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Man kann auch in die Höhe fallen
Vor ein paar Jahren traf Joachim Meyerhoff unverhofft und wörtlich der Schlag: 2018, kurz nach seinem 51. Geburtstag, erlitt er einen Schlaganfall. Noch auf der Intensivstation beschloss er, sich nicht einfach zu ergeben. Er wollte sich mit seinen Worten wehren und seine banale Diagnose in eine Geschichte verwandeln. Das Resultat war das Buch «Hamster im hinteren Stromgebiet»: Joachim Meyerhoff erzählt darin präzise und mit viel Sinn für Komik, wie er den Schlaganfall und die Genesung danach erlebte. Jetzt hat Meyerhoff eine Fortsetzung veröffentlicht: «Man kann auch in die Höhe fallen» heisst das Buch. Wieder ist es der Bericht einer Krise. Allerdings ist diesmal der Grund für die Krise nicht so einfach zu fassen. Sicher ist nur: Meyerhoff leidet. An Berlin, an seiner Familie und vor allem an sich selbst. Also macht er, was jeder vernünftige Mann macht, wenn es im dreckig geht: Er flüchtet. Und zwar aufs Land, nach Hause, zu seiner Mutter. In Schleswig-Holstein besitzt seine Mutter unweit der Ostsee ein Haus auf einem weitläufigen Grundstück. Anders als ihr kränkelnder Sohn ist die alte Dame kerngesund, von geradezu offensiver Vitalität und sieht mit ihren sechsundachtzig Jahren fantastisch aus. Zehn Wochen lebt Meyerhoff bei seiner Mutter. Was er dabei erlebt, schildert er, durchsetzt von Erinnerungen und Geschichten aus seiner Jugend, in seinem neuen Buch. In meinem 239. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das nicht nur höchst unterhaltend ist, sondern auch formal spannend zu lesen – und darin an Johann Peter Hebel erinnert.
Die deutsche Literatur tut sich schwer mich leichten Stoffen. Bis heute gilt als verdächtig, wer es versteht, dem Leser ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern oder, Gott bewahre, ihn sogar zu lautem Auflachen zu bringen. Von Kästner bis Kishon zählt die hohe Kunst der leichten Muse nicht grad viel im Tempel der Literaur. Es gibt aber eine Form, die auch den schwerblütigsten Literaturwissenschaftler mit der leichten Muse versöhnt: die Anekdote.

Eine Anekdote ist eine kurze, oft unterhaltsame oder lehrreiche Erzählung über eine besondere Begebenheit oder ein bemerkenswertes Ereignis. Anekdoten enthalten meist eine prägnante Aussage und sind nicht nur pointiert geschrieben, sondern steuern geradezu auf eine Pointe zu. Es sind kleine Geschichten, die sich dazu eignen, weitererzählt zu werden.
Der erste grosse Meister der deutschsprachigen Anekdote war Johann Peter Hebel (1760–1826). Ab 1807 war er der Redakteur des «Rheinländischen Hausfreunds», eines Volkskalenders. Darin publizierte er kurze Geschichten, seine «Kalendergeschichten», die er später gesammelt im «Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes» publizierte. Hebel erweist sich dabei als wahrer Künstler der Knappheit. Eine seiner bekanntesten Anekdoten ist die Geschichte von Kannitverstan:
Ein junger Bursche besucht zum ersten Mal Amsterdam. Er bewundert ein prächtiges Haus, ein gewaltiges Schiff und kostbare Waren. Er fragt, wem die Dinge gehören. Auf Holländisch erhält er die Antwort, dass er nicht verstanden werde. Was er aber nicht versteht und deshalb glaubt, Haus und Schiff gehörten einem Mann namens «Kannitverstan». Er beneidet den reichen Mann um seine Besitztümer. Dann trifft der Bursche auf einen Leichenzug und fragt nach dem Namen des Verstorbenen. Natürlich erhält er wieder die Antwort «Kannitverstan». Das versöhnt ihn mit dem Schicksal, er merkt, dass der ganze Besitz den reichen Mann nicht vor dem Tod bewahren konnte.
Johann Peter Hebel hat es im Schreiben von Anekdoten zur Meisterschaft gebracht. Seine kurzen Geschichten sind einfach, warmherzig und oft lustig. Eine überraschende Wendung zum Schluss birgt eine moralische oder philosophische Pointe – oder bringt die Leserin, den Leser schlicht zum Lachen.
Das also ist eine Anekdote.
Joachim Meyerhoffs neues Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinn, sondern eine Sammlung solcher Anekdoten. Die Rahmenhandlung ist die erwähnte Flucht von Meyerhoff aufs Land zu seiner Mutter, aber auch sie ist aufgeteilt in Anekdoten. Nach dem Schlaganfall in Wien war Meyerhoff mit seiner Familie nach Berlin übersiedelt. Er wurde jedoch nie warm mit der Stadt. In Wien habe er stets «gesponnen und gedichtet», schreibt er. Berlin dagegen entpuppte sich als «Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß.» Wien, schreibt er, sei für ihn immer «Schauplatz und Abenteuerspielplatz» gewesen, Berlin hingegen «meist Kampfplatz. Kein Tag verging in dieser Stadt, da ich nicht angebrüllt, fast überrollt oder zumindest gemaßregelt wurde.» Er fühlte sich unwohl, auch körperlich. Das befeuerte seine Furcht vor einem weiteren Schlaganfall bis zur Panikattacke.
Auch war mir in Berlin etwas aufgefallen, und seither beobachtete ich es ständig: Viele in dieser Stadt, egal welchen Alters, egal welcher Herkunft, egal zu welcher Uhrzeit, schüttelten ununterbrochen den Kopf. Dieses unaufhörliche Kopfschütteln, dieser Empörungsparkinson, schien alle zu ergreifen, die sich länger dort aufhielten. Jeder war in seiner winzigen Welt zu einem Wackeldackel der Entrüstung geschrumpft. Wien dagegen war hoffnungslos nostalgisch und überschaubar, politisch verkommen und durch und durch verlogen, aber immerhin amüsant. Das lag mir offenbar näher. (Seite 12f.)
Also ergreift er die Flucht vor der bärbeissigen Stadt Berlin, der Arbeit und wohl auch vor der Familie und reist zu Muttern an die Küste. Er redet sich ein, die alte Frau brauche Hilfe und Gesellschaft, aber jedem Leser ist schon nach der ersten Seite klar: Derjenige, der da Hilfe braucht, ist Meyerhoff selbst. Die alte Dame ist, nein, nicht rüstig, das klingt zu sehr nach Ritterrüstung. Sie ist fit wie ein Turnschuh, schwimmt gern nackt in der kalten Ostsee, brettert mit einem frisierten Aufsitzmäher über ihre verschiedenen Rasenflächen und klettert nachts schon mal auf das Dach des Stalls, weil man von da aus den Sternenhimmel besser sieht. Und als sie beim Runterklettern merkt, dass die Dachrinnen voller Laub sind, reinigt sie die schnell im Morgenrock bei Mondenschein. Mutter ist freundlich, aber bestimmt und sie legt den Finger sofort auf die richtige Wunde, als sie ihrem Sohn mit ratloser Freundlichkeit sagt: «Wenn man dich anguckt, wird man schlagartig unglücklich.»
Die Landluft wird das bald ändern. In der Zwischenzeit lässt uns Meyerhoff in präzis gesetzten Worten an der ländlichen Labsal teilhaben.
Es dämmerte bereits, und die Luft war von kaum zu beschreibender Frische. Ein Atemgemisch aus Meer, Gras und Morgen. In Berlin war die Luft oft so verbraucht und abgestanden, als hätte die Stadt seit Wochen ihre Unterhose nicht gewechselt, und meine Wetter-App warnte mich jeden Tag aufs Neue mit dem gleichen Satz: Die Luftqualität ist schlechter als gestern zu diesem Zeitpunkt. Ich holte mir meine noch warme Bettdecke und mein Kopfkissen aus dem Schlafzimmer und legte mich in den Garten auf die Liege. Das am Horizont aufdämmernde Licht löschte Stern für Stern am Firmament. (Seite 35f.)
Die Luft in Berlin ist «so verbraucht und abgestanden, als hätte die Stadt seit Wochen ihre Unterhose nicht gewechselt», der aufdämmernde Morgen «löschte Stern für Stern am Firmament». Das ist nicht nur gut, sondern auch unterhaltsam geschrieben – anekdotisch eben. Meyerhoff beginnt, auf dem Gut zu arbeiten. Die Mutter kauft ihm dafür im Baumarkt eine rote Latzhose und dazu ein rotes Thermohemd. «Ganz in Rot finde ich dich auch leichter. Dann kann ich immer sehen, wo du auf dem Grundstück bist», bescheidet sie ihm.
Anekdotisch ist das nicht nur sprachlich, sondern auch formal. Denn Joachim Meyerhoff kommt in der Idylle des Landguts seiner Mutter langsam wieder zum Schreiben. Zuerst sitzt er nur an seinem Computer. Er hofft, dass er durch «die Simulation von Arbeit in tatsächliche Arbeit hineinfinden» würde. Dann nimmt er sich als Fingerübungen Erinnerungen vor, kleine Geschichten aus seiner Theatervergangenheit und Erinnerungen an die Kindheit mit der Mutter. Die erkundigt sich nach seinem Fortkommen, also liest er es ihr vor. Deshalb ist, was er schreibt, eingestreut in die Rahmenhandlung. So wird das Buch zur unterhaltsamen Anekdotensammlung.
Das ist keine ungefähre Ferndiagnose, Meyerhoff nimmt in seinem Buch explizit Bezug darauf und setzt sich damit auseinander, was eine Anekdote ist:
Von allen literarischen Spielarten am meisten missachtet scheint mir aber unzweifelhaft die Anekdote zu sein. Keiner weiß so recht, was sie eigentlich sein soll. Ist sie kurz, oder darf sie auch etwas länger sein, muss sie immer amüsant sein, oder gibt es sie auch ernsthaft? Sogar der Witz hat es da besser erwischt. Der Witz weiß immer, wo er hinwill, geradewegs zur Pointe. Ist der Wesenskern einer Anekdote ihre mündliche Wiedergabe, oder kann sie es unbeschadet in die Verschriftlichung schaffen? Liest man nach, was eine Anekdote sein soll, stößt man auf folgende Definition: Die wichtigste Eigenschaft einer Anekdote ist, dass sie «treffend» ist. Was wäre nun in einer Geografie der literarischen Formen die Anekdote? Ich wage zu behaupten: eine winzige Quelle, aus der ununterbrochen, seit Anbeginn der Zeit, das klarste Wasser sprudelt. Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen und kurz verweilen. Und natürlich war das Theater der verlässlichste Anekdotenlieferant, der sich nur denken ließ. (Seite 148)
Da ist etwa die Geschichte seines ersten Theaterengagements, als er in einer «Dschungelbuch»-Inszenierung für Kinder in Ulm Baghera spielte und zuweilen in der Pause zwischen zwei Aufführungen im Kostüm mit dem Darsteller von Shir Kan bei McDonalds Chicken Nuggets und Pommes ass. Oder wie er am Wiener Akademietheater in einer Inszenierung des «Sturm» von Shakespeare den Luftgeist Ariel spielte und wenn Prospero ihn rief, immer über eine Feuerwehrstange aus dem Schnürboden auf die Bühne rutschen musste. Was natürlich mit allerlei Komplikationen verbunden war. Geradezu bedrohlich entwickelten sich Dreharbeiten für «Bibi und Tina», als Meyerhoff – übrigens in einer Verballhornung von Donald Trump vor dessen Präsidialzeit – unwillentlich Filmgeld veruntreute.
Mit demselben Instinkt für die Pointe und präzisem Sprachwitz erzählt er vom Aufenthalt auf dem Landgut der Mutter und seiner langsamen Genesung. Dabei sind keineswegs alle Episoden lustig. Wenn die Mutter die Grabsteine ihres längst verstorbenen Ehemanns und des älteren Bruders von Joachim ins Dorf holt und die beiden gemeinsam an den Gräbern trauern, obwohl unter den Grabsteinen keine Knochen liegen, weil die aus praktischen Gründen am alten Ort verblieben sind, dann hat das eine komische Note, geht aber zu Herzen.
Auch Meyerhoffs Ängste sind durchaus komisch geschildert, haben aber einen ernsthaften Hintergrund. Die Panikattacken lähmen den erfolgreichen Schauspieler und Schriftsteller derart, dass er es bei einer Lesung in Lübeck nicht schafft, auf die Bühne zu treten. Unprätentiös springt seine Mutter ein und liest eine der neuen Geschichten vor – die wir sogleich zu lesen kriegen. Und natürlich macht sie das so gut, dass sie Ovationen einheimst und die anwesenden Lübecker Fans den Schriftsteller ganz vergessen.

Mit dieser und vielen anderen Anekdoten setzt Joachim Meyerhoff seiner Mutter ein wunderbares Denkmal. Er zeichnet sie als liebenswerte, eigensinnige Frau, die Sicherheitsgurte hasst, zwar liebend gerne Gäste bekocht, ihnen aber unmissverständlich zu verstehen gibt, wann sie genug hat und die Gäste gehen müssen. Und keine anderen Regeln akzeptiert als die eigenen.
Wenn meine Mutter etwas kocht oder backt, tut sie dies weder nach Rezept, noch benutzt sie eine Küchenwaage oder einen Messbecher. Auch wenn das absurd klingen mag, aber der Grund dafür ist ihr unbändiger Drang nach Unabhängigkeit. Warum sollte irgendein dahergelaufener Verfasser eines Kochbuches das Recht dazu haben, ihr Vorschriften zu machen, wie viel Mehl in einen Apfelkuchen gehört? So, wie sie der Tachometer ihres Autos reizt, so fordern auch die Maßeinheiten im Messbecher ihre Selbstbestimmtheit heraus. Rezepte empfindet sie genauso wie Geschwindigkeitsbegrenzungen als Bevormundung. Auch die Anweisungen von Ärzten hält sie für Übergriffe auf ihre Autonomie. Lange habe ich gebraucht, diesen Irrsinn nicht als blanke Unvernünftigkeit abzutun, sondern zu erkennen, dass das Sich-Widersetzen gegen Regeln, das Handeln gegen das, was man den gesunden Menschenverstand nennt, eine ihrer Kraftquellen ist. (Seite 191)
Bei Mutter lernt Joachim Meyerhoff genau das: Sich-Widersetzen. Nicht gegen Regeln von Ärzten oder anderen Autoritäten, sondern gegen den inneren Miesepeter – und seine vielen Ängste. Das tut nicht nur ihm gut, es ist auch wohltuend zu lesen. Und eine wunderbare Anekdotensammlung, wie sie auch Johann Peter Hebel gefallen hätte.
Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-462-00699-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462006995
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Basel, 22.01.2025, Matthias Zehnder
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