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Die Erweiterung

Publiziert am 27. Oktober 2022 von Matthias Zehnder

Mit «Die Hauptstadt» hat Robert Menasse vor fünf Jahren einen fulminanten Roman über Europa vorgelegt: Kunstvoll hat er darin die Geschichten unterschiedlichster Menschen aus ganz Europa miteinander verknüpft. Brüssel wurde so zum Brennglas für Europa. Mit «Die Erweiterung» hat Menasse jetzt ein Fortsetzung der «Hauptstadt» veröffentlicht. Wieder erzählt er seine Geschichte in Form eines Reigens, wieder kreuzen die unterschiedlichsten Menschen einander. Der Fokuspunkt der Geschichte ist diesmal nicht Brüssel, sondern die europäische Peripherie: Albanien. Das Land ist Beitrittskandidat der EU, der wilde Osten Europas, wo die Geschichten blühen wie einst im Wilden Westen. In meinem 127. Buchtipp sage ich Ihnen, warum es sich lohnt, «Die Erweiterung» zu lesen. Was heisst «sich lohnt»: Warum Sie «Die Erweiterung» unbedingt lesen müssen.

Gjergj Kastrioti, genannt Skanderbeg, war im 15. Jahrhundert ein Militärkommandant und Fürst aus dem albanischen Adelsgeschlecht der Kastrioti. Weil er das Fürstentum Kastrioti gegen die Osmanen verteidigte, erhielt er von Papst Calixtus III. den Ehrentitel «Kämpfer des Christentums». Papst Pius II. bezeichnete ihn sogar als den «neuen Alexander». Von seinen Gefährten wurde er zum «Herrn von Albanien» gekrönt. Heute wird er von vielen als albanischer Nationalheld verehrt. Diesem Skanderbeg wird ein seltsamer Helm zugeschrieben, auf dessen Scheitel die Figur eines gehörnten Ziegenbocks angebracht ist. Dieser gehörnte Helm befindet sich in der Hofjagd- und Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien. Mit diesem Helm beginnt Robert Menasse seine Geschichte über die Erweiterung der EU.

Albanien hat 2009 ein Beitrittsgesuch bei der EU deponiert. 2010 ist die EU-Kommission zum Schluss gekommen, dass Albanien erst noch einige Beitrittskriterien erfüllen muss, bevor  Beitrittsverhandlungen eröffnet werden können. Seit 2014 ist Albanien offiziell Beitrittskandidat. 2018 hat die Kommission zum ersten Mal empfohlen, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Die Niederlande, Frankreich und Dänemark legten sich aber quer: Sie lehnten Verhandlungen mit Albanien ab. Hier setzt das Buch ein: Der albanische Ministerpräsident telefoniert mit dem französischen Ministerpräsidenten. Der albanische Ministerpräsident ist wütend und beschimpft den Franzosen. Weil die beiden ohne Dolmetscher auf Französisch miteinander sprechen und der Albaner auf Albanisch schimpft, hat das aber keine Konsequenzen, weil ihn am anderen Ende der Leitung schlicht niemand versteht. 

Die albanische Polit-Elite ist wütend. Frankreich zeigt ihr die kalte Schulter. Dabei ist Frankreich die zweite Heimat für viele Albaner. Wer etwas werden will, studiert in Frankreich, deshalb spricht auch der albanische Ministerpräsident perfekt Französisch. Die einzigen, die glücklich sind über die Entscheidung der Franzosen, das sind die Polen. So müssen nicht sie das Veto gegen den Beitritt von Albanien einlegen. Sagt jedenfalls Mateusz, der polnische Ministerpräsident.

Wie auch immer: Im Büro des albanischen Ministerpräsidenten ist die Aufregung gross. Da hat einer der Mitarbeiter eine Idee. Es ist Fate Vasa, Dichter, Hofdichter und engster Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, der übrigens von seinem engeren Kreis ZK genannt wird, für Zoti Kryeministër, oder auch einfach Chef. Fate Vasa also hat eine Idee.

«Ich habe unlängst gesagt, dass du symbolisch das Schwert Skanderbegs erheben musst, sagte Fate. Ihr habt gelacht, sagte er und liess seine kleinen zarten Finger in Richtung des anwesenden Beraterstabs flattern, aber – wartet! Wartet! Es ist witzig, ja, aber als politische Symbolhandlung auf eine Weise martialisch, die lächerlich und völlig unglaubwürdig ist. Dass wir den Kosovo annektieren, Teile von Nordmazedonien, um das ganze Territorium der Albaner zu erobern und hau vereinen – bitte! Das kann doch niemand ernst nehmen. Und was niemand ernst nehmen kann, funktioniert auch symbolpolitisch nicht. Aber – wartet! Bitte wartet! Trotzdem ist diese Idee nicht völlig falsch. Ich habe darüber nachgedacht. Es geht nicht um das Schwert, es geht um Skanderbegs Helm. Der Helm, liebe Freunden ist die Waffe! Und er wandte sich an den Chef und sagte: Du musst Dier Skanderbegs Helm aufsetzen!
Gelächter.
Jetzt wird der Witz surreal, rief Ismail Lani. Mit einer Handbewegung stellte der Regierungschef Ruhe her. Ja, lacht nur, sagte Fate. Jeder Albaner weiss: Auch wenn der Löwe nur noch einen Zahn hat, kann er sein Opfer reissen. Zote Kryeministër, du musst nur klarstellen, dass du, auch in einer Position sichtbarer Schwäche, der Löwe bist. Erstens nimmst du der Opposition ihr Thema, sie hat sich Skanderbeg auf ihre Fahnen geheftet. Den Mann, der die Albaner einte. Aber wenn du dich mit seinem Helm krönst, dann bist du es, der für die Einheit der Albaner steht, dann hast du die Nationalisten auf deine Seite gezogen. Das erreichst du mit dem Helm, dazu brauchst du kein Schwert. Zweitens wäre es die beste Antwort an Brüssel: Du erinnerst sie daran, dass Skanderbeg der Beschützer des europäischen Christentums gegen die Osmanen war. Du gibst den Albanern in der  Skanderbeg-Tradition mehr Gewicht, mehr Bedeutung für Europa, als die es jemals könntest, wenn du in Brüssel bloss um mehr Wohlstand bettelst. Dafür steht der Helm. Vergiss nicht: Die Europäer interessieren sich für Märkte oder für Symbole, für Symbole interessieren sie sich ganz verzweifelt, weil sie keine mehr haben, sie nennen es Narrative. Als Markt ist Albanien uninteressant, aber als Symbol haben wir mit Skanderbegs Helm einen sehr dicken Schädel! Und drittens zeigst du, gekrönt mit Skanderbegs Helm, dass du auch einen Plan B hast, eine Alternative, falls die EU uns bettelnd vor der Tür stehen lässt: Grossalbanien! Wofür auch Skanderbeg steht, wie auch für sein Geschick, immer wieder neue Bündnisse einzugehen, womit wir wieder bei China wären. Und das Beste daran ist: Es kostet nichts. Und der Helm ist glaubwürdiger als das Schwert. Es muss ja nur die Idee im Raum stehen und in gewissen Köpfen Unruhe machen.» (S. 63f.)

Das macht er tatsächlich, der Helm: Unruhe. Er wird zum unruhestiftenden Leitmotiv einer Geschichte, die insgesamt grotesk ist, im Einzelnen und im Detail aber höchst glaubwürdig und präzise erzählt ist. Wie in «Die Hauptstadt» erzählt Menasse die Geschichte als Reigen: Er begleitet eine Reihe unterschiedlicher Menschen in Albanien, in Brüssel, Warschau und Wien. Die meisten dieser Figuren kennen sich nicht, einige begegnen sich aber im Laufe des Romans, teils ohne es zu merken. 

Da ist die albanische Politik rund um den Zoti Kryeministër, den Ministerpräsidenten mit dem Hofdichter Fate Vasa, Ismail Lani, dem desillusionierten Pressesprecher und Ylbere Lenz, der idealistischen Journalistin. Dazu gehört auch Baia Muniq, die so heisst, weil ihr Vater Bayern-München-Fan war.  

Sie schlägt die Brücke zu einer anderen Gruppe Menschen, zu Beamten der EU-Zentrale in Brüssel, die sich mit den Beitrittskandidaten beschäftigen. Unter ihnen befindet sich der Österreicher Karl Auer. Und der interessiert sich nicht nur offiziell für Albanien und Baia Muniq.

Auer hat als Junge die Sommerferien immer zusammen mit seinem Cousin Franz Starek verbracht. Zusammen haben sie Karl May gelesen, darunter «In den Schluchten des Balkan», und vor allem viele Krimis. Und dann ist Franz mit seiner Liebe zu Detektivromanen tatsächlich Kriminalbeamter in Wien geworden. Da ermittelt er in einem seltsamen Diebstahl: Aus der Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien ist der so genannte Helm des Skanderbeg verschwunden. Es scheint die Arbeit von Profis gewesen zu sein, was alle Fachleute verwundert, denn es ist nicht gesichert, dass der Helm echt ist. Der Helm ist von zweifelhaftem Wert und war deshalb kaum geschützt. 

Es ist eine Komplikation, die Hofdichter Fate Vasa nicht vorausgesehen hat. Natürlich hat nicht der albanische Ministerpräsident den Helm geklaut. Die Opposition hat von seinen Plänen Wind gekriegt und sich den Helm unter den Nagel gerissen. Was zu einer Reihe von Verwicklungen führt. Von denen Kommissar Franz Starek natürlich keine Ahnung hat. Sein einziger Bezug zu Albanien ist Putzfrau Bessa Cakaj, Albanerin aus Nordmazedonien, die in seiner Wohnung sauber macht, seit er sich von seiner Frau getrennt hat. In letzter Zeit freut sich Franz auf den Freitag, wenn Bessa seine Wohnung putzt. 

Aus einer ganz anderen Warte schaut Adam Prawdower auf Europa: Adam war polnischer Widerstandskämpfer und hat Seite an Seite mit seinem Jugendfreund Mateusz für Solidarnosc gekämpft. Jetzt ist Mateusz Ministerpräsident in Polen und Adam arbeitet für die EU in Brüssel. Von da aus schaut er verzweifelt zu, wie sein Jugendfreund die Justiz, die Medien und die Freiheit aushöhlt. Er beschliesst, dass er etwas unternehmen muss.

Auch der albanische Ministerpräsident beschliesst, dass Albanien nicht einfach Frankreichs Veto über sich ergehen lassen kann. Er lädt deshalb die europäische Politprominenz zum Stapellauf eines neuen Kreuzfahrtschiffs, das Albanien gebaut hat: der SS Skanderbeg. Das Schiff soll am 28. November in See stechen, also am albanischen Nationalfeiertag. Wenige Wochen vor der grossen europäischen Balkankonferenz in Poznan, Polen, will Albanien seinen Fall Europa darlegen. So kommt es zum grossen Showdown auf dem Schiff. Alle Figuren des Buchs treffen sich auf dem Luxusliner zum grotesken Finale.

Die Stärke des Romans sind seine Einzelteile: Im Kleinen erzählt Menasse höchst unterhaltsam Geschichten, die gleichzeitig tiefe Einblicke geben in die Verschiedenheit der europäischen Kulturen – und die Abgründe der Menschen, die sie bevölkern. Es steckt viel Politik im Roman, ich habe viel gelernt über Albanien und seine Geschichte. Die Stärke von Menasse ist aber, dass er die Politik am Kleinen erzählt, in Form von Geschichten. Der polnische Dissident, der an seinem Hund verzweifelt, der Wiener Kommissar, der einen Flug verpasst, weil er sich nicht von seinem geliebten Sackmesser trennen will, der albanische Mediensprecher, dessen Haus zerfällt, weil die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind. Es sind diese Geschichten, die das Buch höchst unterhaltsam machen – nicht nur für Menschen, die sich für Politik interessieren, sondern schlicht für alle Menschen, die gerne gute Geschichten lesen.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Roman. Suhrkamp, 653 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-518-43080-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518430804

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Basel, 27. Oktober 2022, Matthias Zehnder

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