Video-Buchtipp
Letzter Tipp: Unmöglicher Abschied
Liebe
Toni Morrison war die erste Schwarze Autorin, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde: Sie ist zweifellos eine der bedeutendsten afroamerikanischen Stimmen des 20. Jahrhunderts. Sie hat in ihren Büchern das doppelte Schweigen gebrochen und die Geschichten der schwarzen Frauen in den USA erzählt. Toni Morrison hat sich selbst bewusst immer (gross geschrieben) als Schwarz bezeichnet. Sie schrieb über Menschen, deren Leben von Versklavung und rassistischer Gewalt geprägt war. Sie erklärte ihre Geschichten nicht, sie schrieb auf, was vorher über die Lebensrealitäten des Schwarzen Amerikas ungesagt geblieben war. Der Rowohlt-Verlag macht jetzt das Werk von Toni Morrison mit Neuübersetzungen ihrer grossen Romane wieder zugänglich. Das ist zuweilen gar nicht so einfach, weil Toni Morrison den Rassismus in den USA bewusst in harter, diskriminierender Sprache sichtbar macht. Ihre bekanntesten Romane sind «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Beloved» und «Jazz». Ich habe mir diese Woche «Liebe» vorgenommen, ein Roman über die verzehrende Kraft der Liebe. Im Zentrum steht ein Mann namens Bill Cosey, der in den Dreißigerjahren ein Hotel gekauft und zu einem Ferienparadies für Schwarze Amerikaner gemacht hat. Auf ihn richtet sich die Liebe respektive die Obsession von May, Christine, Heed, Junior und Vida, fünf Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In meinem 237. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, Toni Morrison in den neuen Übersetzungen wieder zu entdecken – und was es mit der Liebe auf sich hat.
Toni Morrison ist eine Ikone – und dennoch erschreckend wenig bekannt. Sie ist 1931 in Ohio im Mittleren Westen der USA geboren und vor etwas mehr als fünf Jahren, im August 2019, in New York gestorben. Sie hat die afroamerikanischen Perspektive in die Literatur eingebracht: Ihre Bücher handeln von Rassismus und Sklaverei und thematisieren die Identität und die Erfahrungen Schwarzer Frauen in den USA. Sie war die erste afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin und hat mit ihrem Werk auch viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller geprägt und beeinflusst. Die britische Schriftstellerin Zadie Smith sagt zum Beispiel: «Alle, die lesen, und alle, die schreiben, sind Toni Morrison zu Dank verpflichtet für den Raum, den sie geöffnet hat.»
Auf Deutsch sind die Romane von Toni Morrison von Anfang an im Rowohlt-Verlag erschienen. Als erstes Buch erschien 1979 Morrisons dritter Roman «Solomons Lied», ein halbes Jahr später folgte ihr Debüt «Sehr blaue Augen». Der Roman erschien damals in der feministischen Taschenbuchreihe «rororo neue frau». Diese Reihe und ihre Leserinnen hätten Morrison in Deutschland populär gemacht, schreibt der Rowohlt-Verlag. «Sehr blaue Augen» sei bis heute das meistverkaufte Buch von Toni Morrison in Deutschland: Insgesamt wurden über 200’000 Exemplare der verschiedenen Taschenbuchausgaben verkauft. Jetzt bringt der Verlag «Sehr blaue Augen» und die anderen Romane von Toni Morrison in aktualisierten Übersetzungen neu heraus. Das bietet eine Gelegenheit, Toni Morrison neu zu entdecken.
Ich habe dafür zu «Liebe» gegriffen, einem vertrackten Roman über die Formen, die Liebe annehmen und die Verheerungen, die sie anrichten kann. Im Zentrum des Romans steht der charismatische Hotelier Bill Cosey und sein «Bill Coseys Hotel und Seebad», das beste Hotel an der Ostküste für Schwarze Amerikaner. In der Gegenwart ist Bill Cosey längst tot. Fünf Frauen, die ihn einst auf ganz unterschiedliche Weise liebten, streiten sich um sein Erbe und die Erinnerungen: May, Christine, Heed, Vida und Junior.
Da sind zum Beispiel Christine und Heed. Christine ist die Enkelin von Bill Cosey, Heed ist seine Witwe. Die beiden waren einst beste Freundinnen. Sie sind gleich alt – schon diese Angaben lassen eine Geschichte vermuten, die es in sich hat. Mittlerweile sind die beiden Frauen alt und verbittert – und sie hassen sich. Christine, die Enkelin, lebt unten im ehemaligen Hotel, Heed zwei Etagen höher. Beide sind überzeugt, dass das Erbe von Bill Cosey eigentlich ihr zusteht. Um den Konflikt zwischen Christine und Heed kreist das Buch. May ist die Mutter von Christine und die Schwiegertochter von Bill Cosey. Eine traditionsbewusste Frau, die sich an die Konventionen ihrer Zeit hält. Sie ist verbittert und unfähig, mit Veränderungen umzugehen. In der Gegenwart ist sie längst tot, aber ihre Bitterkeit ist in der Luft hängen geblieben wie der Aschegeruch nach einem Brand.
Während May, Christine und Heed hoffnungslos ineinander verhakt sind, beobachten Vida und Junior das Geschehen eher von aussen. Vida hat in den besten Jahren im Hotel als Dienstmädchen gearbeitet und Bill Cosey als Arbeitgeber verehrt. Sie erzählt und kommentiert die Entwicklung sachlich als Beobachterin. Ganz anders Junior, die sich June nennt. Sie ist ein junges Mädchen, dass sich auf eine Stellenanzeige von Heed gemeldet hat. Sie kümmert sich nicht um Traditionen. Sie ist ehrgeizig und manipulativ und nutzt ihre Jugend und Attraktivität, um ihre Ziele zu erreichen. Die Arbeit im Haus von Heed ist für sie eine Chance, der Gosse zu entkommen, die sie sich nicht entgehen lassen will. Sie bringt eine neue Dynamik in die festgefahrenen Konflikte zwischen Heed und Christine.
May, Christine, Heed, Vida und Junior spiegeln je eine andere Facette von Liebe, Macht, Eifersucht und sozialem Status. Toni Morrison zeigt, wie die Liebe zu Bill Cosby die Frauen auseinanderbringt und wie vergangene Traumata bis in die Gegenwart wirken. Das klingt jetzt vielleicht schwer oder schwierig, ist aber wunderbar leicht zu lesen, weil Toni Morrison all diese Konflikte nicht beschreibt, sondern zeigt. Nur Vida kommentiert die Entwicklungen von aussen und führt in die Geschichte ein. Sie erinnert sich:
Schon Jahre vor Coseys Tod, als er alt wurde und das Interesse an allem außer Nat Cole und Wild Turkey verlor, lief Heed wie eine primitive Ausgabe von Scarlett O’Hara herum, verweigerte sich gutem Rat, feuerte die Loyalen, umgab sich mit Schmeichlern und kämpfte gegen May, die die Einzige war, die ihr wirklich die Luft zum Atmen nahm. Sie konnte ihre Stieftochter nicht rausschmeißen, solange Cosey lebte, auch wenn er die meisten Tage beim Angeln und die meisten Nächte in einer Runde beschwipster Freunde verbrachte. Denn so weit war es gekommen: Ein Achtung gebietender, imposanter Mann räumte das Feld für zerstrittene Weiber, die alles kaputtmachten, was er aufgebaut hatte. Wie konnten sie das tun, fragte sich Vida. Wie konnten sie Gangstertypen, Taglöhner, die Proleten aus der Fischfabrik und Zahltagssäufer in das Hotel lassen, die wie einen Rattenschwanz polizeiliche Aufmerksamkeit nach sich zogen. Gern hätte Vida diese immer zerlumpter aufkreuzende Gästeschar für Mays Kleptomanie verantwortlich gemacht – Gott allein wusste, was die Taglöhner alles mitgehen ließen –, aber May hatte schon geklaut, ehe Vida eingestellt wurde und lange bevor das Niveau der Gäste abzusacken begann. Schon ihr zweiter Arbeitstag, sie stand hinter der Rezeptionstheke, wurde von Mays Sucht überschattet. Eine vierköpfige Familie aus Ohio war soeben eingetroffen. Vida schlug das Meldebuch auf. In den linken Spalten waren bereits säuberlich das Datum, der Name und die Zimmernummer eingetragen, rechts blieb der Platz für die Unterschrift des Gastes frei. Vida griff nach der marmornen Schreibgarnitur, aber der Federhalter, den sie suchte, war nicht am Platz und auch sonst nirgends zu sehen. Nervös wühlte sie in einer Schublade herum. Gerade als sie dem Familienvater einen Bleistift reichen wollte, tauchte Heed auf.
«Was soll das? Du gibst ihm einen Bleistift?»
«Der Federhalter ist verschwunden, Ma’am.»
«Das kann nicht sein. Sieh noch mal nach.»
«Hab ich schon. Er ist nicht da.»
«Hast du auch in deiner Handtasche nachgesehen?»
«Wie bitte?»
«Oder in deiner Jackentasche?» Heed warf einen Seitenblick zu den neu eingetroffenen Gästen und setzte ein resigniertes Lächeln auf, als könnte jeder nachfühlen, was für eine Last es war, so unzuverlässige Mitarbeiter zu haben. Vida war siebzehn Jahre alt und gerade Mutter geworden. Die Aufgabe, die Mr. Cosey ihr übertragen hatte, bedeutete einen weiten und, wie sie hoffte, endgültigen Sprung heraus aus dem Fischtrog, in dem sie bisher gearbeitet hatte und in dem ihr Mann immer noch steckte. Ihr Mund wurde trocken und die Finger begannen zu zittern, als Heed sie abkanzelte. Tränen drohten die Demütigung zu vollenden, als die Retterin, angetan mit einer voluminösen weißen Kochmütze, auf der Szene erschien. Sie hatte den Füllfederhalter in der Hand, steckte ihn in das Loch der Halterung und sagte, zu Heed gewandt: «Es war May. Das wissen Sie genau.»
In diesem Augenblick ging Vida auf, dass sie mehr beherrschen musste als die Anmeldeformalitäten und den Umgang mit Geld. Wie an jeder Arbeitsstelle gab es auch hier alte Bündnisse, geheimnisvolle Gegnerschaften, armselige Siege. Mr. Cosey war der König; L, die Frau mit der Kochmütze, spielte eine Priesterinnenrolle. Alle anderen – Heed, Vida, May, die Kellner und die Zimmermädchen – waren Höflinge, die um ein huldvolles Lächeln des Fürsten rivalisierten. (Seite 53)
Toni Morrison erzählt die Geschichten der fünf Frauen May, Christine, Heed, Junior und Vida jeweils aus deren eigener Perspektive. Es sind in knappen Worten skizzierte Schicksale von fünf Schwarzen amerikanischen Frauen. In fast schon lakonischen Worten schildert Toni Morrison den Aufstieg und den Abstieg der Frauen, wie sie der Gosse entkommen und von glänzenden Hotel wieder ausgespuckt werden. Es ist die Rede von Liebe und Verrat, von Zärtlichkeit und Vergewaltigung und manchmal von allem in einem Satz. Toni Morrison schildert kein Drama und keine Tragödie, sondern schreibt sachlich in leichten Worten. Das führt dazu, dass man beim Lesen immer mal wieder überrascht wird durch die Härte des Geschehens.
Der geschilderte Neid, die Eifersucht, die Leidenschaften sind universell. Toni Morrison benennt die Gefühle nicht, sondern zeigt sie. Ein kleines Beispiel. Junior ist im Hotel gelandet und will für den ausgeschriebenen Job vorsprechen. Sie ist aber nicht bei Heed gelandet, die den Job ausgeschrieben hat, sondern bei Christine in der untersten Etage. Die schält gerade Krabben für das Abendessen, das sie Heed zubereitet, weil sie weiss, dass Heed allergisch ist auf Krabben. Die beiden sind, wie gesagt, verfeindet. Beim Krabbenschälen beobachtet Christine das Mädchen:
Das junge Ding hatte den peinigenden Blick eines unterernährten Kindes. Eines Kindes, das man an sich drücken oder wegen seiner Bedürftigkeit schlagen möchte. (Seite 36)
Man kann beim Lesen das zwiespältige Gefühl von Christine sofort nachvollziehen. Oder wie Christine das Mädchen betrachtet:
Die verräterischen Zeichen eines Lebens auf der Straße, des Lebens einer Rumtreiberin, waren allzu vertraut: Seife aus dem Busbahnhof, Sandwiches von anderen Leuten, ungewaschenes Haar, auch zum Schlafen nicht abgelegte Kleidung, keine Handtasche, der Mund mit Kaugummi statt mit Zahnpasta gereinigt. (Seite 36)
Das ist präzise und lakonisch geschrieben, ohne zu werten, fast schon sachlich. Es führt dazu, dass man beim Lesen die Vorsicht fahren lässt. Es klingt so friedlich – und dann setzt Toni Morrison unvermittelt zum Magenschlag an, indem sie im gleichen sachlichen, fast schon liebevollen Ton eine Vergewaltigung schildert. Oder wie Junior in der Sozialsiedlung gemobbt wurde. Die präzise geschilderten Szenen treffen einen bis ins Herz, gerade weil sie undramatisch geschrieben sind.
Das gilt auch für die Hautfarbe. Ich habe beim Lesen immer mal wieder vergessen, dass Toni Morrison von Afroamerikanern schreibt. Umso härter trifft Toni Morrison, wenn plötzlich von der Hautfarbe die Rede ist. Etwa in einem Gespräch zwischen dem jungen Sandler, dem Mann von Vida, und Bill Cosey, das die beiden beim Fischen führen. Bill Cosey sagt:
«Ist dir klar, dass jedes einzelne Gesetz in diesem Land dazu dient, uns unten zu halten?» Wo hatte er das nun wieder her?, dachte Sandler, während er aufblickte. Er lachte. «Das kann nicht sein.» «Es ist aber so.» «Und was ist mit …» – aber Sandler konnte sich an keine Gesetze erinnern, soweit es nicht um Mord ging, und das wäre in diesem Fall kein gutes Beispiel gewesen. Jeder wusste, wer in den Knast kam und wer nicht. Ein Schwarzer Mörder war ein Mörder; ein weißer Mörder hatte eine unglückliche Kindheit gehabt. Er war überzeugt, dass es bei den meisten Gesetzen um Geld, nicht um die Hautfarbe ging. Und das sagte er auch. Cosey antwortete, indem er langsam die Augen zusammenkniff. «Denk drüber nach», sagte er. «Ein Schwarzer kann eine Eins-a-Bonität haben und die besten Sicherheiten und trotzdem nicht den Funken einer Hoffnung auf einen Bankkredit. Denk drüber nach.»
Sandler wollte nicht darüber nachdenken. Er war jung verheiratet, gerade Vater einer Tochter geworden. Vida war seine Eins-a und Dolly war mehr als ein Funken Hoffnung für ihn. (Seite 66f.)
Gerade weil Toni Morrison ihre Anliegen nicht wie eine Demonstrierende am 1. Mai auf einem Schild vor sich herträgt, lösen diese Beobachtungen viel aus. Man vergisst beim Lesen, mit wem man es zu tun hat und Bum trifft Morrison einen ins Herz.
Das ist der Grund, warum ich dieses Buch auch und gerade heute zur Lektüre empfehle. Es zeigt, wie stark eine zurückhaltend-sachliche, ja lakonische Erzählweise wirken kann, wenn die Erzählerin den Worten nur genügend Raum gibt und nicht sagt, was sie sagen will, sondern es nachvollziehbar zeigt. Das fährt stärker ein als jedes Pamphlet.
Toni Morrison: Liebe. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Pilz, überarbeitet und aktualisiert von Marion Kraft. Rowohlt, 304 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-499-01559-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499015595
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Basel, 08.01.2025, Matthias Zehnder
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