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Vollmondhonig
Anselm Anderhub ist Oberleutnant der Luzerner Kriminalpolizei, Fachgruppe Delikte Leib und Leben. Anderhub lebt in 6210 Sursee, einem kleinen Schweizer Städtchen im Bermudadreieck zwischen Zürich, Basel und Luzern. Erfunden oder vielleicht besser: gefunden hat ihn Peter Weingartner, der als Autor in der Region lebt. Anderhub ist ein knorriger Kriminalpolizist, dem die Sprache so lieb ist, dass er sich gerne darin verheddert. Dieser Anderhub, der sich auch von den Ernährungsdocs Butter und Honig nicht vom Sonntagszopf nehmen lässt, ermittelt in «Vollmondhonig» bereits in seinem vierten Fall. Vordergründig geht es um eine Leiche, die nackt in Kauerstellung begraben unterhalb der Burgruine Kastelen gefunden wurde. Aber eigentlich geht es, wie bei Gotthelf, was sage ich: wie bei Dostojewski um Schuld und Sühne. Einfach nicht am Hof von Sankt Petersburg, sondern im Wirtshaus «Zum Vollen Mond». In meinem 128. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich das literarische Eintauchen ins Luzerner Hinterland lohnt.
Kastelen ist eine Burgruine auf einem Hügelzug im Luzerner Hinterland. Die Burg wurde im 13. Jahrhundert von den Grafen von Kyburg erbaut, aber schon im 18. Jahrhundert zerstört. Heute ist die Ruine ein beliebtes Ausflugsziel. Hier, unterhalb der Burgruine, finden Kinder an einem schönen Sommersonntag eine Leiche. Eigentlich wollen die Kinder nach dem legendären Goldschatz suchen, den die Ritter der Burg im Hügel vergraben haben sollen. Statt Gold finden sie eine tote Frau.
Der technische Dienst der Kriminalpolizei stellt etwas später fest, dass es die nackte Leiche einer jungen Tamilin ist, die kauernd vergraben worden ist, fast wie in einer frühen Hochkultur. Oder nach einer rituellen Opferung. Anderhub weiss zu wenig über historische Begräbnistechniken und nimmt sich vor, seinen Sohn zu fragen, der Historiker ist. Vorerst gibt es praktischere Probleme zu lösen. Die Identität der Toten zum Beispiel.
Bald stellt sich heraus, dass die Tamilin Purnima heisst und im Wirtshaus «Zum vollen Mond» gearbeitet hat. Allerdings sollte Purnima eigentlich gar nicht mehr in der Schweiz sein, sondern in Australien. Sie hat sich zu einem Sprachaufenthalt verabschiedet und sich aus Melbourne sogar per Mail einmal gemeldet. Warum also liegt sie jetzt tot in Kauerhaltung unter der Burgruine Kastelen?
Anselm Anderhub und die anderen Beamten von der Kriminalpolizei Luzern nehmen ihre Ermittlungen auf und schon bald fällt die nächste Leiche an. Diesmal ist es Res Bachmann, der Wirt des «Vollen Mondes». Er liegt erschossen in seinem Weinkeller. Langsam und stockend entwirrt sich eine Geschichte, die so gar nicht zur gut bürgerlichen Fassade des Luzerner Hinterlands passt. Aber wo passen Schuld und Sühne schon zur Fassade. Und wie bei Dostojevski wird zwar der Schuldige gefunden, die Frage nach der Schuld damit aber nicht beantwortet.
Spannend an der Geschichte sind aber eigentlich gar nicht die beiden Morde, sondern die Art und Weise, wie Peter Weingartner von seinem schrulligen Kriminalpolizisten erzählt. Diese Sprache ist keineswegs elegant oder eloquent. Sie stockt und eckt an, so manchmal liegt Anderhub ein Wort quer im Mund, wie das bei den Schweizern halt ist. Hochdeutsch ist hierzulande eine Fremdsprache, die man schmerzhaft bewusst benutzt, mit tastenden Schritten, wie ein Tanzschüler in der zweiten Lektion. Dabei ist nicht von der grossen Welt die Rede, sondern von Spiegelei und Zopf, von Rückenturnen und Wanderferien, vom Fiat Panda eines Verdächtigen und von der Zugfahrt durch das Luzernische. Nicht die grosse Welt. Aber bei näherer Betrachtung und entsprechend sorgfältiger Beschreibung wird auch das Luzernische zu Literatur.
Peter Weingartner: Vollmondhonig. Kriminalroman. Edition 8, 296 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-85990-461-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783859904613
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Basel, 1. November 2022, Matthias Zehnder
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