Wie sich unser Bild des Kriegs verändert

Publiziert am 25. März 2022 von Matthias Zehnder

Für uns alle sind Bilder von Kriegen nichts Neues. In der Berichterstattung von Fernsehen, Printmedien und Internet, aber auch im Kino haben Kriegsbilder schon immer eine grosse Rolle gespielt. In den meisten Fällen standen dabei aber Soldaten im Zentrum: kämpfende Helden, Flugzeuge, Maschinengewehre, Helikopter. Und immer wieder starke Männer mit schweren Waffen. Im Ukraine-Krieg ist das anders: Diesen Krieg erleben wir in den Medien sehr viel stärker aus der Perspektive der Zivilbevölkerung. Wir sehen Frauen und Männer in Kellern und auf der Flucht. Und wir sehen zerschossene und zerbombte Häuser. Diese Fotos verändern das Bild, das wir uns von Kriegen machen. Sie verändern es grundsätzlich. Ich hoffe es jedenfalls.

Bilder spielen seit jeher in Kriegen eine grosse Rolle. Das war schon lange vor Erfindung der Fotografie so. Kriegs- und Schlachtenmaler hielten den Krieg in Zeichnungen und Gemälden fest. Oft malten sie im Dienst einer der Kriegsparteien und hatten den Auftrag, den Krieg zu verherrlichen. Sie heroisierten den Kampf, schufen auf diese Weise Helden und sorgten so für Moral bei der Truppe – und an der Heimatfront. Ein bekannter Kriegsmaler war etwa Denis Dighton. Vielleicht kennen Sie seine Bilder von der Trafalgar-Schlacht, etwa «The Fall of Nelson» oder von der Schlacht von Waterloo.

Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 zwischen der Türkei und Russland gilt als erster Krieg, der auch fotografisch dokumentiert wurde. Der britische Rechtsanwalt Roger Fenton betätigte sich im Krimkrieg als wohl erster Kriegsfotograf der Geschichte. Kampfszenen konnte er nicht fotografieren, seine mit Kollodium beschichteten Fotoplatten benötigten eine viel zu lange Belichtungszeit. Die meisten seiner Bilder sind deshalb gestellt. Roger Fenton ist nicht nur der erste Kriegsfotograf der Geschichte, sondern auch der erste Manipulator von Kriegsbildern. Weil die Fotoausrüstungen so sperrig waren, die Belichtungszeiten lang und die Fotoplatten empfindlich, wurden bis in den Zweiten Weltkrieg hinein weiterhin Kriegsmaler beschäftigt. 

Im Zentrum steht der männliche Held

Maler hatten in ihren Ateliers die Zeit und die Möglichkeit, sich auf die Helden des Kriegs zu fokussieren. Sie prägten damit ein Bild des Kriegs, das die Kriegsfotografie und später auch die filmische Abbildung des Kriegs übernahm. Im Zentrum stehen männliche Helden, Kämpfer, Piloten, Matrosen, Schützen, die einen offensichtlich gerechten Kampf gegen ihre Feinde führen und dabei über sich hinaus wachsen.

Die Filmindustrie hat diese Diktion schon früh übernommen. Etwa in «The Birth of a Nation», einem Film aus dem Jahr 1915 von D. W. Griffith über den amerikanischen Bürgerkrieg. Der Film gilt mediengeschichtlich als das wichtigste Einzelwerk der amerikanischen Filmgeschichte. Er hat mit einer ganzen Reihe von filmtechnische Neuerungen, technischen Effekten und künstlerischen Innovationen die Filmgeschichte massgeblich beeinflusst. Zu sehen waren etwa Schlachtenszenen mit Tausenden von Statisten, die ersten Nachtaufnahmen der Filmgeschichte und leinwandfüllende Nahaufnahmen. Für Untermalung sorgte eine speziell komponierte Filmmusik. Der Film gilt als finanziell erfolgreichstes Werk der Stummfilmzeit. Der Film gilt aber auch als unverhohlen rassistisch: Er verherrlicht nicht nur den Krieg, sondern auch die Vorherrschaft der Weissen. 

Alles dreht sich um die Kämpfer

Der nächste, grosse Meilenstein der Kriegsfilmgeschichte ist wohl der russische Film «Panzerkreuzer Potemkin» von Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1925. Es handelt sich dabei eigentlich um einen offiziellen Propagandafilm, der zum 25-Jahre-Jubiläum der russischen Revolution von 1905 gedreht worden ist. Die Geschichte dreht sich um eine Meuterei auf einem Kriegsschiff gegen zaristische Offiziere. Formal und inhaltlich ist der Film aber so grandios gemacht, dass er bis heute als einer der einflussreichsten und besten Filme der Filmgeschichte gilt. Auch in diesem Film sind die Matrosen und damit kombattante Truppen die Hauptfiguren.

Das gilt auch für klassische Antikriegsfilme wie die Verfilmung von «Im Westen nichts Neues», dem Kriegsroman von Erich Maria Remarque: Der Roman und seine Verfilmungen schildern die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus der Sicht des jungen Soldaten Paul Bäumer. Zum ersten Mal verfilmt wurde die Geschichte 1930 von Lewis Milestone. Produzent Carl Laemmle erhielt dafür den Oscar in der Kategorie «Bester Film». «All quiet at the Western Front» gilt bis heute als einer der besten Filme mindestens der amerikanischen Filmgeschichte. Es ist ein Antikriegsfilm, auch dieser Film dreht sich aber um die kämpfende Truppe.

Krieg zwischen uniformierten Männern

Das setzt sich in der Filmgeschichte und in der Mediengeschichte so fort: Krieg wird dargestellt als Auseinandersetzung zwischen uniformierten Männern, die immer mal wieder zu Helden avancieren. Ich meine dabei nicht die dümmlichen Heldenfilme vom Schlag eines «Rambo», die Gewalt verherrlichen. Klar, dass da der schreiende und schiessende Übermann im Zentrum steht. Es gilt eben auch für Antikriegsfilme. Selbst meine Lieblings-TV-Serie «M*A*S*H» aus den 70er-Jahren mit Alan Alda und Wayne Rodgers krankt daran. Die tragikomische Serie spielt in einem Mobile Army Surgical Hospital kurz MASH in der Nähe der Front während des Koreakriegs. Im Mittelpunkt stehen Chirurgen, die im Feldlazarett verletzte Soldaten notdürftig zusammenflicken, damit sie nach Hause – oder wieder an die Front zurückkehren können. Die Sinnlosigkeit des Kriegs wird in der Serie auf sarkastische Weise vor Augen geführt – aber eben anhand der uniformierten Spitaltruppe. Alan Alda ist zwar ein Antiheld, aber doch ein Soldat.

Auch die grossen Vietnamkriegsfilme sind aus der Sicht der amerikanischen Soldaten gedreht. «Apocalypse Now» von Francis Ford Coppola und «Platoon» von Oliver Stone führen den Wahnsinn des Vietnamkriegs vor Augen – aber sie spielen unter amerikanischen Kämpfern. Vielleicht erinnern Sie sich an den Angriff der amerikanischen Luftkavallerie in «Apocalypse Now» auf ein vietnamesisches Dorf, bei dem der Kommandant über aussen an den Kampfhubschraubern befestigte Lautsprecher Wagners Walkürenritt abspielen lässt. Später lässt er einen Napalm-Angriff auf ein paar Bäume ausführen, weil ihn feindliche Artillerie beim Surfen stört. Und sagt: «I love the smell of napalm in the morning … Smells like – victory.» Das ist crazy, es zeigt den Wahnsinn des Kriegs, aber der verrückte Kommandant Kilgore ist halt irgendwie auch cool, ein verrückter Held. Die vietnamesische Zivilbevölkerung, die in den Flammen versinkt, sieht man nicht. 

Kriegsberichterstattung in Hollywood-Ästhetik

Die Hollywood-Ästhetik hat auch auf die Kriegsberichterstattung in den Medien abgefärbt. Der Bilderhunger der Agenturen, Zeitungen und Fernsehstationen hat zu einem Strom von Heldenbildern geführt. Ganz stark war das im ersten Golfkrieg zu sehen: Da haben sogenannte «embedded Journalists», die quasi mit der Kamera auf dem Panzer die Truppe begleiteten, für Bilder im Stil von «Apocalypse Now» gesorgt. Siegreiche Panzer in der Wüste, begleitet von heldenhaften Kämpfern gegen das Böse in der Person von Saddam Hussein. Die Zivilbevölkerung hatte in diesen Bildern keinen Platz. 

Das hat sich mit dem Ukraine-Krieg drastisch und dramatisch geändert. Diesen Krieg erleben wir nicht mehr als Hollywood-Inszenierung mit mehr oder weniger lässigen Soldatenhelden. Wir erleben den Krieg aus der Sicht der ukrainischen Zivilbevölkerung. Frauen und Männer in Cherson, Mariupol, Odessa und Kiew teilen über die sozialen Medien Bilder und Filme, wie sie den Krieg erleben. Es sind herzzerreissende Bilder von Menschen in Schutzkellern. Von Lehrern und Studenten, die mit Sandsäcken versuchen, Statuen und Denkmäler zu schützen. Von Frauen, die Essen austragen. Und immer wieder Bilder von zerstörten Wohnhäusern, von Häusern, die so auch in Basel, Zürich oder Bern stehen könnten. Es sind diese Bilder, die für mich zum Bild des Kriegs in der Ukraine geworden sind. Sie demaskieren die Bilder, die wir bisher in vielen Medien über Kriege gesehen haben, als militärische Propaganda und Heldeninszenierungen in der Nachfolge von Hollywood.

Das Leiden der Zivilbevölkerung

Ich glaube, ich hoffe, diese Fotos werden das Bild, das wir uns von Krieg überhaupt machen, verändern. Krieg, das ist nicht mehr der brüllende Rambo oder der verrückte, aber irgendwie doch coole Helikopter-Kommandant. Krieg, das sind ausgebombte, verzweifelte Menschen. Krieg, das sind zerstörte Häuser, zerstörte Städte, zerstörte Heimat. Krieg ist furchtbar. Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Es hat diese leisen Bilder der Kriegsverzweiflung immer gegeben, bloss sind sie von der Hollywood-Ästhetik erdrückt und vom Brimborium rund um die kämpfenden Helden verdrängt worden. Das bekannteste Bild, das die Leiden der Zivilbevölkerung auf den Punkt bringt, ist wohl das Foto des «Napalm Girl» aus dem Vietnamkrieg. AP-Fotograf Nick Ut hat das Bild am 8. Juni 1972 geschossen. Es zeigt ein Mädchen, das sich nach einem Napalm-Angriff die brennenden Kleider vom Leib gerissen hat. Das Mädchen läuft nackt und schreiend vor Schmerz auf den Fotografen zu. In diesem Bild kondensiert sich die Verzweiflung der Zivilbevölkerung, die in all den heroischen Bildern und Filmen über Krieg nicht zu sehen ist.

Es ist eine ähnliche Verzweiflung, die auch aus vielen Fotos des Kriegs in der Ukraine sehen. Mich treffen vor allem die Bilder der ausgebombten Menschen und Häuser, Bilder wie das, das ich über diesen Text gestellt habe. Es zeigt ein Wohnhaus im Podilskyi-Distrikt von Kiew. Der Einschlag einer Bombe- oder Rakete hat am 19. März mindestens eine Person getötet und 19 verletzt. An der Frontseite des Gebäudes fehlt die ganze Mauer, es sieht aus wie ein aufgeschnittenes Haus in einem Bilderbuch von Ali Mitgutsch. Die Möbel sind sichtbar, die Rückseite einer Wohnwand, ein Sofa. Das Leben dieser Menschen wurde auf einen Schlag aufgerissen und zerstört. Das ist für mich das Bild des Kriegs, wie ich es in Erinnerung behalten werde.

Basel, 25. März 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/EPA/Roman Pilipey

Paul, Gerhard (2005): Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg. In: ZZF – Centre for Contemporary History: Zeithistorische Forschungen. [https://zeithistorische-forschungen.de/2-2005/4632; 25.3.2022].

Segu Mediengeschichte im 19. Und 20. Jahrhundert. In: Lernplattform Für Offenen Geschichtsunterricht. [https://segu-geschichte.de/mediengeschichte/; 25.3.2022].

4 Kommentare zu "Wie sich unser Bild des Kriegs verändert"

  1. Ich hoffe, dass nun die Kriegs-Filme, die „Guten“ wie die „Schlimmen“, nicht mehr geschaut werden; dass auch die alten „historischen“ Kriegsfilmekamellen in ihren Archivschränken bleiben (wo sich auch hingehören). Ich hoffe, der Mensch braucht in solchen Zeiten (und hoffentlich auch drüberhinaus) nicht noch zusätzlich Schlimmes – erdachtes, fiktiver, gestelltes Lichtspieltheater aus Hollywood oder Babelsberg oder Moskau…. mit sich in Szene setzenden, wichtigtuerischen und überbezahlten Schauspielern (mein Gott, was konnte man mit dem Geld alles tun)….
    Auch Krimis wo gemordet, geballert, entführt wird – braucht dies der Mensch wirklich – anscheinend – wenn man in die Bestseller-Listen guckt…
    Und dann läuft der ganze Misslichkeit auch noch unter dem (Deck-)Mantel „Kultur“.
    Nein – ich lese schon lange keine Krimis mehr (gar als „Bettmümpfeli“, denn es gäbe doch nichts schönere als mit einer bluttiefenden Zeile der Nacht zu entschlummern…) Das gibt wohl eine gute Energie und Erbaulichkeit… *IRONIE OFF*!
    Auch schaue ich mir schon lange keine Filme mehr an, das reale Leben ist mir dafür zu kurz und ist zu wichtig als irgendwelchen Regisseur-Gedanken – oft im bizarren Alkoholsuff erdacht – zu folgen.
    Natürlich bin ich dadurch ein Kulturbanause. Nur – In diesem Falle bin ich es gerne!
    Wir sollten uns alle sofort dem Schönen widmen und unsere „Brutalo-Unterhaltungs-Sehnsüchte“ begraben. Den Gedanken folgen immer Taten – und was die anstellen sieht man ja jetzt – auf die eine wie auf die andere Seite…..

  2. Einerseits gibt es eine Kultur, die Frieden beinhaltet und bewirkt. Anderseits besteht eine Mentalität, die zu Krieg führt. Zu Letzterer gehören beispielsweise eine Bildung und eine Politik nach dem «Gewinner-Verlierer-Muster». Für Frieden braucht es im Kleinen wie im Grossen eine andere Bildung und eine neue Politik. Dafür gibt es viel zu tun. Unter anderem auch für die Medien.

    1. Antwort:
      Danke für diesen (wiederum) wertvollen Kommentar, U. Keller. Die andere Bildung ist eminent wichtig, wenn Sie zu Frieden führt. Und Frieden beginnt im Kopf – und dazu kann eben gerade diese ANDERE Bildung (wer Sie kennt, weiss was gemeint ist) wesentlich beitragen.
      Eine anspruchsvolle Herausforderung.
      Schwieriger jedenfalls, wie an die Hausfassade eine „Regenbogen-No-War-Fahne“ rauszuhängen, die man jetzt in gewissen Städten überall sieht (übrigens „Made in China“ – die machen jetzt ein Riesengeschäft damit) und sich drinnen im trauten Heim ein gewaltlüsternes Video/Literatur reinziehen.
      Die Medien sollte man nicht überbewerten, denn wenn eben eine andere (Grund-)Bildung da wäre, können sich die hoffnungslosen Medien weiter (wie in den letzten Jahren) massiv ins Abseits schreiben, des Menschens Kern und kräftiges Licht jedoch immer wie weniger beeinflussen!
      An der Bildung hängts, zur Bildung drängts – aber eben – zur Anderen.

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