Vom Mut, die Welt schön zu finden
In der Ukraine herrscht Krieg, im Mittelmeer ertrinken Geflüchtete, in der Schweiz stürzen die Berge ein. Dürfen wir das Schöne auf der Welt geniessen, wo es doch so viel Leid und Krisen gibt auf dieser Welt? Das ist die erste Frage, um die es heute geht. Es ist die Frage nach dem schlechten Gewissen. Die zweite Frage lautet: Wie können wir Schönheit noch wahrnehmen und geniessen, wo wir doch selbst von Krisen fast erdrückt werden? Beide Fragen haben auch mit der Funktionsweise der Medien zu tun, die nicht anders können, als uns täglich Krisen aus der ganzen Welt auf die Bildschirme zu tragen. Wie gehen wir damit um? Ich bin überzeugt: Wir überleben nur, wenn wir dem Schönen Platz einräumen in unserem Leben. Viel Platz. In meinem Wochenkommentar zeige ich Ihnen diese Woche, dass es dabei nicht so sehr auf die Welt ankommt, als auf uns selbst. Denn das Schöne in der Welt zu sehen, ist eine Frage des Willens – und heute vielleicht manchmal auch des Mutes.
Zurück aus den Ferien in Südfrankreich möchte ich mich für die vielen positiven Reaktionen auf meinen kleinen Ferienkommentar bedanken. Selten habe ich auf einen Kommentar so viele zustimmende und nette, ja begeisterte Zuschriften erhalten. Herzlichen Dank dafür – allerdings hat mir das auch zu denken gegeben. Inhaltlich, meine ich. Natürlich ist es schön, auf einen kurzen Text, den ich quasi impressionistisch in den Ferien an einem wackeligen Bistro-Tischchen hingetupft habe, so viel freundliches Feedback zu erhalten. Davon leben wir Schreibenden. Aber warum haben gerade diese Gedanken so viel Reaktionen ausgelöst? Diese Frage hat mich beschäftigt.
Im Text ging es um das Schöne in der Welt und darum, diese Schönheit zu geniessen. Ich glaube, genau das ist ein Bedürfnis vieler Menschen. Aber vor lauter Krieg und Krise getrauen sie sich nicht mehr, sich dem Schönen in der Welt hinzugeben, weil sie dabei sofort ein schlechtes Gewissen haben. Wie kann man hier die Welt geniessen, wenn in der Ukraine jeden Tag Soldaten sterben und Frauen und Kinder um ihr Leben fürchten müssen? Wie kann man sich an der Sonne erfreuen, wenn das Klima verrückt spielt? Wie kann einen das Meer noch beglücken, wenn man weiss, dass es für viele Flüchtende zum Massengrab wird?
Das ist die erste Frage, um die es heute gehen wird: Dürfen wir das Schöne in der Welt geniessen, wo es doch so viel Leid gibt auf der Welt?
Ich glaube, diese Frage ist falsch gestellt. Auch in einer Welt voller Leid muss sich nicht die Freude am Schönen rechtfertigen, sondern jene Menschen, die das Leid über die Welt bringen. Am Leben hält uns nicht das Leid, sondern das Schöne. Gerade in einer Zeit voller Krieg und Krisen brauchen wir das Schöne, um die Krisen zu überleben. Ja mehr noch: Damit wir einen Grund haben, die Krise durchzustehen.
Auf der Suche nach Glück
In seiner wunderbaren Autobiografie beschreibt Marcel Reich-Ranicki, wie die Juden im Warschauer Ghetto sich an der Musik erfreuten. «Die Konzerte waren immer gut besucht, die Symphoniekonzerte meist überfüllt» schreibt Reich-Ranicki. «Der Not zum Trotz? Nein, nicht Trotz trieb die Hungernden, die Elenden in die Konzertsäle, sondern die Sehnsucht nach Trost und Erbauung – und so verbraucht diese Vokabeln auch sein mögen, hier sind sie am Platz.» Die Menschen im Ghetto, die ständig um ihr Leben bangen mussten, suchten nach Zuflucht für eine Stunde oder zwei. Sie waren auf der Suche nach Glück. Reich-Ranicki schreibt: «Sie waren auf eine Gegenwelt angewiesen.» (S. 228)
Jeder Vergleich mit den im Warschauer Ghetto eingesperrten Juden wäre vermessen. Es geht mir nicht um einen Vergleich, sondern um diesen Hinweis: Selbst in dieser aussichtslosen Situation haben die eingesperrten Menschen die Schönheit der Musik genossen. Warum? Weil sie eine Gegenwelt zum Elend und zum Bösen um sich herum brauchten. «Hat uns Mozart so entzückt und begeistert, obwohl wir hungrig waren und uns unentwegt die Angst in den Gliedern sass – oder vielleicht gerade deshalb?» fragt Reich-Ranicki. «Jedenfalls darf man es mir glauben: Im Warschauer Getto ist Mozart noch schöner gewesen.»
Gerade weil die Welt so schrecklich sein kann, sind wir auf das Schöne angewiesen: als Gegenwelt, als Hoffnung. Welchen Grund gäbe es, die Kriegshölle von Bachmut, Mariupol oder Charkiw zu überstehen, wenn nicht die Hoffnung auf Schönheit und Glück? Wer soll diese Schönheit geniessen, wenn nicht wir, die wir vom Krieg verschont geblieben sind?
Erdrückt von Krisen
Hier kommt die zweite Frage ins Spiel: Wir mögen vom Krieg verschont sein, aber Krisen gibt es auch bei uns. Die Klimakrise, denken wir an die Überschwemmungen in Norditalien oder die Bergstürze in den Schweizer Alpen. Die Flüchtlingskrise, denken wir an die Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen und oft nicht finden oder die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, weil die Menschenrechte der EU nur innerhalb der EU gelten und nicht an ihren Aussengrenzen. Wie können wir Schönheit finden und geniessen, wo wir doch selbst von Krisen erdrückt werden?
Die Antwort auf diese Frage setzt mit einem Phänomen ein, das als «Negativity Bias» bezeichnet wird: Menschen neigen dazu, schlechte Nachrichten deutlich stärker wahrzunehmen als gute Nachrichten. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Stuart Soroka hat sich intensiv mit diesem Phänomen beschäftigt. Soroka ist Professor am Department of Communication and Political Science an der University of California in Los Angeles. In mehreren Forschungsprojekten hat Soroka gezeigt, dass wir Menschen dazu neigen, negative Informationen stärker zu gewichten als positive. Das ist der «Negativity Bias», auf Deutsch «Negativitätseffekt» oder «Negativitätsverzerrung».
Die allermeisten Sorgen sind unnütz
Lucas S. LaFreniere und Michelle G. Newman haben in einer Studie (2020) gezeigt, dass die Menschen unverhältnismässig viele negative Emotionen mit sich herumtragen: 91,4 Prozent der Sorgen, die sich Menschen täglich machen, sind völlig unnötig, weil die Probleme, um die es geht, nie eintreten werden. Der Sozialpsychologe Roy F. Baumeister, der sich intensiv mit dem Negativitätseffekt beschäftigt hat, sagt als Faustregel, dass wir im Durchschnitt vier gute Erlebnisse brauchen, um ein schlechtes emotional auszugleichen. Bei Lob und Kritik ist es noch heftiger, das kennen Sie sicher auch: Eine kritische Rückmeldung wiegt neun lobende Rückmeldungen locker auf. Mit anderen Worten: Das Schlechte ist stärker als das Gute. Wir lassen uns von negativen Ereignissen und Emotionen stärker beeinflussen als von positiven.
Das ist also der Negativitätseffekt. Er bewirkt, dass wir auf schlechte Nachrichten stärker und emotionaler reagieren als auf gute. Schlechte Nachrichten verbreiten sich daher schneller und stärker als gute Nachrichten. Das hat mit der Natur unserer Aufmerksamkeit zu tun: Für unsere Vorfahren war es vermutlich überlebenswichtig, Bedrohungen und Gefahren möglichst schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. Mit anderen Worten: Wer von unseren Vorfahren eine schöne Blume, aber nicht den bösen Wolf wahrgenommen hat, konnte seine Gene nicht weitergeben.
Wir überschätzen die Krisen
Schlechte Nachrichten holen also mehr Aufmerksamkeit als gute, weil das lange Zeit überlebenswichtig war. Und jetzt raten Sie mal, wer sich diesen Effekt zunutze macht. Richtig: die Medien. Und das umso mehr, als die Medien im Internet viel stärker auf sofortige Aufmerksamkeit angewiesen sind als auf Papier. Das ist der Grund dafür, warum schlechte Nachrichten die Medien dominieren. Aus Sicht von Medienschaffenden sind nur «bad news» gute, also richtige Nachrichten, denn im überfüllten Internet können nur «bad news» jene Aufmerksamkeit erregen, von der die Medien leben.
Wir Menschen nehmen schlechte Nachrichten also mehr wahr als gute. Dieser Verzerrungsfehler wird durch die Medien noch verstärkt, weil sie versuchen, mit schlechten Nachrichten über sensationelle oder skandalöse Ereignisse unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Die Effekte verstärken sich also gegenseitig. Die Folge davon: Wir überschätzen die Krisen auf der Welt. Auch dazu gibt es spannende Studien und Untersuchungen. Vielleicht kennen Sie das Buch «Factfullness» des schwedischen Arztes Hans Rosling. Er hat eine Stiftung gegründet, die sich für ein faktenbasiertes Weltbild einsetzt. Das Buch und die Website zeigen, dass es um die Welt in vielen Bereichen deutlich besser steht, als wir denken.
Wenn wir uns also fragen: Wie können wir Schönheit finden und geniessen, wenn wir doch selbst von Krisen erdrückt werden? Dann lautet ein Teil der Antwort: Ja, es gibt Krisen in dieser Welt, aber wir neigen dazu, nur diese Krisen wahrzunehmen. Die Welt ist nicht ganz so schrecklich, wie wir glauben (oder die Medien uns glauben machen). Selbst dort, wo die Welt schrecklich ist, brauchen die Menschen das Schöne.
Kommen wir zur letzten Frage von heute: Wie finden wir das Schöne?
Da kommen noch einmal meine Ferien ins Spiel. Es war schön in Südfrankreich. Besser gesagt: Ich habe Südfrankreich als schön erlebt. Die Schönheit von Südfrankreich lag in meinen Augen als Betrachter, weil ich in meinen Ferien offen war für das Schöne, ja das Schöne gesucht habe. Ich bin sicher, dass der Himmel in Basel manchmal genauso blau ist wie in Marseillan. Dass man am Rhein genauso friedlich sitzen kann wie am Canal du midi. Dass der Kreuzgang des Basler Münsters ebenso schön sein kann wie der Kreuzgang der Abbey de Valmagne. In den Ferien erleben wir Himmel, Wasser und Bauten schöner, weil wir uns auf sie einlassen. Im Urlaub haben wir dafür die nötige Ruhe und Gelassenheit. Dass es bei uns genauso schön ist, zeigen all die Touristen, die sich bei uns so fühlen, wie ich mich im Midi gefühlt habe.
Im Alltag quälen uns Pendenzen, die Angst, etwas Wichtiges zu vergessen oder einen Fehler zu machen, Termine und Verpflichtungen. Allzu oft vergessen wir dabei, den Blick vom Bildschirm zu heben und aus dem Fenster zu schauen. Die Blumen im Garten zu bewundern. Am Rhein zu sitzen. Oder ganz einfach in den blauen Himmel zu schauen.
Das heisst mit anderen Worten: Ob die Welt schön ist, hängt von uns ab. Wir müssen die Schönheit nur sehen wollen. Und daran glauben, dass wir sie trotz aller Krisen auch geniessen dürfen. Nur wenn wir das Erleben dieser Schönheit zulassen, bleibt es wert, gegen die Krisen anzukämpfen und in dieser Welt zu leben.
Das Schöne in der Welt zu sehen, ist also eine Frage des Willens – und heute vielleicht manchmal auch des Mutes. Ich glaube, es ist wichtiger denn je, dass wir uns dazu bekennen.
Basel, 26. Mai 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: © mz
Mit Ferienaugen betrachtet, ist auch Basel schön. Basel, 4. Mai 2023.
Baumeister, Roy F.; Bratslavsky, Ellen; Finkenauer, Catrin und Vohs, Kathleen D. (2001): Bad is Stronger than Good. In: Review of General Psychology 5/4. S. 323–370. doi:10.1037/1089-2680.5.4.323. [10.1037/1089-2680.5.4.323; 26.5.2023].
Baumeister, Roy F. (2020): Die Macht des Schlechten. Frankfurt/New York: Campus Verlag.
LaFreniere, Lucas S. und Newman, Michelle G. (2020): Exposing Worry’s Deceit: Percentage of Untrue Worries in Generalized Anxiety Disorder Treatment. In: Behavior Therapy 51/3. S. 413–423. doi:10.1016/j.beth.2019.07.003. [10.1016/j.beth.2019.07.003; 26.5.2023].
Reich-Ranicki, Marcel (1999): Mein Leben. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Rosling, Hans; Rosling Rönnl, Anna; Rosling, Ola (2018): Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein
Soroka, Stuart; Fournier, Patrick und Nir, Lilach (2019): Cross-national evidence of a negativity bias in psychophysiological reactions to news. In: Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 116/38. S. 18888–18892. doi:10.1073/pnas.1908369116. [10.1073/pnas.1908369116; 26.5.2023].
Zehnder, Matthias (2017): Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen. Basel: Zytglogge-Verlag
Zehnder, Matthias (2019): Die digitale Kränkung. Über die Ersetzbarkeit des Menschen. Basel: NZZ Libro Verlag
2 Kommentare zu "Vom Mut, die Welt schön zu finden"
Zu den Medien: News sind für das Gehirn wie Zucker für den Körper. Also möglichst wenig davon.
Wir überschätzen Krisen, Ja.
Wir unterschätzen die langsamen fast unsichtbaren Bewegungen.
Keine Zeitung lesen und kein Fernsehen schauen hilft. Wer das Experiment einen Monat durchzieht, wird erstaunt sein. Und natürlich vorher FB Account löschen.
Mein Tipp: Bücher lesen und viel Zeit mit Menschen und der Natur verbringen.
In der Kraft der Erde spüre ich das Leben: Sie zeigt sich mir in der Schönheit eines Steines, einer Blume oder eines anderen Lebewesens. Die Freiheit und das Licht des Himmels führen mich auf dem Weg zum Glauben. Wahrheit finde ich in meinem Herzen. Wenn ich viel weiss, weiss ich, dass ich nichts weiss. Nur Roboter glauben, sie würden alles wissen. – Für meinen Glauben und für Weisheit erde, mitte und lichte ich mich alltäglich mit meinem Mantra:
Mit und in meinen Füssen den Boden spüren.
Die Kraft der Erde durch meinen Körper strömen lassen.
Mich in und mit meinem Rückgrat aufrichten:
Aufrecht und aufrichtig, wahrhaftig und wirklich im Leben sein.
Ängste und das Chaos, Ärger und Kränkungen, Ohnmacht und Wut:
Alles aus meinem Kopf raus lassen …
… und ihn für das Licht des Himmels frei und offen halten.