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Wackelkontakt

Publiziert am 15. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Der Niederländer Maurits Cornelis Escher ist einer der bekanntesten Zeichner der Welt. Bloss kennt ihn kein Mensch unter diesem Namen: Seine Werke hat er immer nur als «M.C. Escher» signiert. Berühmt ist er für seine unmöglichen Bilder. Zum Beispiel die Zeichnung eines Wasserfalls, der sich selber speist, oder die Lithographie einer Treppe, die zu sich selber führt und nicht endet. Berühmt sind auch seine zeichnenden Hände: Das Bild zeigt eine linke Hand, die eine rechte Hand zeichnet, die eine linke Hand zeichnet – es ist das, was Douglas R. Hofstadter eine «seltsame Schlaufe» nennt. Der österreichische Schriftsteller Wolf Haas hat basierend auf diesem Bild zeichnenden Hände einen Roman geschrieben. Ein Mann in Wien, bezeichnenderweise heisst er Escher, wartet auf den Elektriker. Um sich die Zeit zu verkürzen, liest er ein Buch, das von Elio handelt, einem Mafioso. Der sitzt im Gefängnis. Weil Elio gegen seinen Clan ausgesagt hat, wird er bald freikommen und im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms eine neue Identität annehmen. Um sich die Zeit zu verkürzen, liest Elio ein Buch. Das Buch handelt von einem Mann in Wien, der auf den Elektriker wartet … Was auf den ersten Blick abgefahren und konstruiert wirkt, liest sich so spannend wie ein guter Thriller. Warum Wolf Haas mit seinem Buch quasi nebenbei auch ganz schön zu denken gibt, das sage ich Ihnen in meinem 238. Buchtipp.

 

1979 hat der (damals junge, aber bereits brillante) Computerwissenschaftler Douglas R. Hofstadter ein wunderbar versponnenes Buch über Schlaufen, Paradoxien, endlose Bänder und sich selbst enthaltende Sätze geschrieben: «Gödel, Escher, Bach» hiess das Buch. Es handelte vom Mathematiker Kurt Gödel, dem niederländischen Zeichner M. C. Escher und von Johann Sebastian Bach, dem Komponisten. Hofstadter suchte nach Verbindungen von Kunst, Musik und Logik. Im Buch zeigt er auf spielerische Weise, wie Selbstreferenz und paradoxe Strukturen in verschiedenen Disziplinen auftreten und wie sie zum Verständnis von Bewusstsein und Intelligenz beitragen können. Bereits Ende der 70er Jahre hat sich das Buch mit Artifizieller Intelligenz beschäftigt. Das war einer der Gründe dafür, warum mich das Buch damals so faszinierte.

M.C. Escher: Drawing Hands. 1948, Lithograph. Aus: Douglas R. Hofstadter: «Gödel, Escher, Bach».

M.C. Escher: Drawing Hands. 1948, Lithograph. Aus: Douglas R. Hofstadter: «Gödel, Escher, Bach».

Ein zentrales Motiv im Buch ist die Lithographie «Drawing Hands» von M.C. Escher. Das Bild zeigt Hände, die sich selber zeichnen. An sich ist ja jede Zeichnung einer Hand eine Handzeichnung, die von einer Hand gezeichnet wurde. Eine der berühmtesten Zeichnungen von Albrecht Dürer ist «Betende Hände» aus dem Jahr 1508. Escher hat diese Zeichnung quasi doppelt abgewandelt: Die Hände beten nicht mehr, sie zeichnen. Und zwar sich selbst: Die eine Hand zeichnet die andere und diese andere zeichnet die eine. Hofstadter bezeichnet das in seinem Buch als «Seltsame Schleife». Wie beim Wasserfall, der sich selber speist, ist die Zeichnung im Einzelnen perfekt ausgeführt – nur lassen sich die Einzelteile nicht zu einem logisch-funktionalen Ganzen zusammensetzen.

Respektive: Sie lassen sich nur zusammensetzen, wenn man die symbolische Ebene, also die Zeichnung, verlässt.

Genau so ist der neue Roman von Wolf Haas konstruiert. Nur zeichnen sich da nicht zwei Hände, es erlesen sich quasi zwei Protagonisten. Das Buch beginnt in Wien in der Wohnung von Franz Escher. Der wartet grad auf einen Elektriker. Vor vielen Jahren hat ihm Martine, in die er damals heimlich verliebt war, zum Geburtstag ein Puzzle geschenkt: Die zeichnenden Hände von M.C. Escher. Er hatte damals, inmitten seiner Geburtstagsparty, sofort damit begonnen, das Puzzle – es hatte 1000 Teile – auf dem Boden zusammenzusetzen.

Escher versank so in dem Spiel, dass er gar nicht richtig bemerkte, wie die Zeit verging und wie die ersten Gäste sich nach Mitternacht gähnend verabschiedeten. Am Schluss waren nur noch Andi und Martine da und krochen mit Escher zwischen den Puzzleteilen über den Boden.

Doch auch die zwei letzten Gäste erhielten von Escher nicht viel Aufmerksamkeit. Es entging ihm, dass Martine, über den immer vollständiger werdenden Bildfragmenten kniend, sich so nach den verstreuten Teilen streckte, dass sich ihre ohnehin nicht zu übersehenden Vorzüge zwischen das Geschenk und den Beschenkten drängten. Die Art, wie sie mit raubvogelhafter Anmut über dem entstehenden Bild schwebte, hätte nur einen komplett arglosen Menschen an eine Yogaübung erinnert. Immer wieder streifte sie statt der im Entstehen begriffenen, gezeichneten Hände die lebendigen, nicht mehr zu langen, sondern wohlproportionierten Finger des Geburtstagskindes, indem sie ihm ein Puzzlestück zuschob oder entriss. Es nützte aber alles nichts. Escher hatte nur noch Interesse an dem Gestalt annehmenden Kartonbild aus tausend Teilen. Zwei Hände, die sich gegenseitig zeichneten, ein Wahnsinn, der sich mit zunehmendem Alkoholgenuss zum metaphysischen Erlebnis steigerte. (Seite 10f.)

Schon damit zeichnet Wolf Haas eine erste Schleife: Escher setzt Escher zusammen. Das Zusammensetzen führt paradoxerweise zur Trennung von Martine, dafür entdeckt Escher eine neue Leidenschaft: Puzzles. Seither setzt er leidenschaftlich Puzzles von Gemälden zusammen. In seinem Regal steht eine ganze Kunstgeschichte in ausgestanzten Kartonteilen.

In der Gegenwart wartet Franz Escher also auf den Elektriker. Oder, wie Wolf Haas schreibt: Er befindet sich in der Warteschlaufe. Ein Puzzle hat er schon zusammengesetzt. Um nicht noch ungeduldiger zu werden, greift Escher nach dem Buch, das er am Abend vorher begonnen hat. Das Buch handelt von Elio, einem jungen Mitglied der ’Ndrangheta, den die Polizei zum Kronzeugen umgedreht hat. Seine Aussagen haben dazu geführt, dass 27 Bandenmitglieder verhaftet wurden. Jetzt wartet Elio auf seine Entlassung. Im Rahmen des Zeugenschutzes soll er ausser Landes gebracht und mit einer neuen Identität versorgt werden. Escher sitzt also in seiner Wohnung in Wien und liest von Elio. Wir schauen Escher über die Schultern und lesen mit.

Elio erschrak, weil er im Nachdenken über die Gründe für Falcones verändertes Verhalten kurz eingeschlafen war. Er konzentrierte sich wieder auf das Buch, das ihm helfen sollte, so lange wach zu bleiben, bis Svens Schnarchen laut genug war. Das Buch war ein Geschenk von Sven. Es war auf Deutsch, und Elio entzifferte Seite um Seite mithilfe eines Wörterbuchs, das Falcone ihm gebracht hatte. Es handelte von einem Typen, der Escher hieß wie irgendein anderer Typ, der ebenfalls Escher hieß. Escher wartete schon den halben Tag auf den Elektriker. Bei seinem Versuch, in der Firma nachzufragen, war Escher nur in die Warteschleife geraten. Während er der Warteschleifenmusik zuhörte und sich mit der Möglichkeit anfreundete, so für den Rest seines Lebens zu sitzen, läutete es endlich an der Tür. «Elektro Janko», sagte ein Mann mit Schirmkappe in die Sprechanlage. (Seite 15)

Sie haben es gemerkt: Wir sind in die Geschichte von Elio eingetaucht, der greift zu einem Buch. Das Buch handelt von einem Mann in Wien namens Escher. Der wartet auf den Elektriker. Es klingelt an der Tür und schon haben wir zurück in die andere Geschichte gewechselt. Der Elektriker soll in der Küche von Escher eine Steckdose mit Wackelkontakt reparieren. Darauf bezieht sich der Titel, denn dieser Wackelkontakt löst die Handlung aus. Weil wir beim Lesen aber ständig zwischen den beiden Geschichten hin- und herswitchen, haben auch wir quasi Wackelkontakt zur Geschichte. Der Titel passt deshalb nicht nur zum Auslöser der Handlung, sondern auch zur Art der Erzählung.

Dabei wird schnell klar, dass Escher die Geschichte von Elio zum Leben erweckt, indem er sie liest – und umgekehrt. Das erinnert in der Anlage an «Stranger than Fiction», einen Film des Schweizer Regisseurs Marc Forster aus dem Jahr 2006. Harold Crick, gespielt von Will Ferrell, ist ein ganz normaler Angestellter mit einer Vorliebe für Zahlen. Zum Beispiel zählt er am Morgen, wie oft er mit der Zahnbürste über seine Zähne fährt. Das sehen wir auf der Leinwand und hören es erzählt. Denn das schreibt gleichzeitig Schriftstellerin Karen Eiffel, gespielt von Emma Thompson, an ihrer Schreibmaschine auf. An einem ganz normalen Mittwoch hört plötzlich auch Harold Crick die Erzählstimme. Offensichtlich erlebt Harold Crick unmittelbar, was Karen Eiffel schreibt. Das wird zum Drama, weil Karen Eiffel dafür bekannt ist, dass die Helden ihrer Bücher am Ende immer sterben. Harold Crick macht sich deshalb auf die Suche nach seiner Autorin und will sie davon abbringen, ihn am Ende ihres Romans sterben zu lassen.

Wolf Haas dreht diese Idee eine Drehung weiter. Bei ihm bestimmt nicht eine Autorin über das Leben ihres Helden, bei ihm lesen sich die beiden Helden gegenseitig. Das öffnet natürlich viele Fragen, unter anderem Fragen nach Identität und Freiheit. Haas serviert uns diese vertrackte Geschichte aber federleicht mit viel Wiener Schmäh und also höchst unterhaltend.

Franz Escher ist freischaffender Trauerredner von Beruf. Er hat eine On-Off-Beziehung zu einer anderen Trauerrednerin, zu Nellie Wieselburger. Die Beziehung ist grad eher im Off, weil Escher einen Schlüsselroman über das Trauerredengeschäft veröffentlicht hat, in dem er Nellie recht gut erkennbar als Mitzi Stiegl auftreten liess. Unterdessen ist Mafioso Elio im Zeugenschutzprogramm mit einer neuen Nase versehen worden und heisst jetzt Marko Steiner. Schon nach drei Buchseiten haben wir aber seinen alten Namen vergessen und verfolgen sein Schicksal als Marko Steiner, als hätte er nie anders geheissen.

Beim Lesen erleben (oder erlesen?) wir auf diese Weise, dass Identität keine Frage des Namens (oder der Nase) ist, die Namen sind wirklich nur Schall und Rauch, sondern der Geschichte und zwar nicht jener Geschichte, die als Historie hinter uns liegt, sondern der Geschichte, die wir grad erleben oder eben erlesen. Beim Lesen hüpfen wir von einer Ebene in die andere, also vom Buch über Steiner, das Escher liest, ins Buch über Escher, das Steiner liest. Auch wenn das alles gar nicht möglich ist, folgen wir dem Erzähler so prompt wie ein Hündchen einer frisch gebratenen Wurst, denn die Geschichte ist gut und wir möchten nichts verpassen.

Die Ebenen wechseln immer schneller und kommen sich immer näher. Wie in «Stranger than Fiction», wo die Figur Harold Crick am Ende die Autorin Karen Eiffel trifft und sich damit Geschriebenes und Erlebtes miteinander verquicken, kommt es auch bei Wolf Haas am Ende zum vorhersehbaren Zusammenprall der Geschichten und ihrer Figuren. Das Ende fällt aber so anders aus, als man sich das vorstellt, dass es kein Problem ist, hier zu verraten, dass es zum Zusammenprall der Ebenen kommt, zumal Sie das beim Lesen der ersten Seiten auch schon wieder vergessen haben werden, weil, sie erraten es, die Geschichte so gut erzählt ist, dass eine mächtige erzählte Gegenwart entsteht. Und nur das zählt beim Lesen.

Wolf Haas ist mit dem Roman nicht nur eine wunderbar-witzige Referenz an M.C. Escher und die vertrackten Schlaufen von Douglas R. Hofstadter gelungen, er führt auch vor Augen, wie verführbar wir sind: Eine gut erzählte Geschichte ist immer stärker als die Logik. Ich weiss nicht, ob Douglas R. Hofstadter damit wirklich einverstanden wäre, unterhaltsam ist die Geschichte von Wolf Haas alleweil – und gibt auch und gerade dadurch ganz schön zu denken.

Wolf Haas: Wackelkontakt. Roman. Hanser, 240 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-446-28272-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282728

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 15.01.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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