Bergverzaubert

Publiziert am 31. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen. Die Luft ist kalt, herrlich frisch zum Atmen, aber bissig im Nacken. Die Arven und Lärchen sind von einer dicken Schneeschicht überzogen. Es ist kein leichter Pulverschnee, sondern schweres, nasses Weiss. Ab und an befreit ein gnädiger Windstoss einen Ast von seiner Last. Dann fällt eine grosse Schneescholle mit einem leisen «Ploff» zu Boden. Der sanfte Klang täuscht trügerisch über das Gewicht, das da gerade herabgestürzt ist. Danach scheint sich der ganze Baum mit erleichtertem Ächzen aufzurichten.

Andere Äste hatten weniger Glück und sind unter der weissen Schwere gebrochen. Wie schmerzverkrümmte Glieder der betroffenen Bäume säumen sie den Weg und führen einem vor Augen, wie gnadenlos der Winter in den Bergen sein kann. Die Berge selbst kümmern sich nicht darum. Erhaben stehen sie im Rund und bilden die atemberaubende Kulisse. Der starke Schneefall hat die Lawinengefahr erhöht. Schon sind erste Meldungen über verschüttete Wintersportler eingegangen. Als würden die Berge spöttisch mit den Schultern zucken und mit Schnee zudecken, wer sich erlaubt, sie in ihrer Winterruhe zu stören.

Im Thomas Mann-Jahr 2025 kann man angesichts dieser Berge im verschneiten Wald nicht anders, als an den «Zauberberg» zu denken. Natürlich treten wir, zumal im Winter, alle ein wenig in die Fussstapfen der Bergverzauberten in Thomas Manns Roman und verklären sein Buch romantisch zur Bergentrückungsgeschichte. Doch im «Zauberberg» geht es um anderes. Thomas Mann schreibt 1914 an Samuel Fischer: «Das Problem, das mich nicht seit Gestern ganz beherrscht: der Dualismus von Geist und Natur, der Widerstreit von civilen und dämonischen Tendenzen im Menschen, – im Kriege wird dieses Problem ja eklatant, und in die Verkommenheit meines ‹Zauberberges› soll der Krieg von 1914 als Lösung hereinbrechen, das stand fest von dem Augenblick an, wo es los ging.»

Thomas Mann stellte seinen «Zauberberg» in die Tradition des deutschen Bildungsromans und konzipierte Hans Castrop als Widergänger eines Wilhelm Meister. Der Erzähler mutmasst, dass Hans Castorp der Verführung des Zauberberges nicht erlegen wäre, wenn seine Zeit ihm «auf bestimmte, wenn auch unbewußt gestellte Fragen» nicht nur mit «hohlem Schweigen geantwortet» hätte. Im Sanatorium lernt Hans Castorp zwei Männer kennen, zwei Ideologen, die je für eine Denkrichtung der Zeit stehen: Lodovico Settembrini und Leo Naphta. Settembrni ist der Literat, der Humanist und Rhetor und der Fortschrittsmann. Naphtha dagegen ist der etwas anrüchige Mystiker, ein Advokat der Anti-Vernunft und der «verzweifelt-geistreiche Reaktionär», der Settembrinis Argumentieren für Arbeit und Fortschritt zynisch entgegentritt. Der naive Hans Castorp sieht sich zwischen den beiden dialektischen Ideologen wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis.

Ich versuche, mich beim Stapfen durch den verschneiten Wald an die Argumente von Leo Naphta zu erinnern. Ich habe immer geglaubt, diese Positionen seien längst überwunden, sie seien untergegangen im sinnlosen Geschützdonner von Verdun. Naphta verkörpert eine radikale, antimoderne und totalitäre Weltanschauung, die sich gegen Aufklärung und Liberalismus richtet. Er glaubt nicht an den geistigen Fortschritt der Menschen und verachtet die bürgerliche Gesellschaft. Doch genau diesen Positionen begegnen wir heute wieder im Trumpismus und bei den radikalen Rechten in Europa.

Naphta verachtet Vernunft und Demokratie. Er propagiert eine autoritäre Gesellschaft, in der individuelle Freiheiten zugunsten einer höheren Ordnung geopfert werden. Er bezeichnet den Liberalismus als schwach und dekadent und sieht in ihm eine Form der moralischen Auflösung. Stattdessen befürwortet er einen totalitären Staat, in dem Kirche und Staat verschmelzen und das Individuum der Gemeinschaft untergeordnet wird. Dabei verehrt er Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Ideologien und sieht Krieg als einen reinigenden Prozess.

Ich schüttle mich im Schnee und erschrecke damit ein Eichhörnchen, das flink hinter eine Lärche flitzt. Lodovico Settembrini steht mir natürlich viel näher. Er verkörpert den Geist der Aufklärung, des Humanismus und des Fortschrittsglaubens und tritt im Roman als Verfechter von Demokratie, Vernunft und individuellem Freiheitsdenken auf. Er glaubt an die Weiterentwicklung der Menschheit durch Wissenschaft, Bildung und demokratische Werte. Settembrini verehrt die Vernunft als oberstes Prinzip und glaubt, die Evolution der Gesellschaft sei unvermeidbar. Obwohl er als liberaler Geist allen Dogmatismus ablehnt, stellt er im Roman seine Position oft dogmatisch in den Raum. Thomas Mann zeichnet also auch ihn ironisch als fast schon komische Figur, die sich nicht zum Mentor seines Helden eignet.

Vielleicht ist das der Fehler, den wir in den letzten Jahren machten. Wir haben Aufklärung, Liberalismus und Demokratie schon fast dogmatisch als gegeben und als unausweichlich hingestellt und es verpasst, uns ernsthaft mit den Jüngern Naphtas auseinanderzusetzen. Thomas Mann macht im «Zauberberg» klar, dass Hans Castorp keinem der beiden Dogmatiker folgen kann. Er muss seinen eigenen Weg suchen.

In der harschen Kälte, im schweren Schnee scheint der Widerstreit von Geist und Natur gelöst zu sein: Den gnadenlosen Bergwinter überlebt nur, wer selber gnadenlos und stark ist. Im Schneesturm bleibt für Diskussionen keine Zeit. Stärke ist gefragt, wie einst in der Wildnis von Jack London. Hat Leo Naphta doch recht? Mich schaudert es im Schnee. Ich bin froh, muss ich meinen Weg nicht selber suchen und mich nicht wie Burning Daylight durch die Kälte kämpfen. Viele Wanderer vor mir haben einen Weg gebahnt durch den Tiefschnee, einen Trampelpfad durch den Wald. Ich kann auf sie vertrauen. Das ist die Stärke, auf die ich bauen möchte. Zusammen sind wir stark. Stärker als ein starker Einzelner. Die Voraussetzung dafür, um zusammen stark sein zu können, ist Vertrauen.

Vertrauen aber lässt sich nicht herbeibefehlen. Vertrauen heisst: auf einander zuzugehen und sich nicht das Schlechteste zu unterstellen, sonder vom Guten auszugehen. Sichtbar wird Vertrauen in der Freundlichkeit, in der wir uns begegnen.

Ich befreie einen tief niedergedrückten Ast vom Schnee. Fast schon fröhlich schnellt er hoch in die Luft. Nein, wer die gnadenlose Kälte überleben will, muss nicht wie Naphta selber gnadenlos werden. Im Gegenteil. Freundlichkeit bewirkt mehr, weil wir, wenn wir aufeinander vertrauen können, zusammen stärker sind.

Pontresina, 31. Januar 2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: God da Staz, Pontresina, 2025

Thomas Mann: Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Band 5.1 (Textband) und Band 5.2 (Kommentar); herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R.Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2002.

8 Kommentare zu "Bergverzaubert"

  1. Naja, bei einem solchen Kommentar, der recht intellektuell daherkommt, sollte doch unterschieden werden zwischen einer schneebedeckten Lerche kdas arme Tier) und einer wohl eher gemeinten Lärche! Auf ein fehlerfreies Wochenende.

      1. Dankbar bin ich für Ihren Hinweis, für den nachdenklichen Satz „Vielleicht ist das der Fehler….“. Im Moment lese ich das Buch von Philipp Lenhahard: Café Marx, Die Geschichte des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Die Kritik der Aufklärung gehört ebenso zum liberalen Denken dazu. – Danke für Ihre Ausführungen zum Zauberberg von Thomas Mann.

    1. kdas kdas – kdas kdas
      macht das k den rhythmus war was
      war was yes or jazz or whas ?
      wichtig was ist fehler das ?
      hier spricht jass und freut sich über
      wohlwoll zufall freunde trauern trans & trüber
      wegen missverstand und missverständnis
      ächte sanskrit spräche – art- und arten-vielfalt –
      weil sprechen ihre lust und ihr wesen sei.
      so finden wir uns. leicht. in der stille. schweigend. ganz.
      flocken fallen auf die lerche
      auf der lärche schläft sie ein.
      will doch gar kein fehler sein.
      und dann – im mai – sagt sie plötzlich:
      „kuk-kuk
      kdas-kdas kdas-kdas“

  2. Wunderbar: dieser Wochenkommentar. Selber bin ich aber immer wieder nicht ver- sondern entzaubert, wenn ich wahrnehme, dass eigentlich schon lange klar ist, wie es auf unserer Welt zu einem guten Leben für alle kommen kann: dies aber nicht gewusst wird oder nicht gewusst werden soll oder will. – Wie mir scheint, hat die Welt der „Zuvielisation“ in den letzten etwa 50 Jahren immer noch mehr erfahren können, was werden kann, wenn es so weiter geht wie gehabt: aber daraus leider kaum etwas gelernt. Es herrscht unter anderem ein toxischer Positivismus: Vergiftetes schön reden. Anstatt dem Taifun der Wahrheit ins Auge schauen. Make America Great Again (MAGA) ist dafür eines von vielen akuten Beispielen. Toxischer Positivismus führt zur Selbstzerstörung anstatt zu einem Bewusstseinssprung, den die Menschheit für eine gute Zukunft braucht.

    1. Antwort / und Buchtipp:
      Seit dem letzten Weltkrieg herrscht, wie U. Keller es (richtig) nennt bei Vielem „Zuvielisation“. Die Zuvielkurve geht immer steiler nach oben. Nutzvollles von Nutzlosem unterscheiden können nur noch wenige. Blenden lassen in allem – ein Blinklicht dort und schon schaut man hin. Ein „Action“-Schild da und schon (muss) zugegriffen werden. Materialschlacht die nicht glücklich macht – ist das eine.
      Das Denken – das andere. U. Keller nennt es oft „toxischer Positivismus“, das heisst „Vergiftetes“ schön reden. Anstatt dem Taifun der Wahrheit ins Auge schauen. Man hält sich auf Nebenschauplätzen auf anstelle sich dem Wichtigen zu widmen. Auch hier: Unterscheidungsunfähigkeit (wie oben) von Nützlichem und Nutzlosem.
      Doch wie soll man auch? Früher hatte man noch Informationen, die stimmten.
      Quellen auf die man sich verlassen kann.
      Doch heute wird schon in der „Tageschau“, in den „Nachrichten“ gebogen und verdreht was das Zeug hält. Die Zwangsgebühren-finanzierten „TV- und Radio-Anstalten“ sind zu Fälscherwerkstätten erster Güte geworden.
      Als wunderbares Beispiel gewährt Alexander Teske, seit 30 Jahren Journalist – zuletzt sechs Jahre bei der „Tagesschau“ der zur Ausgewogenheit verpflichteten ARD eine „Innensicht auf die Tagesschau“ mit seinem neuen Buch „Inside Tagesschau“.
      Er zeichnet ein erschütterndes Bild der Information, wie sie zehn Millionen deutsche täglich konsumieren müssen. Der Autor ist kein „Rechter“, sondern bezeichnet sich als „links-liberal“, aber dennoch „ergebnisoffen“.
      Genau diese Ergebnisoffenheit sei bei der „Tagesschau“ der ARD nicht vorhanden. Vielmehr herrscht dort laut Teske „eine bestimmte Sicht auf die Welt“. Den 80 Prozent Grünen-Wählern unter den Mitarbeitern gehe es weinger um die Fakten als um Meinung und Haltung.
      Bei der Auswahl der Nachrichten werde statt deren Bedeutung deren Wirkung gewichtet (PS: Ich empfinde: GENAU so kommt es mir auch bei der SRG vor). Könnte ein Beitrag über die Kriminalität von Zuwanderern die Ausländerfeindlichkeit fördern? Nutzt die Meldung, dass in Deutschland elf Millionen Menschen ohne deutschen Pass leben, womöglich der AfD?
      Was nicht ins Weltbild der „Chefs vom Dienst“ passt, kommt nicht vor. Etwa der Anstieg der Kindergeldzahlungen ins Ausland um 300 Prozent innert fünf Jahren.
      Doch als 2018 die Kriminalität in der Bundesrepublik etwas zurückging, musste dies unbedingt auf Sendung.
      Keine Sekunde verwandte die „Tagesschau“ für eine Recherche des bürgerlichen Magazins „Cicero“, wonach Strippenzieher im Wirtschafts- und Umweltministerium mit falschen Fakten die Entscheidung zum Atomausstieg manipuliert und die Öffentlichkeit getäuscht haben. Der Skandal führte sogar zu einem Untersuchungsausschuss im Parlamen – die „holde“ Tagesschau (= Fälscherwerkstätten) blieb stumm.
      Alexander Teske spricht von linken, abgehobenen Vertretern der Medien-Elite. Sie sind festangestellt, gutverdienend, haben studiert, leben privilegiert in Einfamlienhäusern – und haben wenig Ahnung vom Leben der Normalbürger, die den Folgen der Migration ganz anders ausgestzt sind, so Teske – dessen Buch ich mir heute kaufen werde und ich sicherlich nur empfehlen kann!
      Ich empfindne Ähnlichkeiten mit den Sendungen des Farbfernsehens „unserer“ SRG sind weder zufällig noch unbeabsichtigt. Auch dort sitzen linksgewickelte Spezialisten, die = immer mehr über immer weniger wissen. Bis sie am Ende von nicht alles wissen.

      Deshalb: Milde für den hinters Licht geführten, geprellten Zeitgenossen. Solcher öffentlich-rechtlicher (Zwangsgebühren-finanzierter) Info-Schund wird in ALLEN europäischen Ländern der Menscheit aufgetischt.
      Wie soll man da noch die Klarheit, Wahrheit und dies was wirklich zählt herausfiltern? Wo bleibt die wahre Orientierung. Wie können so noch gute Charakter herangebildet werden. Wo bleibt der Lebenshalt der Jungen bei solchen Lügengebilden.
      Keine schönen Zeiten….
      (……auch wenn der Schnee in den Schweizer Bergen alles unter seiner weissen Decke verhüllt – auch er wird wieder einmal schmelzen…)

      1. Toxischer Positivismus – wie in meinem ersten Kommentar erwähnt – kann dazu dienen, Fragwürdiges oder gar Vergiftetes grossartig, gut und schön zu reden. Make-up auftragen, anstatt dem Taifun der Wahrheit ins Auge zu schauen. Make America Great Again (der MAGA-Kult) ist dafür eines von vielen Beispielen. Toxischer Positivismus führt zur Selbstzerstörung, dem Schatten von Scham: anstatt zu Demut und zur Reflexion sowie zu einem Bewusstseinssprung, den die Menschheit braucht: für eine gute Zukunft für alle und alles. – Wenn beispielsweise Medien zu Fragwürdigem und/oder Vergiftetem schweigen oder sich sogar in der Art des toxischen Positivismus aktiv am Verdrängen beteiligen, nehmen sie ihre Aufgabe nicht wahr, aufklärend zu wirken. – Hier noch der Link zu einem Beitrag meiner Autoren-Kollegin Kerstin Chavent, die damit auf ihre von mir sehr geschätzte Art plausibilisiert, wie Gift entsteht und weiter vererbt werden kann: https://www.manova.news/artikel/vatermangel-und-muttergift.

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