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Aufklärung. Ein Roman
Wir schreiben das Jahr 1734. In Leipzig wird das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach uraufgeführt. Besonders aufmerksam ist Christian Friedrich Henrici, bis dato Bachs Textdichter. Der Text der Weihnachtskantate stammt jedoch nicht von ihm. Aber von wem dann? Bis heute ist das unklar. Angela Steidele schreibt in ihrem neuen Roman «Aufklärung», dass Luise Gottsched den Text geschrieben habe, die kluge und gewitzte Frau von Johann Christoph Gottsched. Allein die Zeit gebot es, dass Frauen im Schatten blieben. Bachs älteste Tochter Dorothea ärgert das ungemein. Sie beschliesst deshalb, das Leben ihrer Freundin Luise aufzuschreiben. Das Resultat ist dieses Buch: Angela Steidele lässt darin Dorothea Bach ungemein lebendig vom Leben im Hause Bach in Leipzig erzählen. Von den Leiden des Thomaskantors und seinen vielen Kindern. Wie die Zeit sich unter dem Einfluss der Aufklärung langsam wandelt und vor allem vom Leben der «Gottschedin», der hochbegabten Luise Adelgunde Victorie Gottsched. In meinem 129. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich dieses Buch nicht nur Fans von Johann Sebastian Bach ans Herz lege.
Wer kommt Ihnen so in den Sinn, wenn Sie an die philosophische Aufklärung denken? Sicher Immanuel Kant und Voltaire, vielleicht René Decartes und John Locke, Gotthold Ephraim Lessing und Jean-Jacques Rosseau. Fällt Ihnen dabei etwas auf? Richtig: Es sind alles Männer. Lessing lässt Emilia Galotti sagen: «Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das, ihm zu Trotze, auch denken will? Ein Frauenzimmer, das denkt, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminkt.»
Das 18. Jahrhundert ist mit anderen Worten keine einfache Zeit für Frauen. Grund genug für Angela Steidele, die Perspektive der Frauen einzunehmen. Für ihren neuen Roman schlüpft sie in die Haut von Dorothea Bach. Johann Sebastian Bach war zweimal verheiratet und hatte 20 Kinder. Dorothea war das erste Kind, geboren 1708. Als Bach 1721 seine zweite Frau heiratete, die Kammersängerin Anna Magdalena Wilcke, war Dorothea 13. Als das Buch einsetzt, ist Dorothea 26 Jahre alt. Sie assistiert ihrem Vater und singt Solopartien in Hausmusiken. In der Kirche und im Rahmen von öffentlichen Konzerten dürfen Frauen zu dieser Zeit in Leipzig nicht singen.
Dorothea schreibt ihre Geschichte 28 Jahre später auf. Dann ist sie Mitte fünfzig, unverheiratet und mittlerweile werden die Geldmittel knapp. Denn Vater Johann Sebastian Bach hat, anders als Telemann oder Händel, zu Lebzeiten kaum Werke gedruckt herausgegeben. Entsprechend ist er in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten. Als sie Verleger Breitkopf ein Werk zum Druck anbietet, winkt der ab. Die Musik von Bach werde einem nicht gerade aus den Händen gerissen.
Anlass dafür, dass Dorothea zur Feder greift, ist Johann Christoph Gottscheds Biografie seiner Frau Luise. Dorothea findet, das sei doch alles ganz anders gewesen. In einer Mischung aus Lebensbericht und Zwiesprache mit der verstorbenen Freundin schreibt sie auf, wie sie der Gottschedin das erste Mal begegnet ist, wie die beiden Frauen sich langsam miteinander befreundeten und der geistigen und durchaus auch körperlichen Aufsicht der Männer um sie herum entkamen.
Dass sich Angela Steidele ausgerechnet Luise Gottschedin als weibliche Figur der Aufklärung ausgesucht hat, ist gut verständlich, auch wenn die meisten Menschen (mich eingeschlossen) vor der Lektüre des Buches Luise Gottsched nicht gekannt haben dürften und wenn, dann als Gehilfin, die tief im Schatten ihres Mannes stand. Dabei wäre Umgekehrtes angebracht. Denn sie war geistig ihrem Mann eine mindestens ebenbürtige Partnerin. So manches Schriftstück, das unter dem Namen ihres Mannes erschienen ist, könnte durchaus aus ihrer Feder entstammen. Gottsched immerhin unterstützte die Weiterbildung seiner Frau. Luise lernte Latein, nahm Unterricht in Kompositionslehre und lauschte seinen Vorlesungen über Rhetorik und Dichtkunst. Weil sie nicht im Saal sitzen durfte, setzte sie sich dafür hinter die geöffnete Tür des Vorlesungssaals.
Sie pflegte Kontakte mit tout Leipzig und korrespondierte mit den wichtigsten Intellektuellen Europas. Die Gottschedin war so gebildet wie eine Professorin, sie war eine brillante Übersetzerin und eigenständige Autorin. Sie war eine weitblickende Verfechterin der Aufklärung und verstand es, die Medien der Zeit für ihre Anliegen zu nutzen. Trotz aller Brillanz scheiterte sie aber persönlich, politisch und literarisch an der engstirnigen Bourgeoisie Leipzigs, an den Verheerungen des siebenjährigen Kriegs und auch in ihrer Ehe. Sie wurde nur 49 Jahre alt. Gerade mit ihrem Scheitern verkörpert sie aber perfekt die Frauen in der Aufklärung, die in der riesigen Lücke verschwinden, die zwischen dem hehren, geistigen Anspruch des Rationalismus und der für Frauen oft brutal engen Realität klafft.
Vor diesem Hintergrund erzählt Angela Steidele also die erstaunlich leichtfüssige Geschichte von Luise und Dorothea. Sie nimmt uns mit an die Hausmusiken und in die Salons. Wir leiden mit der Familie Bach, wenn Vater Bach mal wieder vom Kirchenvorstand gerüffelt wird, etwa, weil verbotenerweise eine Tochter an Stelle eines erkrankten Thomaners das Solo in einer Kantate gesungen hat. Wir begleiten Dorothea und nehmen so automatisch den Blick und die Position der Frauen in der Zeit ein. Eingeschnürt in Fischbeinkorsette und eine rigide, protestantisch-bürgerliche Moral hatten die Frauen kaum Raum zum Atmen. Dorothea und Luise loten die Spielräume aus. Neben den beiden gewitzten Frauen nehmen sich die Honoratioren der Zeit dumpf und träge aus, allen voran die Dichterfürsten Gottsched und Henrici.
Angela Steidele hat Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Philosophie studiert. Davon profitiert dieses Buch ungemein: Die Aufklärung im Hause Bach findet genau im Schnittfeld dieser drei Wissenschaften statt. Und ganz nebenbei erklärt sie durch Dorothea dem interessierten Leser auch noch, warum Bachs Oratorien so genial sind und wie Bach durch die Musik gepredigt hat. Obwohl das Buch über 600 Seiten hat, war ich traurig, als es zu Ende war. Was kann man sich als Leser mehr wünschen.
Angela Steidele: Aufklärung. Ein Roman. Insel Verlag, 603 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-458-64340-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783458643401
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Basel, 10. November 2022, Matthias Zehnder
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