das Bundesamt für Kultur (BAK) hat Massnahmen ergriffen zum Schutz des kulturellen Erbes der Ukraine: Das BAK unterstützt mit 750’000 Franken Schweizer Museen dabei, gefährdete Kulturgüter aus der Ukraine vorübergehend in der Schweiz in Sicherheit zu bringen und sie konservatorisch zu betreuen. 

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Schweiz für die Rettung von Kulturgütern engagiert. Bereits 2015 hat das Bundesamt für Bevölkerungsschutz eine Kaverne als Bergungsort für Kulturgüter aus Syrien und dem Irak zur Verfügung gestellt. Ziel war es, Museumsobjekte und Statuen während des Krieges in Syrien sicher aufzubewahren. Denn die Terrormiliz Islamischer Staat hatte in Syrien und im Irak gezielt historische Kulturgüter zerstört, um die nicht-islamische Vergangenheit der Länder zu vernichten. Die Schweiz war damals das erste Land, das gefährdeten Kulturgütern offiziell temporäres Asyl bot.

Digitalen Katastrophenschutz 

In der Ukraine kommen die Bemühungen zum Teil schon zu spät. So hat die russische Artillerie in Mariupol ein Museum zerstört, das dem Kunstmaler Arkhip Kuindzhi gewidmet war. Der Maler war im 19. Jahrhundert tätig und wird in Russland bis heute verehrt. Genützt hat ihm das nichts: Am Montagmorgen ist das Museum bei einem Luftangriff komplett zerstört worden. Ähnliches gilt für Baudenkmäler in Tschernihiw und Charkow: Sie haben die Angriffe der Bolschewisten von 1918 bis 1919 und den den Beschuss der Nazis 1941 überstanden. Jetzt sind sie im Bombenhagel der Russen untergegangen.

Um wenigstens möglichst viele Informationen über die ukrainische Kultur zu retten, haben sich IT-Spezialisten aus der ganzen Welt zur Initiative «Saving Ukrainian Cultural Heritage Online» (SUCHO)  zusammengeschlossen. Sie wollen digitalen Katastrophenschutz leisten und dafür sorgen, dass wenigstens wichtige Digitalisate erhalten bleiben, also etwa eingescannte Handschriften oder fotografische Dokumentationen von Gemälden und Statuen. Archivare des National Electronic Archive of Ukraine, des Internet Archive und der Library of Congress versuchen, die digitalen Archive der Museen, von Lokalverwaltungen und von Publikationen und Ausstellungen zu retten und ausser Landes zu speichern. Noch nie gab es ein so umfassendes Archiv-Projekt in einem Krieg. Ziel ist es dabei, die Daten nur so lange als nötig im Westen aufzubewahren. Sie sollen so rasch wie möglich wieder in die Ukraine repatriiert werden. 

Krieg gegen Geschichte und Kultur

Ihor Poshyvailo, Direktor des Maidan Museum in Kiev, erklärte gegenüber dem «Time» Magazine: «Das ist ein Krieg gegen unsere Geschichte und unsere Kultur». Natürlich wiegen tote und verletzte Menschen viel schwerer als eine zerstörte Statue oder ein vernichtetes Gemälde. Doch den Menschen in der Ukraine geht es nicht nur um ihr Leben. Es geht auch um ihr Land und das heisst: um ihre Kultur, ihre Geschichte und die damit verbundenen Geschichten und Gegenstände. Es ist deshalb kein Zufall, dass die russische Armee ausgerechnet Kirchen, Skulpturen und Museen zerbombt. Auf diese Weise haben auch der Islamische Staat und die Taliban versucht, die Identität von Syrien und des Irak zu zerstören. Es sind nicht Burger King, Ikea, Apple Store und Mac Donalds, die ein Land ausmachen. Die sehen überall auf der Welt gleich aus. Für sie muss niemand kämpfen. Es ist die Kultur, die ein Land ausmacht. 

Das ist vielleicht auch die Lektion, die wir im sicheren Westen aus diesem fürchterlichen Krieg ziehen müssen. Bei uns hat man manchmal den Eindruck, dass Kirchen und Kultur, Museen, Archive und Baudenkmäler bloss dem Bruttosozialprodukt im Weg stehen. Ärgerliche Bremsklötze auf dem Weg zu mehr Umsatz und Gewinn. Doch auch unser Land lebt nicht von Brot und Butter allein. Es ist ihre Geschichte, die die Schweiz ausmacht, ihre Geschichte und ihre Kultur. Und das gilt natürlich genauso für Deutschland, für Österreich und alle anderen Länder und Regionen. Wenn wir nicht für unsere Kultur und das heisst für unsere Archive, unsere Museen, für unsere Denkmäler und unsere Baudenkmäler und, ja, unsere Kirchen einstehen, dann haben unsere Kampfflugzeuge nichts, für das es sich lohnt, in die Luft zu steigen. Am Beispiel der ukrainischen Museen und Archive sehen wir auch, dass es dabei nicht nur um den physischen Schutz geht, sondern auch um die digitale Archivierung und Sicherung der Bestände, der Informationen und des Wissens – und das nicht nur im eigenen Land. 

Im Krieg erweist sich: Kultur ist nicht bloss Supplement, das zum Zug kommt, wenn alles andere erledigt ist. Die eigene Kultur ist der Grund, warum die Menschen kämpfen in Kiew. Manchen Menschen ist die Kultur sogar wichtiger als Essen und Trinken. Klar: Der Körper braucht Kalorien. Aber der Kopf, der braucht Kultur. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir nicht erst im Kriegsfall merken, wie wichtig die Kultur ist.

Basel, 1. April 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/AP/Efrem Lukatsky

Alexander, Gauvin (2022): Ukraine: Heritage buildings, if destroyed, can be rebuilt but never replaced. In: The Conversation. [https://theconversation.com/ukraine-heritage-buildings-if-destroyed-can-be-rebuilt-but-never-replaced-179148; 31.3.2022].

House, Christopher (2022): Why the destruction of Ukraine’s churches matters. In: The Spectator. [https://www.spectator.co.uk/article/why-the-destruction-of-ukraines-churches-matters; 31.3.2022].

Kronsteiner, Olga (2022): Vernichtung von Kulturerbe: Ukrainische Identität in Schutt und Asche. In: Der Standard. [https://www.derstandard.at/story/2000134421718/vernichtung-von-kulturerbe-ukrainische-identitaet-in-schutt-und-asche; 1.4.2022].

Ministry of Culture and Information Policy of Ukraine (2022): On average two per day: Russia’s war against Ukraine damaged and ruined at least 59 spiritual sites in at least 8 regions of Ukraine. In: Ministry of Culture and Information Policy of Ukraine. [https://mkip.gov.ua/news/6997.html; 31.3.2022].

Ohne Autor. Saving Ukrainian Cultural Heritage Online. In: SUCHO. [https://www.sucho.org/; 1.4.2022].

Patin, Katja (2022): The race to save everything as war threatens the internet in Ukraine and Russia. In: Coda. [https://www.codastory.com/authoritarian-tech/destruction-internet-russia-ukraine/; 1.4.2022].

Recker, Jane (2022): Inside the Efforts to Preserve Ukraine’s Cultural Heritage. In: Smithsonian Magazine. [https://www.smithsonianmag.com/smart-news/inside-the-efforts-to-preserve-ukraines-cultural-heritage-180979840/; 31.3.2022].

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Salathé, Nicole (2015): Asyl für syrische Kulturgüter in der Schweiz. In: Schweizer Radio Und Fernsehen (SRF). [https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/asyl-fuer-syrische-kulturgueter-in-der-schweiz; 1.4.2022].

Waxman, Olivia B. (2022): Ukrainian Museums Are Racing to Save Artifacts That Tell the Country’s Story. In: Time. [https://time.com/6161734/ukraine-war-history-museums/; 1.4.2022].

 

2 Kommentare zu "Ukraine: Der Krieg gegen die Kultur"

  1. In der Ukraine herrscht Krieg. Er herrscht auch in andern Ländern. Um 200 sind es laut der Violinistin Anne Sophie Mutter derzeit auf der Welt. Krieg wird geführt von Menschen, die bereit sind, andere zu töten und sich töten zu lassen: für ihre Ehre, für Geld, für ihr Land. Krieg für Kultur zu führen ist ein scheussliches Paradox. – Weltweit dominiert der Konkurrenz-Kult. Er wird überall und auch digital zelebriert von Menschen, die gewinnen wollen: auf Kosten von andern und unserer Umwelt. Es ist ein Kult, der alle Lebensbereiche erfasst. Ein Kult, dem die Mehrheit verfallen ist. Sie scheint keinen Wandel zu wollen: für diese Mehrheit wird es nicht einfach werden. – Václav Havel, im letzten Jahrhundert politischer Dissident unter der kommunistischen Sowjetherrschaft und dann Präsident der Tschechoslowakei, hat für den Wandel den Aufbau sogenannter «Parallelstrukturen» empfohlen und dazu in seinem Essay «Die Macht der Machtlosen» (2005) erklärt: „Was sind Parallelstrukturen anderes als ein Raum, in dem ein anderes Leben gelebt werden kann, das im Einklang mit seinen eigenen Zielen steht und das sich seinerseits im Einklang mit diesen Zielen strukturiert?“ Bestmöglich zusammen mit andern bleibe ich in meinen diversen Denk- und Tätigkeitsfeldern mit Herz, Kopf, Hand und Fuss in Richtung einer 100 Prozent inklusiven Gesellschaft unterwegs. Nur so lassen sich Frieden und ein gutes Leben für alles und für alle – Steine und Pflanzen, Menschen und Tiere – schaffen. Loslassen, was Leerlauf ist. Aufstehen und weitergehen. Nicht verzagen. Anderes wagen. Es denken und es auch tun. Hier und jetzt. Und auch morgen. Es braucht dafür Kraft, Kreativität, Liebe und Mut. Und Lebensfreude anstatt Todesangst.

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