Erich Kästner und das Schreiben zwischen den Zeilen

Publiziert am 16. August 2024 von Matthias Zehnder

Klartext gilt als Qualität. Klartext ist unmissverständlich, direkt und manchmal auch schonungslos. Es geht um Ehrlichkeit und Transparenz. Positionen werden eindeutig bezogen, Missverständnisse vermieden. Klartext lässt keinen Interpretationsspielraum. Die künstliche Intelligenz bietet Klartext auf Knopfdruck. Explizit und vollständig. Das klingt erst mal gut, oder? Allerdings ist die Welt oft nicht so klar, dass sie klar und einfach in Text gegossen werden kann. Manchmal liegt die Wahrheit auch im Ungefähren, ist das Gefühl entscheidend, nicht die Gewissheit. Klartext nagelt die Phantasie mit sprachlichen Mitteln fest, hegt sie ein in Buchstaben und Paragraphen. Das Gegenteil von Klartext ist das Schreiben zwischen den Zeilen: Texte, die das Eigentliche ungesagt lassen. Die der Leserin, dem Leser Zeit und Raum geben, mitzudenken, mitzufühlen – und das Wesentliche zwischen den Zeilen zu lesen. Ein Meister in diesem Schreiben zwischen den Zeilen war Erich Kästner. Seine frühen Gedichte sind sprachliche Preziosen. Mit wenigen Worten erzeugt er grosse Gefühle und zeichnet starke Bilder. Natürlich kann eine KI seine Sprache nachahmen. Aber das, was uns Menschen ausmacht, steht zwischen den Zeilen. Mein Wochenkommentar über Erich Kästner und dieses Schreiben zwischen den Zeilen.

Kommunikation ist, wenn ein Sender einem Empfänger eine Botschaft schickt. Träger und Transporteur der Botschaft ist das Medium, das die Botschaft zum Beispiel in Form von Sprache zum Empfänger befördert. Zum Beispiel steht in der Strassenverkehrsordnung der Schweiz: Für schwere Motorwagen zur Güterbeförderung gilt ein Nachtfahrverbot von 22.00 Uhr bis 05.00 Uhr und ein Sonntagsfahrverbot. Der Sender ist der Bund, die Empfänger sind die Strassenbenutzerinnen und -benutzer in der Schweiz. Die Botschaft ist ebenso explizit und deutlich wie banal: Lastwagen, die Güter transportieren, dürfen nachts und am Sonntag in der Schweiz nicht fahren. Botschaft erhalten. Szenenwechsel. Es ist kurz nach Mitternacht, der Barkeeper wischt den Tresen. Ein Gast greift nach seinem Autoschlüssel, den er neben sein Bierglas gelegt hat. Der Barkeeper fragt: Fahren Sie nach Hause? Der Gast antwortet: Natürlich nicht, wir haben ja schliesslich ein Nachtfahrverbot.

Ein naiver Zuhörer, zum Beispiel ein ausländischer Gast oder ein Computer, könnte auf die Idee kommen, dass der Gast sich auf das Nachfahrverbot in der Strassenverkehrsordnung bezieht. Vielleicht ist er mit dem Lastwagen vorgefahren und darf deshalb nicht nach Hause fahren? Es wäre logisch. Logisch, aber falsch. Der Barkeeper hat den Gast zwar gefragt Fahren Sie nach Hause? Gemeint hat er: Sie haben getrunken, lassen Sie das Auto besser stehen. Die Antwort des Gastes müssen wir ironisch verstehen. Eigentlich meint der Gast das Gegenteil: Ich habe zwar schwer geladen, also gut getrunken, aber ich werde mein Auto benutzen, schliesslich fahre ich ja keinen Lastwagen, für den ein Nachtfahrverbot gelten würde. Vor allem aber: Halt Dich da raus, das ist meine Sache.

Das Eigentliche bleibt ungesagt

Im Alltag sehen wir uns immer wieder mit solchen Situationen konfrontiert. Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, senden und empfangen sie zwar an der Oberfläche Wörter, die eigentlichen Botschaften stehen aber oft zwischen den Zeilen oder sind ironisch ins Gegenteil verkehrt. Was für eine schöne Frisur! kann also genau das bedeuten, oder das genaue Gegenteil. So oder so ist in diesem Fall die Botschaft immerhin ausgesprochen. Denn das Eigentliche kann auch ganz ungesagt bleiben. Aus Sicht der Kommunikationswissenschaft ist das absurd: Ich möchte eine Botschaft senden, mache das aber, indem ich sie weglasse. Es ist aber genau dieses Schreiben oder Lesen zwischen den Zeilen, was einen Text besonders interessant macht.

Schreiben zwischen den Zeilen ist indirekte Kommunikation: Informationen und Botschaften werden nicht direkt ausgesprochen, sondern subtil oder implizit vermittelt. Die Leserin, der Leser muss die verborgene Bedeutung selbst dazu denken. Das Schreiben zwischen den Zeilen ist deshalb vor allem in Gesellschaften mit autoritären Regimen eine wichtige Praxis: Kritik am Regime wird nicht explizit geäussert und kann deshalb auch nicht geahndet werden. Allerdings kann die Repression so weit gehen, dass schon der blosse Verdacht auf eine versteckte Kritik zu Reaktionen führt. Die staatliche Repression in Russland ist mittlerweile so scharf, dass 2022 eine russische Frau von der Polizei verhaftet und abgeführt wurde, weil sie ein leeres weisses Blatt in die Luft gereckt hat.

Stärkeres Involvement

Auch ohne staatliche Repression ist das Schreiben und Lesen zwischen den Zeilen aber attraktiv. Das dürfte mehrere Gründe haben. Komplexe Gefühle und Ahnungen lassen sich oft besser zwischen den Worten transportieren. Das explizite Benennen der Gefühle würde sie erschlagen. Indem die Leserin, der Leser die Leerstellen im Text selbst und mit eigenem Erleben und eigenen Gefühlen auffüllt, wird aus einem allgemeinen Text eine ganz individuelle Geschichte. Weil die Leserin, der Leser sich dabei stärker involviert als bei einem explizit-informativen Text, fühlt man sich mit solchen Texten oft stärker verbunden.

Ein grosser Künstler des Schreibens zwischen den Zeilen war Erich Kästner. Ich denke dabei weniger an die Kindergeschichte, für die er bekannt wurde, und auch nicht an die Texte, die während der Naziherrschaft entstanden sind. Ich denke an seine frühen Gedichte. Ein gutes Beispiel für sein Schreiben zwischen den Zeilen ist das Gedicht «Jahrgang 1899». Das Gedicht beschreibt, wie seine Generation den Ersten Weltkrieg erlebte und um ihre Jugend betrogen worden ist. Das Gedicht ist 1928 im Gedichtband «Herz auf Taille» erschienen. Nehmen wir die erste Strophe:

Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,
als die Männer in Frankreich standen.
Wir hatten uns das viel schöner gedacht.
Wir waren nur Konfirmanden.

Die älteren Jahrgänge standen schon in Frankreich an der Front, die Jüngeren – Kästner selbst ist Jahrgang 1899 und war bei Kriegsausbruch also 15 Jahre alt – waren plötzlich die einzigen «Männer». Sie sind wohl in der Gunst der jungen Frauen nachgerückt und wurden auf diese Weise, der Not gehorchend, auch fern der Schlachtfelder zu früh zu Männern. In den Zeilen steht nichts von Sexualität, von Liebe oder von Versagen. Kästner schreibt, dass sie die Frauen zu Bett gebracht haben. Dabei geht es nicht nur um das Bett, also um die Sexualität, sondern auch das zu Bett bringen. Da klingt diese Stellvertreterfunktion an, welche die Teenager in den Kriegsjahren einnahmen. Die dritte Zeile greift das auf: Wir hatten uns das viel schöner gedacht. Die Enttäuschung folgt wohl auch aus der Einsicht, nur Stellvertreter zu sein. Denn: Wir waren nur Konfirmanden. Das heisst: Noch nicht voll zugehörig. Im Wort Konfirmand schwingt aber viel mehr mit. Pickel und Unsicherheit, ein zu grosser Anzug und ein zu kleines Selbstbewusstsein, grosse Träume, kleine Möglichkeiten und die Eingebundenheit in eine fest gefügte Welt.

Dann holte man uns zu Militär,
bloss so als Kanonenfutter.
In der Schule wurden die Bänke leer,
zu Hause weinte die Mutter.

Dann gab es ein bisschen Revolution
Und schneite Kartoffelflocken;
Dann kamen die Frauen, wie früher schon,
und dann kamen die Gonokokken.

Gonokokken sind die Bakterien, welche die Gonorrhö verursachen – also den Tripper. Was hat eine Geschlechtskrankheit in einem solchen Gedicht zu suchen? Ich glaube, die Bakterien verdeutlichen die Naivität und die Schutzlosigkeit der Jungen mit Jahrgang 1899. Sie ziehen zwar in den Krieg, aber nicht als Helden, sondern als Kanonenfutter. Es sind keine Kämpfer, die da in den Krieg ziehen, sondern Schüler. Deshalb fehlen sie nicht in der Fabrik, an der Universität oder beim Kampfsport, sondern in der Schule. Da werden die Bänke leer. Und zu Hause wartet nicht die Geliebte des Helden, sondern (in diesem Zusammenhang «nur») die Mutter.

Inzwischen verlor der Alte sein Geld,
da wurden wir Nachstudenten.
Bei Tag waren wir Bureau-angestellt
und rechneten mit Prozenten.

Dann hätte sie fast ein Kind gehabt,
Ob von dir, ob von mir – was weiss ich!
Das hat ihr ein Freund von uns ausgeschabt.
Und nächstens werden wir Dreissig.

Wenn der Alte sein Geld verlor, dann ist damit nicht die Weltwirtschaftskrise von 1929 gemeint. Die steht Kästner noch bevor – er hat das Gedicht vor 1928 geschrieben. Schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland aber zur Hyperinflation. Weil Deutschland sich mit dem Krieg und den damit verbundenen Reparationszahlungen stark verschuldet hatte, entwertete sich die Mark. Im Oktober 1921 wies die Mark noch ein Hundertstel ihres Wertes vom August 1914 auf, im Oktober 1922 nur mehr ein Tausendstel. 1923 zerfiel die Mark komplett. Im November 1923 kostete ein US-Dollar 4,2 Billionen Mark. Diese Hyperinflation vernichtete alle Barvermögen in Deutschland – deshalb verlor der Alte sein Geld.

Ende 1923 konnten sich die Siegermächte und Deutschland einigen, es kam zur Einführung der Rentenmark. Die Wirtschaft stabilisierte sich, es setzte das ein, was wir heute die «goldenen Zwanzigerjahre» nennen. Die jungen Männer fanden deshalb Arbeit in den Bureaus der wiedererstarkten Wirtschaft. Dass es dabei nicht um eine kreative Arbeit ging, sondern um Buchhaltung, sagt Kästner mit dem lakonischen und rechneten mit Prozenten.

Auch wenn die jungen Männer nun Angestellte waren, bürgerlich wurden sie nicht. Offensichtlich blieb das Verhältnis zu den Frauen freizügig, Beziehungen wechselten sich ab. Die unbenannte Frau, die im Gedicht schwanger wird, weiss nicht, wer der Vater ist. Sie lässt das Kind offenbar schulterzuckend wegmachen. Der Autor selbst zuckt nicht ganz so leichtfertig mit den Schultern. Das steckt in der letzten Zeile der Strophe Und nächstens werden wir Dreissig. Schon Dreissig, aber nicht Vater. Die simple Feststellung des Alters wird im Zusammenhang mit der Ausschabung zur traurigen Bemerkung. Ein Familienleben gibt es nicht. Das verdeutlicht die nächste Strophe:

Wir haben sogar ein Examen gemacht
und das Meiste schon wieder vergessen.
Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht
und haben nichts Rechtes zu fressen!

Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
anstatt mit Puppen zu spielen.
Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
soweit wir vor Ypern nicht fielen.

Das Examen, das erste bürgerliche Lebensziel, erweist sich als sinn- und nutzlos in der Nachkriegswelt. Es ändert nichts an der Einsamkeit. Es ist schon fast ein Hilfeschrei von Kästner: Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht – was meint er damit? Offensichtlich, siehe Ausschabung, ist er ja mindestens in der Nacht nicht immer allein? Trotzdem fühlt sich die Generation alleingelassen mit ihren Problemen. Zuerst überrollt vom Krieg, dann überfahren vom Wirtschaftswunder. In grober Sprache schliesst Kästner die Strophe: wir haben nichts Rechtes zu fressen! Hat seine Generation Hunger? Ich glaube nicht, dass er das meint. Schliesslich ist er ja Bureau-angestellt. Interessant ist die Ausdrucksweise. nichts Rechtes zu fressen – er sagt nicht, dass er nichts zu fressen habe, sondern nichts Rechtes und er sagt nicht, dass es ihm an Essen mangle, sondern am Fressen. Was meint das? nichts Rechtes ist klar: Er hat zu Essen, aber nicht das Richtige. Aber warum zu fressen? Im Krieg haben sie wohl so gesprochen. Da waren sie auch keine Menschen, sondern verroht, auf das körperliche Überleben reduziert. Jetzt sind sie zivilisierte Angestellte.

Für mich verdeutlicht die Wortwahl hier, dass in den wohlfeil in die Gesellschaft integrierten Angestellten der 20er Jahre die animalischen Kämpfer der Kriegsjahre stecken. Diese Kämpfer haben zwar zu Essen, aber vor dem Hintergrund des Krieges nicht das Richtige. Das, was ihnen fehlt, kann ihnen niemand mehr geben: Es ist die Geborgenheit und Liebe der Jugend. Dass unterstreicht die nächste Strophe: Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt, anstatt mit Puppen zu spielen. Statt in der Geborgenheit des Kinderzimmers zu spielen, haben sie in den Schützengräben dem Monster Krieg ins Antlitz geguckt. Der Krieg, das ist die Schnauze der Welt, die jederzeit zuschnappen und einen verschlingen kann. Das ist das Gegenteil eines behüteten Kinderzimmers. Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt, soweit wir vor Ypern nicht fielen. Darin steckt der Trotz gegen diese Welt und ihre Schnauze, die Todesverachtung, die alle erlangt haben, die nicht gefallen sind. Ypern ist eine Stadt in Belgien. Hier kam es im Ersten Weltkrieg zu drei grossen Schlachten, die seither für den sinnlosen Kampf um jeden Meter Boden stehen. Insgesamt sind bei den Schlachten über eine halbe Million Soldaten gefallen. Berüchtigt war insbesondere die zweite Ypernschlacht von 1915, weil hier zum ersten Mal grossflächig Giftgas zum Einsatz kam. Mit dem Verweis auf Ypern verändert sich denn auch der Ton von Kästners Gedicht. Die leichte Lakonik verwandelt sich in harte Anklage:

Man hat unseren Körper und hat unseren Geist
ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
in der Weltgeschichte beschäftigt!

Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
für uns zum Säen und Ernten.
Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
Noch einen Moment. Bald ist es so weit!
Dann zeigen wir euch , was wir lernten!

Das Gedicht über den Jahrgang 1899 nimmt auf diese Weise ein bitteres Ende. Denn gelernt haben die jungen Männer nicht Handwerk und Wissenschaft, sondern das Kämpfen und das Töten. Das Wort Weltgeschichte, das doch einen so hehren, edlen Klang hat, wird im Kontext von Ypern, Schützengräben und Giftgas zum Abgrund, zum Fanal. Die Weltgeschichte ist nicht Aufklärung und edles Lernen wie zur Zeit von Lessing und Goethe. Die Welt hat eine blutige Schnauze, mit der sie die Konfirmanden aus ihren Kinderzimmern gerissen und auf die Schlachtfelder gezerrt hat. Da haben sie nicht gelernt, wie man Weizen und Gerste sät und erntet. Sie haben Tod gesät – und Tod geerntet. Und sollen jetzt doch leben.

Das alles schreibt Kästner nicht explizit auf, es steht zwischen den Zeilen. Es ist deshalb so eindrücklich, weil wir diesen Raum zwischen den Zeilen mit unseren heutigen Gefühlen und Erlebnissen füllen können. Mit dem Gedanken an die jungen Soldaten in der Ukraine, in Russland und in anderen Konflikten und Kriegen. Die Welt hat immer noch eine blutige Schnauze. Das Wort Weltgeschichte hat seinen edlen Klang definitiv verloren.

Jetzt sagen Sie vielleicht: Alles gut und recht, aber der Kästner war ein Dichter. Warum soll mich das heute kümmern, was er 1928 zwischen den Zeilen geschrieben hat?

Weil das Bewusstsein, dass das Wesentliche zwischen den Zeilen stattfindet, nach wie vor wichtig ist. Gerade jetzt. Wer Text will, braucht heute keine Federn mehr, die mühsam über das Papier kratzen und keine Schreibmaschinen, die in hartem Staccato ihre Typen auf die Walze hämmern. Text gibt es heute auf Knopfdruck von der KI. Explizit, wortreich und präzise. Und deshalb: Langweilig, langfädig und nichtssagend. Wer alles ausspricht, sagt nichts. Wir Menschen sind Meister des Denkens und Empfindens zwischen den Zeilen. Die KI ist dazu nicht fähig und möge sie noch so viel Prozessorenkraft auf den Zeilenzwischenraum ansetzen. Der Grund ist einfach: Das, was zwischen den Zeilen stattfindet, ist ausserhalb der Sprache. Es sind Gefühle, Assoziationen, das gemeinsame Wissen und Ahnen einer Generation (wie im Fall von Erich Kästner), das universelle Spüren und Empfinden zwischen den Menschen. Die Wörter sind die Klöppel, mit denen die Autorin oder der Autor die Welt ausserhalb der Sprache zum Schwingen und zum Klingen bringt.

Jetzt sagen Sie vielleicht: Kein Problem, das kann die KI sicher lernen. Nein, kann sie nicht. Die KI, zur Erinnerung, ist nicht intelligent und kann nichts empfinden. Der sprachliche Output basiert auf einer statistischen Analyse der Sprache. Damit kommt die KI weit, es ist beeindruckend, es hat mit Wissen, Gefühl und Empfinden aber nichts zu tun. Es ist, nun ja: Statistik. Extrem komplex, furchtbar beeindruckend, wahnsinnig eloquent, aber letztlich nur Statistik. Vor allem haben die Texte keinen Absender. Da gibt es niemanden, der eine Empfindung hat, die er in Worte kleidet – oder sorgfältig zwischen den Zeilen verstaut. Das alles ist nur simuliert, quasi Text ohne Bedeutung.

Die Gedichte von Erich Kästner sind das Gegenteil. Es sind vor Witz und Schalk sprühende Preziosen und manchmal steckt auch viel Traurigkeit drin. Vielleicht kennen Sie die «Sachliche Romanze», ein Gedicht, das 1929 im Sammelband «Lärm im Spiegel» erschien. Kästner verarbeitet darin seine Trennung von Ilse Julius, Kästners ersten echten Beziehung. Ilse Julius hatte einen ähnlichen Hintergrund wie Kästner, sie stammte ebenfalls aus Dresden und hatte ebenfalls eine enge Beziehung zu ihrer Mutter. Und sie war klug: Sie hat als erste Frau an der Sächsischen Technischen Hochschule, der heutigen TU Dresden, promoviert – in Chemie. Kästner schrieb 1929 über die Trennung:

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

In diesem Gedicht zeichnet Kästner Bilder. Zuerst das Bild der Liebe, die abhanden kommen kann, wie andern Leuten ein Stock oder Hut. Wann kommt einem ein Stock oder ein Hut abhanden? Wenn man ihn vergisst, liegen lässt, weil der Hut einem selbstverständlich geworden ist? Man meint, man habe ihn auf dem Kopf, dabei liegt er auf der Hutablage … Den Stock lässt man stehen, weil man ihn nicht mehr braucht. Beides sind Gegenstände, wichtige vielleicht, aber doch peripher. Objekte der Vergesslichkeit.

Dann das Bild, wie sie einander ansehen und nicht weiterwissen, wie Kinder, die eine Scheibe eingeschlagen haben. Sie weint und er stand dabei. Er nimmt sie nicht in den Arm, er setzt sich nicht zu ihr, er tröstet sie nicht, er steht nur dabei. Die einfachen Zeilen beinhalten die ganze Trennung. Das ist Schreiben zwischen den Zeilen.

Jetzt sagen Sie vielleicht: Schön und gut, der Kästner war ein Dichter. Ich dichte höchstens mal beim Ausfüllen der Steuererklärung. Ja, das kann ich verstehen. Nicht nur das mit der Steuererklärung. Das auch. Aber es ist ein Irrtum, wenn Sie meinen, dass sich Dichter von uns herkömmlichen Menschen in mehr unterscheiden würden als in ihrer Fähigkeit, mit der Sprache umzugehen. Entscheidend und spannend ist doch, dass wir alle die Gedichte verstehen, intuitiv. Sie brauchen dafür noch nicht einmal einen Germanisten wie mich: Die Bilder sprechen für sich.

Denn das ist es, was uns Menschen ausmacht: Die Fähigkeit, mitfühlen zu können. Nur wenige Worte genügen, und Sie sehen eine Szene vor sich, empfinden den Schmerz, die Wut oder die Freude. Alles Dinge, die der künstlichen Intelligenz nicht zugänglich sind. Denn die ist nichts weiter als ein besonders nützlicher Stock oder Hut: Ein Werkzeug halt, das tut, als ob es schreiben könnte. Aber Sie und ich, wir wissen es besser: Abgesehen vom Gesetzbuch und vielleicht der Steuererklärung steht das Wesentliche in vielen Texten zwischen den Zeilen.

Und weil es so schön ist, hier das Gedicht «Nur Geduld!» aus «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke»:

Das Leben, das die Meisten führen,
zeigt ihnen, bis sie’s klar erkennen:
Man kann sich auch an offnen Türen
den Kopf einrennen!

Basel, 16. August 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: KEYSTONE/AP Photo/Str
Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner, aufgenommen 1969 in München.

Giesler, Johannes (2022): Russland: Demonstrierende für leeres Plakat verhaftet. In: Yahoo News. [https://de.nachrichten.yahoo.com/russland-demonstrierende-fur-leeres-plakat-verhaftet-112645376.html?guccounter=1; 16.8.2024].

Kästner, Erich (1928): Herz auf Taille. Curt Weller: Leipzig 1929

Kästner, Erich (1929): Lärm im Spiegel. Curt Weller: Leipzig 1929

Kästner, Erich (1936): Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Atrium: Zürich 1936

Seidler, Ulrich (2022): Proteste in Russland: Eine Frau hält ein weißes Schild hoch und wird abgeführt. In: Berliner Zeitung. [https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/proteste-in-russland-eine-frau-haelt-ein-weisses-schild-hoch-und-wird-abgefuehrt-li.216795; 16.8.2024].

Weidner, Vivian (2024): Dr.-Ing. Ilse Julius. In: TU Dresden. [https://tu-dresden.de/tu-dresden/universitaetskultur/diversitaet-inklusion/gleichstellung/sichtbarkeit-von-wissenschaftlerinnen/kalender-historische-promovendinnen/dr-ing-ilse-julius; 16.8.2024].

4 Kommentare zu "Erich Kästner und das Schreiben zwischen den Zeilen"

    1. Das ist eine Frage, die mir manchmal auch kommt, eine Frage der Quantität. Die Kunst, zielt aber auf Qualität. Ist das nicht ein wesentlicher Unterschied? Ob drei Menschen oder drei Millionen Menschen ein Gedicht von Kästner verstehen spielt keine Rolle.

      1. Mit der Qualität und der Quantität sehe ich es bei Kunstwerken grundsätzlich sehr ähnlich. Weil aber wahrscheinlich viele Menschen nicht verstehen konnten oder wollten, was beispielsweise bei Erich Kästner zwischen den Zeilen steht, war auch noch ein zweiter Weltkrieg möglich. Insofern scheint mir das Ganze schon auch eine Frage der Quantität?!

        1. Antwort:
          Und heute? Wie viele Menschen (die Mehrheit) können nicht zwischen den Zeilen lesen, und somit ein 3. Weltkrieg zulassen….
          (WIR WOLLEN FRIEDEN = Weichei, Kompromissfreund, Moskau einfach, Putin-Versteher, Köppel-Getreuer, Rechtes Ei….)
          Gibt auch noch die Redewendung: „Masse statt Klasse“ – und ich beobachte, je mehr Quantität desto weniger Qualität. Klar – man ist dann unter Dauerdruck einfach irgendeinen „Content“ (hiess dies bei Kästner auch schon so?) rauszulassen.
          Deshalb stöbern, ob bei Büchern, ob im Netz, die verborgenen Schätze aufsuchen – ob auf, unter oder zwischen den Zeilen…..

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