Im Auge des Betrachters
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Dieser Satz geht mir hier in Südfrankreich nicht aus dem Kopf. In den letzten Wochen habe ich mich intensiv mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt und die Fähigkeiten und Fertigkeiten der neuen, generativen KI getestet. Als ich 2019 ein Buch über die Ersetzbarkeit des Menschen geschrieben habe, schien diese Art der Sprachfähigkeit von Computern noch weit weg. Heute sind sie in der Lage, jeden Laien in Staunen zu versetzen und auch Fachleute wundern sich. Ich glaube, die KI wird im Moment eher überschätzt, weil sie so sprachmächtig ist und wir es uns gewohnt sind, von der Sprache auf das Denken, ja auf Geist zu schliessen. Eine generative KI wie ChatGPT oder Google Bard «denkt» aber nicht und hat auch keinerlei Weltkonzept. Trotzdem sind die Systeme sehr mächtig.
Hier in Südfrankreich, im Midi, sind sie weit weg. Auf dem Land gibt es hier kaum Internet. Die Netzabdeckung auf dem Handy schwankt zwischen gar keiner Verbindung und einem Strich 4G. Das reicht allenfalls für ein WhatsApp. Wenn man das Handy dabei aus dem Fenster hält. Sonst liegen Victor Hugo und Balzac im Bücherregal tatsächlich näher als Bill Gates und Mark Zuckerberg. Der Regionalheilige ist aber Georges Brassens. Er stammt aus Sète, einem kleinen Städtchen voller Kanäle am Nordende des Bassin de Thon. Und aus dieser Lagune stammen bekanntlich die besten Austern Frankreichs. Um das zu wissen, müssen Sie nicht die KI fragen, sondern nur eine der Austern schlürfen. Das macht man hier ganz unprätentiös und ohne Chichi. Die Austern- und Muschelzüchter heissen hier «Paysans de la Mer»: Statt Zuckerrüben und Mais ernten sie die Austern von Bouzigues.
Vor allem aber befindet sich hier alles in einem Vorstadium des Zerfalls. Die Landstrassen sind ein Abenteuer und lassen einen sehnsüchtig von einem ölgefederten Citroën DS träumen. Die meisten Häuser sind entweder noch nicht ganz fertig gebaut oder in unterschiedlichen Phasen der Renovation stecken geblieben. Alles hat Risse, blättert ab, bröckelt. Je malerischer ein Plätzchen ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass Franzosen es mit weissen Monobloc-Plastikstühlen ausgestattet haben. Über allem aber wölbt sich tiefblau der Himmel Südfrankreichs, leergefegt vom unerbittlichen Tramontane.
Und wissen Sie was? Es ist schön. Die Risse im Haus und die abgeblätterte Farbe würden bei uns zu Hause schmuddelig wirken. Unter der Sonne des Midi wirken sie pittoresk. Der geplatzte grosse Topf mit der Agave zeugt vom Leben der Pflanze. Die Strasse mit den vielen Schlaglöchern ist eine Aufforderung, nicht zu eilen, sondern zu verweilen. Es ist schön hier.
Ich weiss nicht, ob die Franzosen, die hier leben, das alles auch schön finden. Vermutlich ist die mangende Netzabdeckung im Alltag mühsam. Wahrscheinlich ist es ärgerlich, dass der Wind auch bei geschlossenem Fenster ins Haus pfeift. Vielleicht nehmen sie es aber auch einfach lockerer als wir. Es ist diese Lockerheit, die wir in den Ferien so dringend nötig haben. Zu Hause ist Imperfektion ein Fehler. Hier ist Imperfektion schön. Warum? Weil die Schönheit im Auge des Betrachters liegt.
Schönheit gehorcht nicht Kriterien, die wir mit einem Computer erfassen und einer KI eingeben können. Schönheit ist das Resultat von Zuneigung. Schönheit ist deshalb subjektiv, weil es nicht so sehr darauf ankommt, ob das Objekt schön ist, sondern was das Subjekt bei seinem Anblick empfindet. Schönheit ist keine Beschreibung, sondern ein Gefühl. Nirgendwo ist mir das klarer geworden als hier im Midi.
Das Schild «Ici, c’est le Paradis» hängt hier auf dem Landgut neben der verrosteten Klingel an der Rezeption. Darunter hängt schief und zerbeult ein alter Briefkasten, der schon lange ausser Betrieb ist. Nein, das Paradies befindet sich nicht hier. Aber wer sich darauf einlässt, kann sich hier fühlen wie im Paradies.
Montagnac, 19. Mai 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Mehr gibts heute nicht, ich bin in den Ferien. Der nächste Wochenkommentar folgt in einer Woche.
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Quellen
Bild: mz
3 Kommentare zu "Im Auge des Betrachters"
Erdung. Mit dem Autor M. Zehnder habe ich unerwarteter Weise einen Verbündeten gefunden. Auch er bemerkt, wie schön das Einfache ist, die mangelnde Funkabdeckung, wie beruhigt man ohne WLAN plötzlich tief und entspannender schlafen kann, wie das Langsamfahren mit einfachen Wagen Freude schenkt, wie schön es ist, von Einheimischen bedient zu werden, das Wirkliche findend, das Echte, das Typische. Und wie angenehm es ist, in einem dünn besiedelten Gebiet zu weilen, wo man im Dorfe (wenn überhaupt) alle 1 – 2 Minuten einen Passanten trifft, der unverzüglich grüsst. Wenn man Überland reisend ist, einander zuwinkt wenn der Traktor, der Bäcker oder der Schulbusfahrer einem begegnet.
So angenehm kann das Leben sein, auch wenn keine Sonne scheint, im ländlichen Gebieten (z.B. France), wo sich nicht in jedem 3. Einfamilienhaus eine psychische Praxis befindet, um die kaputten und übergestressten Bewohner zu therapieren. Wo nicht in jedem 2. Haus eine Physiotherapiepraxis existiert, um die krummen WWW-Rücken wieder zurechtzukrümmen. Wo man zur Psychomotorik, zur Sprach-Frühförderung, zur Logopädie, zum staatlich „organisierten Ü60-Treff“ etwas weiter rollen muss oder diese Einrichtungen sogar überflüsssig sind, da die „Ü60“ z. B. sich noch in der gewachsenen, intakten Dorfgemeinschaft zuhause fühlen dürfen/können und die Krabbelgruppen für die 1-Monatigen bei der kinderreichen Nachbarin nebenan stattfindet.
So läuft es dort – in den französischen Städten mit der misslungenen und uferlosen Migration/Integration sieht es natürlich auch anders aus. Oder zusammengefasst: „Je besser der Funk, desto mieser das Leben.“ Die Banlieues mit täglichen und nächtlichen zerstörerischen Gewaltorgien, die Angst vor Raub, Überfall, Bedrohung und Mord….
Und ein Blick zu uns, in die Schweiz – Die Schweiz 2023 – welche sich als eine einzige riesige überbevölkerte Stadt vom Genfer- bis zum Bodensee darbietet? Wo sich Bürger von Gemeinden hinstellen und mit Leuchtwesten Dosiersysteme gegen die Autoflut gründen (Graubünden), wo intakte Wohnblöcke (!!) abgerissen werden um Vorortstram-Doppelspur zu realisieren, 3-Minuten-Takt in Doppeltraktion und wohl auch bald doppelstöckig (Spiessenhöfli, Binningen), wo sie den durchgehenden 6-Spur-Autobahnausbau zwischen Zürich und Bern ins Auge fassen (müssen) = (eine traurige aber logische Folge zur flotten Realisierung gelobten der 10-Millionen-Schweiz), wo die SBB-Oberleitungen und Schienen „glühen“ durch die dichteste Zugfolge aller Länder dieser Welt, wo (aus Deutschland zugewanderte) ETH-Professorinnen die 16-Millionen Schweiz als „Klaks“ preisen – es sei alles nur eine Frage der Organisation (zack-zack), wo Bauzonenänderungen und Näherbaurechte ohne Einsprachemöglichkeiten durchgeboxt werden, wo der Infrastrukturausbau (dickere Stromstränge, fettere Wasser- und Abwasserleitungen, unterirdische Power-Wärmeverbünde) alle 5 Jahre die Strassen aufzureissen fordern, wo störende und brummende und ärgernde und laute Wärmepumpen- Aussengeräte neu OHNE Baubewilligungen in Vorgärten (BS) aufgestellt werden können, wo die Kinder meinen die Milch käme aus dem „Coop-Tetra-Pack“, wo die sich breitmachende Anonymität Plauderbänke und Plauderkassen fordert, wo die deutsche Sprache auf dem Rückzug ist (beim Bäcker redet man gefälligst Englisch), wo Vandalismus ob der Sinnlosigkeit des engen Daseins betrieben wird (BS – Sprays von mit Farbe gefüllten Feuerlöschern auf Hausfassaden bis in die 2. – 4. Etage über alles gesprayt), wo Dein und Mein wie im Massentierhaltungskükenstall nicht mehr gelten, wo IWB-Stromtankstellen ungefragt vor Wohnhäuser installiert werden und mit einem feinen Pfeifen und Surren einem langsam in den Strahlen-Tod begleiten (BS), wo unterirdische Starkstrom-Trafo-Stationen für Hochleistungs-Schnell-Lade-Buchten der neuen E-BVB-Busse den Anwohnern gemessene Elektrosmog-Werte wie bei Hochspannungsleitungen bescheren (BS Kleinhüningen, Hochbergerplatz, dort kann man es ja machen)……
WIE ist dieser Blick in Gegenüberstellung zum leichten, echten und schönen Leben im „Midi“ und Anderswo zu deuten? Gut, schlecht, Fortschritt oder Rückständigkeit? Was ist nun was?
Ich habe mich von dieser Hektik-, Gewusel-, Stress-, und Unwohlsein-Schweiz schon lange verabschiedet („20 Min“: ¾ der Bevölkerung (CH und Migranten) sind mit ihrer Wohnsituation unzufrieden = aber wohin umziehen, wenn alles besetzt….?). So nicht. („BaZ“: ½ aller Bewohnenden (CH und Migranten) tragen psychische Lasten in sich und sind unzufrieden mit ihrem Leben) = und das der „Schweiz 2023“ = siehe oben; dem „offiziell“ glücklichsten, reichsten und besten Land.
Ganz am Rande dieses Wahnsinns habe ich und Anhang gerade noch eine Bleibe gefunden. Mit nötiger Distanz und Blick auf das Wesentliche erhielt ich deshalb die Gabe, hier wöchentlich solche und vorherige erbauliche Kommentare zu verfassen. Die Nebenschauplätze, die Gewalt, der Vandalismus, der Kummer, der Schmerz beim Gedanken an Früher bleiben (leider) in Spreitenbach, Dietikon, in Schlieren und Pratteln, in Birsfelden und Rümlang, in Volketswil und Bern-Bethlehelm…..
Alle diese Menschen sind Opfer geworden des masslosen „CH-Mehr-mehr-mehr-bis-zum-geht-nicht-mehr“-Gier in Allem und Alles, welche uns allen die CEO’s und Manager dieser Schweiz eingebrockt haben. Jene Plusmenschen-Manager und CEO’s die durch Abräumen ihrer Riesensaläre, Bonis und Goldfallschirme dem „Schlamassel Schweiz“ entkommen und über Monate im ruhigen Irland dem Fischen nachgehen, in den endlosen Wäldern Kanadas jagen, es sich monatelang in den Wellness-Schlössern Schottlands gutgehen lassen oder im Warmen, von den Wellen Bahamas bis Polynesien, sich von jeder Schuld, Vergehen und Unrecht reinwaschen lassen.
Es ist zu spät. In Allem. Wahrlich, weit haben wir es gebracht. „Midi“ / France = wir kommen!
Im Auge des Universums
Energie ohne Ende.
Materie ohne Ende.
Raum ohne Ende.
Zeit ohne Ende.
Ewigkeit ohne Ende.
Alles ist
in allem.
In allem
ist alles.
Alles und nichts:
Bin ich alles oder nichts?
Ein Teil vom Ganzen:
Endlich sein im unendlichen Sein!
Ich liebe es, wie du uns dazu ermutigst, über die Dinge nachzudenken und sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Das erinnert mich daran, wie wichtig es ist, nicht voreilig zu urteilen und die Vielfalt der menschlichen Erfahrungen anzuerkennen.
LG,
Ulrike