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Unmöglicher Abschied
Manchmal ist der Literaturnobelpreis eine Bestätigung eigener Leseerfahrungen. So habe ich das erlebt, als 2013 Alice Munro den Preis für ihre Kurzgeschichten erhielt oder 2017 Kazuo Ishiguro für seine Romane. Manchmal fragt man sich, was die Schwedische Akademie sich bei der Wahl des Preisträgers gedacht hat und manchmal sagen mir die Preisträger schlicht: nichts. Das war auch bei der Preisträgerin von 2024 so: Ich hätte, ehrlich gesagt, Han Kang auch dann nicht nennen können, wenn in einem Kreuzworträtsel drei Viertel der Buchstaben schon dagestanden wären. Von ihrem Roman «Die Vegetarierin» hatte ich zwar gelesen und gehört, das Buch selbst aber nie zur Hand genommen. Vielleicht wegen des Titels, ich weiss es nicht. Ich war deshalb skeptisch, als ihr neuer Roman «Unmöglicher Abschied» auf meinem Bücherstapel lag. Ich nahm ihn zur Hand, weil ich wissen wollte, wie diese offenbar so wichtige Koreanerin schreibt. Ich begann zu lesen – und konnte das Buch nicht mehr weglegen. Warum das Buch einen eigentümlichen Sog entwickelt und warum ich es Ihnen trotz seines düsteren Themas zum Beginn des neuen Jahres zur Lektüre empfehle, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 236. Buchtipp.
Wie sollen wir ein Buch aus einer fremden Kultur lesen? Ich war noch nie in Südkorea, ich kenne das Land aus den Nachrichten und aus Geschichtsbüchern. Natürlich kenne ich Technologie und Unternehmen aus Südkorea, zum Beispiel Samsung, LG und Hyundai. 2019 hat mich der Film «Parasite» von Bong Joon-ho gepackt. Es ist eine schwarze Komödie über die grossen Gegensätze zwischen arm und reich in Seoul. 2020 hat er als erster nicht-englischsprachiger Film den Oscar für den besten Film erhalten. Die Netflix-Serie «Squid Game» ist heute vielleicht sogar bekannter, ich kann damit aber eher weniger anfangen. Das gilt auch für K-Pop, die südkoreanische Popmusik. Die K-Pop-Band BTS ist ein globales Phänomen. Ihre riesige Fangemeinde ist als kulturelle Erscheinung interessant. BTS macht Musik für die ganze Welt, «Squid Game» ist für ein globales Publikum konzipiert und das gilt, wenn auch auf ganz andere Art und Weise, wohl auch für «Parasite». Aber was ist mit südkoreanischer Literatur?
Ich habe mich dafür entschieden, das Buch von Han Kang quasi naiv zu lesen. Mich also beim Lesen einfach dem Text zu überlassen. Ich habe mich natürlich über Han Kang informiert, über sie und über das Thema, das sie in ihrem Buch verarbeitet, das Massaker auf der Insel Jeju. Am 3. April 1948 protestierten die Einwohner der Insel gegen Polizeirepressionen und die rechtsgerichtete Regierung der Insel, die von der amerikanischen Besatzungsregierung eingesetzt worden war. Die Bevölkerung wehrte sich gegen eine Teilung von Korea und setzte sich für Wahlen in ganz Korea ein. Polizei und Armee schlugen die angeblich kommunistischen Proteste mir grosser Gewalt nieder. Nicht nur die Demonstranten wurden verhaftet und hingerichtet, sondern auch ihre Familien und Unterstützer. Etwa 27’000 Menschen wurden ermordet, hauptsächlich Zivilisten. Weil sich die Protestierenden in die Berge zurückzogen, zerstörte die Armee alle Dörfer und Felder, die mehr als vier Kilometer von der Küste entfernt waren. Von ursprünglich 400 Dörfern auf der Insel wurden 270 ausgelöscht. Danach versuchte die südkoreanische Regierung, die Erinnerung an das Massaker auszumerzen. Gedenkveranstaltungen und die Bergung der Toten waren streng verboten. Erst 1999 untersuchte die mittlerweile demokratische Regierung unter Präsident Kim Dae-jung die Vorgänge auf der Insel.
Das ist der historische Hintergrund des Romans. Für koreanische Leserinnen und Leser ist es wichtig, die historischen Bezüge zu kennen. Weil das Massaker an der Zivilbevölkerung auf der Insel und das jahrelange Vertuschen der Verbrechen durch die Regierung tiefe Wunden hinterlassen hat, rührt Han Kang mit ihrer Erzählung an eine Verletzung ihres Volkes. Ich habe erst durch dieses Buch von der Brutalität der südkoreanischen Regierung erfahren – und erst dadurch begriffen, wie verheerend der versuchte Putsch des Präsidenten vor einigen Wochen war. Das alles müssen Sie aber eigentlich nicht wissen, wenn Sie das Buch zur Hand nehmen. Ich glaube, wir Westeuropäer können und dürfen es auch als poetisches Meisterwerk lesen, uns von den mächtigen Sprachbildern mitreissen lassen und wie Kinder darüber staunen.
Denn genau das ist es: Eine ungemein sprachmächtige, poetische Erzählung. Ich habe sie so gelesen, wie ich einen Film von Akira Kurosawa oder von Studio Ghibli anschaue: fasziniert, staunend, ergriffen und ganz jenseits aller historischen Überlegungen berührt. Han Kang schafft es, mit ihrer Sprache universell-poetische Bilder zu schaffen, die für mich als Leser zugänglich sind, auch wenn mir die Kultur Südkoreas nicht vertraut ist. Aber schauen wir uns den Roman im Einzelnen etwas genauer an. Ich versuche Ihnen, wie immer in meinen Buchtipps, ohne zu viel zu verraten einige Hinweise zu geben, die Ihnen bei der eigenen Lektüre vielleicht hilfreich sein können.
Der Roman dreht sich um zwei Frauen, Gyeongha und Inseon. Ich hoffe, ich spreche die beiden Namen einigermassen korrekt aus. Die beiden sind etwa gleich alt, in der Gegenwart sind sie wohl Ende Vierzig. Sie haben sie vor mehr als zwanzig Jahren bei der Arbeit kennengelernt: Gyeongha war damals 24 Jahre alt und arbeitete als Redakteurin für eine Zeitschrift. Die Redaktion beschäftigte keine Fotografen, deshalb machten die Redakteure die meisten Aufnahmen selbst. Wenn es aber um wichtige Interviews oder Reisereportagen ging, wurden freiberufliche Fotografen und Kameraleute engagiert. Ihre Kollegen hatten Gyeongha geraten, mit einer Frau zusammenzuarbeiten, weil das auf mehrtägigen Reportagereisen einfacher sei. So lernte sie Inseon kennen, die als freiberufliche Fotografin und Dokumentarfilmerin arbeitete. Inseon hatte gerade an einer Fachhochschule für Fotografie ihr Diplom gemacht. In den folgenden Jahren war Gyeongha jeden Monat mit Inseon unterwegs. Als Gyeongha den Verlag verliess, blieben die beiden Frauen befreundet. Inseon wurde für Gyeongha zur grossen Schwester.
Inseon drehte mehrere Dokumentarfilme, wendete sich dann aber vom Filmen und Fotografieren ab. Sie machte eine Tischlerlehre und begann, mit Holz zu arbeiten. Als ihre Mutter pflegebedürftig wurde, zog sie zurück in ihr Heimatdorf auf der Insel Jeju, ins Haus, in dem sie aufgewachsen war. Im alten Mandarinenlagerschuppen begann sie, Möbel und Alltagsgegenstände aus Holz herzustellen und auch künstlerisch mit Holz zu arbeiten.
Gyeongha und Inseon haben ein gemeinsames Projekt. Dabei geht es um die Verfilmung eines Traums, der Gyeongha immer wieder heimsucht. Mit der Schilderung dieses Traums beginnt das Buch. Im Traum steht Gyeongha in dichtem Schneetreiben auf einem Acker am Meer. Im Acker stehen tausende von schwarzen Baumstämmen, «etwa so dick wie Eisenbahnschwellen und verschieden hoch», «wie Menschen unterschiedlichen Alters», als hätte man «Tausende von Männern, Frauen und mageren Kindern im Schnee ausgesetzt, die die Schultern hochzogen.»
«Ist das hier ein Friedhof?, fragte ich mich. Sind all diese Baumstümpfe Grabsteine? Ich wanderte zwischen den dunklen Stämmen, auf denen Schneeflocken wie Salzkristalle lagen, und den jeweils dahinter liegenden Erdhügeln umher. Unvermittelt blieb ich stehen, weil ich seit einer Weile Wasser unter meinen Turnschuhen spürte. Seltsam, ging es mir durch den Kopf, als ich bemerkte, dass mir das Wasser inzwischen bis zu den Knöcheln stand. Ich wandte mich um und traute meinen Augen nicht. Dort, wo ich am Ende des Ackers den Horizont wahrgenommen hatte, befand sich ein Meer. Gerade kam die Flut.
Ohne darüber nachzudenken, stellte ich mir die Frage: Warum legt man an solch einem Ort einen Friedhof an? Immer schneller drängte das Wasser heran. Kamen und gingen die Gezeiten jeden Tag auf diese Art und Weise? Waren dadurch nur noch gewölbte Erdhügel von den Gräbern übrig geblieben, und hatte das Meer all die Knochen davongeschwemmt?
Die Zeit wurde knapp. Für die bereits überspülten Gräber kam jede Hilfe zu spät, aber die Gebeine der Toten aus den höher gelegenen Gräbern mussten umgehend an einen anderen Ort umgebettet werden, bevor das Meer weiter vorrückte. Aber wie? Außer mir war weit und breit niemand da. Ich hatte nicht einmal eine Schaufel. Wie aber sollte ich mit all diesen Gräbern verfahren? Ohne zu wissen, was ich tun sollte, pflügte ich inmitten der schwarzen Stümpfe hastig durch das Wasser, das mir inzwischen bis zum Knie reichte. (Seite 7f.)
Dieser Traum quält Gyeongha immer wieder. Vor vier Jahren, als Gyeongha zur Totenfeier der Mutter von Inseon auf die Insel Jeju gereist war, erzählte Gyeongha ihrer Freundin von dem Traum. Wie der Schnee auf die schwarzen Baumstümpfe fällt und das Meer die Gräber umspült. Sie fragt Inseon, ob sie Lust auf ein gemeinsames Projekt habe. Was sie davon hielte, zusammen mit ihr Baumstämme in der Erde einzugraben, sie mit schwarzer Farbe anzustreichen und darauf zu warten, dass irgendwann Schnee fiel, um es in einem Video festzuhalten.
«Nun, wir sollten anfangen, solange der Herbst noch nicht vorbei ist», antwortete sie, nachdem sie mir bis zum Ende zugehört hatte. Sie trug einen schwarzen Hanbok, und ihr ernstes und ruhiges Gesicht war von einer Kurzhaarfrisur umrahmt, zusammengehalten von einem weißen Gummiband. «Wenn wir neunundneunzig Baumstämme auf dem Acker einbuddeln wollen, müssen wir das tun, bevor der Boden gefriert», erklärte sie. «Lass uns spätestens Mitte November Helfer organisieren, mit denen wir die Stämme einpflanzen. Wir können einen brachliegenden Acker verwenden. Ich habe ihn von meinem Vater geerbt, aber niemand nutzt ihn.»
«Gibt es auch auf Jeju Bodenfrost?», fragte ich.
«Natürlich, in den mittleren und hohen Lagen friert es den ganzen Winter hindurch», entgegnete Inseon.
«Wird es genug schneien, um das Video aufzunehmen? Ich hoffe, der Schnee fällt in dicken Flocken.» Der Grund, weshalb ich noch einmal nachhakte, war, dass ich nicht daran gedacht hatte, das Projekt auf Jeju durchzuführen. Wie stark schneite es überhaupt auf der Insel, deren Baumbestand gemäßigte und subtropische Arten umfasste? Ich hatte eher an einen Ort gedacht, der kälter als Seoul war, etwa irgendwo im Grenzgebiet von Gangwon‑do.
«Ach, wegen des Schnees brauchst du dir keine Sorgen zu machen.» (Seite 44f.)
Inseon beginnt, an dem Projekt zu arbeiten. Sie organisiert sich genügend Baumstämme und bearbeitet sie. Sie zersägt die Baumstämme, stutzt und schnitzt sie zurecht, um 99 lebensgrosse Skulpturen herzustellen, die sich wie kauernde Menschen neigen und krümmen. Bei der Arbeit daran verletzt sie sich so schwer, dass sie nach Seoul in ein spezialisiertes Krankenhaus eingeliefert werden muss. Als sie nach der Operation aus der Narkose erwacht, schreibt Inseon ihrer Freundin Gyeongha eine SMS und bittet sie, so schnell als möglich zu ihr zu kommen. Im Roman ist das der Beginn der Handlung in der Gegenwart.
Am Krankenbett erzählt Inseon von ihrem Unfall, sagt Gyeongha aber nicht, dass sie sich bei der Arbeit an ihrem gemeinsamen Projekt verletzt hat. Inseon bittet Gyeongha, das nächste Flugzeug zu nehmen und auf die Insel Jeju zu reisen in ihr Heimatdorf, in ihr Haus. Inseon hatte zwei kleine, weisse Vögel, Papageien, die gelernt hatten zu sprechen und sogar zu singen. Einer der beiden Vögel, Ami, ist vor einigen Monaten gestorben. Den anderen Vogel, Ama, musste Inseon nach ihrem Unfall allein im Haus zurücklassen. Inseon bittet deshalb ihre Freundin inständig, so rasch als möglich in ihr abgelegenes Haus zu fahren und den kleinen weissen Vogel zu retten. «Ich möchte, dass du hinfährst. Bleib bitte da und kümmere dich um Ama! Bis ich entlassen werde», fleht Inseon ihre Freundin an.
Also fährt Gyeongha vom Krankenhaus mit dem Taxi direkt zum Flughafen, nimmt den nächsten Flug nach Jeju und landet am Abend in dichtem Schneetreiben auf der Insel. Sie erwischt den letzten Bus, der zum Heimatdorf ihrer Freundin fährt, und tastet sich da in der Dunkelheit durch dichtes Schneetreiben zum einsam gelegenen Haus ihrer Freundin. Der Schnee fällt immer dichter, mit letzter Kraft schafft es Gyeongha, sich durch Dunkelheit und Schneewehen zur Werkstatt von Inseon zu kämpfen. Da sieht sie am Boden das Blut ihrer Freundin. Sie schaufelt sich einen Weg ins Haus. Wenig später fallen Strom und Wasser aus. Gyeongha sitz im Haus ihrer Freundin fest, es ist kalt, draussen fällt der Schnee in so grossen Flocken, dass es aussieht, als wäre das Haus umschwirrt von Zehntausenden weiss gefiederten Vögeln. Im Haus vermischen sich Realität, Erinnerung, Traum und Visionen immer mehr.
Das ist die Rahmenhandlung des Romans. Eingeflochten sind, nicht erst im Haus, schon vorher, Erinnerungen und Träume, Rückblenden und Erzählungen von Inseon. An einem Abend, Gyeongha und Inseon haben in einem kleinen Restaurant gegessen, draussen hat es begonnen, zu schneien, die beiden sind auf dem Rückweg. Da erzählt Inseon Gyeongha von ihrer Mutter. Die beiden Freundinnen stapfen durch den frisch gefallenen Schnee, es schneit weiter, die Schneeflocken schmelzen sofort auf ihrer warmen Haut. Inseon erzählt:
Als meine Mutter jung war, töteten Einheiten von Militär und Polizei alle Bewohner ihres Dorfes. Sie besuchte zu dieser Zeit die sechste Klasse und war zusammen mit meiner siebzehnjährigen Tante unterwegs zu einem Vetter, um eine Nachricht zu überbringen, weshalb sie dem Ganzen entging. Die beiden Schwestern erfuhren am nächsten Tag davon und kehrten in ihr Dorf zurück, wo sie den ganzen Nachmittag damit zubrachten, das Schulgelände zu durchstreifen. Sie suchten nach den Leichen ihres Vaters, ihrer Mutter, ihres Bruders und ihrer achtjährigen Schwester. Überall lagen Tote, einzeln oder aufgehäuft, und die Mädchen gingen von einem zum anderen. Der Schnee, der seit der letzten Nacht gefallen war, hatte jedes Gesicht mit einer dünnen Schicht überzogen. Da sie deswegen die Gesichter nicht erkennen konnten, wischte meine Tante die Flocken bei jedem Einzelnen mit einem Taschentuch ab. Sie brachte es wohl nicht übers Herz, es mit bloßen Händen zu tun. «Ich übernehme das Abwischen, und du siehst sie dir gut an», sagte meine Tante zu meiner Mutter. Sie wollte nicht, dass ihre jüngere Schwester die leblosen Gesichter berührte, aber meine Mutter fürchtete gerade den Satz «du siehst sie dir gut an». Sie schloss die Augen, packte den Ärmel ihrer Schwester und folgte ihr auf Schritt und Tritt, als würde sie daran kleben. Wann immer die Tante zu ihr sagte: «Schau hin und sag mir Bescheid», öffnete meine Mutter ihre Augen und zwang sich, hinzusehen. Seit diesem Tag wusste sie es. Wenn man stirbt, erkaltet der Körper. Der Schnee sammelt sich auf den bloßen Wangen und bildet eine blutdurchmischte Schicht dünnen Eises. (Seite 80f.)
Der Schnee wird zum Leitmotiv des Buchs. Der Schnee deckt alles zu und verdeckt das Vergangene. Auf Leichen bleiben die Schneeflocken liegen, weil die Körper kalt sind. Auf lebendiger, warmer Haut schmelzen die Schneeflocken. Die grossen Flocken sehen aus wie weisse Vögel. Die kleinen weissen Vögel von Inseon sind wie Schneeflocken in einem Käfig. Im eingeschneiten Haus ist Gyeongha völlig abgeschnitten von der Aussenwelt. Das bedeutet: Sie ist konfrontiert mit ihrer Innenwelt. Träume, Erinnerungen und Visionen vermischen sich zu einer poetischen Erzählung, die das schreckliche Massaker auf der Insel verarbeitet. Es wird klar, dass das Projekt von Gyeongha und Inseon, die erstarrten Bäume auf dem Feld, ein Gedenken an das Massaker sein wird. Das Projekt gibt dem Roman auch den Titel:
«Wie lautet der Titel?», fragt Inseon, mit einem Holzlöffel den Inhalt einer Frischhaltebox in den Wasserkessel gebend. «Ich meine den Titel unseres Projekts.» Lächelnd dreht sie sich zu mir um, bevor sie Wasser aus einer Flasche in den Kessel gießt. «Mir ist bewusst geworden, dass ich dich überhaupt nicht nach dem Titel gefragt habe.» Ich antworte: «Unmöglicher Abschied.» Inseon kommt mit zwei Tassen und dem Wasserkessel zu mir, während sie wiederholt: «Unmöglicher Abschied.» (Seite 187)
Es bleibt offen, ob mit dem Abschied der Tod der ermordeten Zivilbevölkerung auf Jeju gemeint ist oder der Abschied von Inseon im Krankenhaus in Seoul. Vielleicht ist auch einfach das Leben gemeint. Ich weiss es nicht. Es spielt wohl auch keine Rolle. Mich haben die Sprache und die starken Bilder, die Han Kang für die Verletzlichkeit und Fragilität des Lebens findet, gepackt und nicht mehr losgelassen.
Wenn es irgendwo im Paradies oder im Totenreich so etwas wie einen riesigen Spiegel gibt, der uns auf Schritt und Tritt beobachtet und jede unserer Taten aufzeichnet, wie einige archaische Religionen behaupten, dann erscheint diese Zeit meines Lebens darin wie eine Schnecke, die ihr Gehäuse abstreift und über die Schneide eines Messers gleitet. Ein Körper, der sich ans Leben klammert. Ein Körper mit tiefen Schnitten und Stichwunden. Ein Körper, der sich losreißt und zugleich festkrallt. Ein Körper, am Boden zerstört, bettelnd. Dem ein endloser Strom von Blut, Schlamm oder Tränen entweicht. (Seite 10f.)
Die Zeit erscheint im Spiegel des Totenreichs wie eine Schnecke, die ihr Gehäuse abstreift und über die Schneide eines Messers gleitet. Das Bild für eine Depression erwecket jene furchtbare Vorstellung, wie sie eine Depression ja auslöst. Und ein Eindruck der Zerbrechlichkeit des Lebens:
Während ich langsam den übermäßig heißen Brei löffelte, blickte ich durch die Glastür ins Freie und betrachtete die zerbrechlichen Körper der Vorübergehenden. Da erkannte ich, wie fragil das Leben ist. Wie anfällig Fleisch, Organe, Knochen und der Atem für Verfall und Stillstand sind. Alles war nur die Frage einer einzigen Entscheidung. (Seite 13)
Und immer wieder der Schnee. Er schwebt ein grossen Flocken vom Himmel, türmt sich auf dem Boden, bedeckt alles Vergangene, schmiegt sich an die Welt.
Das ist seltsam. Schnee fühlt sich fast immer unwirklich an. Ist es wegen seiner Langsamkeit oder aufgrund seiner Schönheit? Wenn Schneeflocken in bedächtigem Tempo für beinah eine Ewigkeit durch die Luft trudeln, werden Wichtiges und Unwichtiges plötzlich scharf voneinander getrennt. Manche Sachverhalte treten erschreckend klar zutage. Schmerzen etwa. Oder die Tatsache, dass ich den vergangenen Monaten getrotzt habe, hin- und hergerissen, ob ich mein Testament vollenden soll oder nicht. Auch diesen Moment, in dem ich meine Freundin besuche und dadurch der Hölle meines Lebens für eine Weile entfliehe, finde ich befremdlich und zugleich prägnant. (Seite 42)
Der Schnee also trennt Wichtiges und Unwichtiges scharf voneinander und lässt die Dinge klar hervortreten. Der Schnee schneidet Gyeongha im Haus von Inseon von der Aussenwelt ab und lässt das Hervortreten, um was es in dem Buch geht: Die Erinnerung, das Trauma, die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit.
Ich weiss nicht, ob ich dem Buch mit diesen Hinweisen gerecht werde. Mich haben die Sprache und die Bilder, die Han Kang damit entwirft, nicht mehr losgelassen. Ich werde künftig, wenn Schnee fällt und die Flocken wie kleine Vögel durch die Luft trudeln, immer an die beiden Frauen in Korea denken und daran, wie unscharf die Trennung zwischen Traum, Erinnerung, Wahrnehmung und Wirklichkeit ist. Wenigstens, wenn es schneit.
Han Kang: Unmöglicher Abschied. Roman. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau, 315 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-351-04184-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351041847
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Basel, 02.01.2025, Matthias Zehnder
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