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Sobald wir angekommen sind
Benjamin Oppenheim ist Drehbuchautor, wenn auch kein erfolgreicher. Er hat zwei Kinder und hat sich von seiner Frau Marina getrennt. Sie haben sich nach dem Nest-Prinzip organisiert: Die erste Hälfte der Woche lebt er mit den Kindern in der Wohnung, die zweite Hälfte der Woche lebt Marina in der Wohnung. Ben und Marina sind Juden. Sie praktizieren ihren Glauben zwar nicht, aber Micha Lewinsky zeichnet sie liebevoll als jüdisch. Zum Beispiel rechnen sie immer mit dem Schlimmsten. Ganz besonders, was den Krieg in Osteuropa angeht. Als tatsächlich in Krasny ein Waffenlager explodiert und in Polen eine Rakete einschlägt, wissen Ben und Marina, dass das nur eines bedeuten kann: der Dritte Weltkrieg wird ausbrechen. Also ergreifen sie die Flucht. Schon Wochen zuvor haben sie vereinbart, dass sie nach Brasilien ausreisen wollen, wenn es so weit ist. Südamerika scheint ihnen als einziges Gebiet der Welt sicher zu sein. Vielleicht ist Ben auch auf Brasilien gekommen, weil er seit Langem an einem Drehbuch über Stefan Zweig schreibt. Und der ist schliesslich auch nach Brasilien geflüchtet. Einziges Problem: Ben und Marina sind ja eigentlich getrennt. Und Ben hat wieder eine Freundin. Julia aber bleibt zurück und fragt sich, was das alles soll. Die Antwort ist ganz einfach: Für Ben und Marina heisst ankommen, die Flucht zu ergreifen. Warum das Buch wirklich lustig zu lesen ist, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 223. Buchtipp.
Wenn ich Biografien von Schriftstellern der Weimarer Republik lese, frage ich mich immer, warum die so lange in Deutschland oder Österreich geblieben sind. Erich Maria Remarque wurde 1933, in der Nacht, als Adolf Hitler die Macht ergriff, von seiner Freundin zur Ausreise in die Schweiz fast schon überredet – in letzter Minute schaffte er es nach Ascona. Carl Zuckmayer reiste nach dem Anschluss von Österreich 1938 praktisch mit dem letztmöglichen Zug in die Schweiz und schaffte es nur über die Grenze, weil er einen Beamten mit dem Eisernen Kreuz am Revers beeindruckte. Erich Kästner blieb in Berlin, weil er die Nazis für einen Spuk hielt, der rasch vorübergehen werde. Beim Lesen der Biografien rauft man sich die Haare und fragt sich, warum die Schriftsteller so lange so blind waren.
Aber wie wäre es, wenn die Lage bei uns so brenzlig würde, dass man fliehen muss? Würden wir die Zeichen erkennen und rechtzeitig das Land verlassen? Im Buch von Micha Lewinsky machen Ben und Marina genau das: Um sie herum herrscht die grosse Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg in der Ukraine. Aber sie sehen ihn kommen, den grossen Krieg, und bereiten sich auf das Schlimmste vor. Also packen sie die beiden Kinder Rosa und Moritz und setzen sich in den nächsten Flieger nach Brasilien. Nur weg hier.
Das tönt schlimm und traurig, ist es aber überhaupt nicht. Micha Lewinskys Roman ist eher eine Groteske, ich habe bei der Lektüre immer wieder laut gelacht. Zum Beispiel, als Lewinsky am Anfang schildert, wie unterschiedlich Ben und Marina sind. Sichtbar wird das am Kleiderschrank in der gemeinsamen Wohnung.
Der geteilte Schrank war ein planerisches Unikum. Zwei Systeme, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, existierten hier auf engstem Raum beisammen, getrennt allein durch ein dünnes Regal. Marinas Kleider lagen im oberen Teil des Schranks. Sie hatte ihre malven- und dezent sandfarbenen T-Shirts nach Marie Kondo gerollt und die feine Unterwäsche ordentlich in kleine bunte Boxen verstaut. Im unteren Teil des Schrankes quollen Bens Kleider ungebügelt aus dem vollgestopften Regal. Jeans, Pullover, Hemden, Regenjacke und ein Fondue-Caquelon, in dem sein Reisepass steckte, lagen planlos beisammen. Ben war nicht stolz darauf, dass sein Teil des Schrankes so aussah. Im Gegenteil. Immer wieder hatte er versucht, den knappen Raum besser zu nutzen. Aber es fehlte ihm einfach das Talent zur Ordnung. Womöglich auch der Wille. Dieser halbe Quadratmeter Kleiderschrank war sein Territorium. Hier galten seine Regeln. Es war der einzige Fleck in der ganzen Wohnung, den er nicht aufräumen musste, wenn Marina übernahm. Überall sonst verwedelte Ben jeden Mittwochvormittag und jeden zweiten Freitagabend gewissenhaft alle Spuren, die daran erinnerten, dass er sich in der Wohnung aufgehalten hatte. Er fegte den Küchenboden, saugte den Flur, kratzte die Kackreste der Kinder von der Kloschüssel. Er legte die aufgerissenen Briefumschläge ins Altpapier und den angeschnittenen Käse in die Tupperdose. Aber was er auch tat, es war nie genug. Sobald Marina sich in der Wohnung einrichtete, teilte sie ihm verlässlich mit, was er übersehen hatte. Die Flaschen waren nicht entsorgt, im Kühlschrank schimmelte der Bio-Sellerie, die Fingernägel der Kinder waren nicht geschnitten. Marina hatte immer recht. Ihre Ansprüche waren nicht überzogen. Und doch ärgerte Ben sich jedes Mal über die Hinweise, die er als Bevormundung empfand. Manchmal fragte er sich, wieso sie sich überhaupt getrennt hatten, wenn die Kritik so unvermindert anhielt. (Seite 10f.)
Das ist präzise beobachtet und aus der Optik von Ben wunderbar selbstironisch erzählt. Wie Lewinsky ist dieser Ben Schriftsteller und Drehbuchautor. Im Unterschied zu Lewinsky ist Ben allerdings erfolglos. Vor vielen Jahren landete er einen Überraschungserfolg mit seinem Erstlingsroman, seither hat Ben aber nie mehr etwas rechtes zustande gebracht. Er scheitert an seinem Schreiben – und an seinem Alltag. Dabei wäre er bereit, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen. Er will sich rasieren, seine Steuererklärung erledigen und endlich mal die Rückenübungen machen, die er immer wieder vergisst. Er will all das tun, was man tut, wenn man in seinem Leben angekommen ist. Allerdings verschiebt er alles immer wieder. Er will das alles tun, sobald er angekommen ist. Darauf nimmt auch der Titel des Romans Bezug: «Sobald wir angekommen sind» – in der Sicherheit von Brasilien – oder im Alltag unseres Lebens.
Es ist auch eine ironische Umkehr dessen, was Lewinsky als «Leitmotiv des Judentums» bezeichnet: die Angst, verfolgt und vertrieben zu werden. Ben ist diesbezüglich durch und durch Jude. Auch wenn er kaum etwas weiss über seine Religion. Als er in Brasilien mit der Familie zufällig auf eine historische Synagoge stösst, will er sie unbedingt den Kindern zeigen.
Ben setzte zu einem Fachvortrag in Judaistik an: «Die jüdischen Frauen waschen sich regelmäßig», sagte er. Dann hielt er inne. Den Rest hätte er nachlesen müssen. Es betrübte ihn, dass er selbst so wenig wusste. Und dass er es versäumt hatte, seinen Kindern etwas mitzugeben. Ben schämte sich vor seiner verstorbenen Großmutter und all den anderen Vorfahren, die so viel durchgemacht hatten, um das Judentum in der Diaspora am Leben zu erhalten. Generation für Generation hatten sie widrigste Umstände in Kauf genommen, um Traditionen und Rituale weiterzugegeben. Ben aber zog es vor, Rosa an ihrem freien Nachmittag in Starke Mädchen zu schicken und Moritz zu den kleinen Pfadfindern. Zum Glück haben wir uns wenigstens zu dieser Flucht entschieden, dachte er. So bekommen die Kinder doch noch ein Gefühl für ihre Herkunft. (Seite 144)
Das ist der Kernsatz: Die Herkunft der Juden, das ist die Flucht. Entsprechend fühlen sich Ben und Marina erst auf der Flucht zu Hause und finden in Brasilien (fast) wieder zueinander. Micha Lewinsky erzählt das als Groteske. Es ist also verzweifelt komisch. Etwa die Unfähigkeit von Ben, sich zu verständigen. Sein Vater, seine Geliebte Julia und sein Freund Joachim sind alle eingesponnen in ihre eigenen Welten. Er dringt nicht zu ihnen durch. Joachim befindet sich wegen einer Angststörung in einer psychiatrischen Klinik. Im Vergleich zu Ben und dessen Ängsten wirkt Joachim aber geradezu normal. Julia ist lebenslustig, aufrichtig und zärtlich. Ben droht aber, ihre Liebe zu verspielen, weil er ihr gegenüber unter einem Imposter Syndrom leidet. Und seinem Vater gegenüber kommt er ohnehin kaum zu Wort. Der Vater schenkt ihm ein seltsames Buch aus dem Jahr 1912: «Rassenmerkmale der Juden», geschrieben von Dr. Maurice Fishberg, einem New Yorker Juden. Dieses Buch gibt es tatsächlich. Fishbaum führt darin die Hysterie der Juden auf ihre Leidensgeschichte zurück und schreibt: «Sie schreien, noch ehe sie gehauen werden». Für Ben gilt das definitiv.
Auch in Brasilien versucht er, an seinem Drehbuch über Stefan Zweig zu arbeiten:
Stefan Zweig hatte die Geschichte am Ende recht gegeben. Er war früh emigriert und brauchte sich dafür nie zu rechtfertigen. Als er in Richtung Südamerika aufbrach, waren seine Bücher in Deutschland bereits verbrannt worden. Bens Bücher wurden nur eingestampft. Um Platz zu schaffen im Lager, wie ihm der Verlag mitteilte. Zweig glorifizierte sein neues Zuhause. Brasilien war ihm ein Land der Zukunft und der Hoffnung. Ein Gegenentwurf zum alten Europa, das nicht mehr das alte war. Die Diktatur von Getulio Vargas blendete er ebenso aus wie die große Armut. Zweig lobte die Idee eines Staates, in dem alle die gleichen Chancen hatten, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft. Und er vermied es, allzu genau hinzuschauen. Ben konnte das gut nachvollziehen. Auch er empfand ein geringes Bedürfnis, sich draußen umzusehen. Was sollte er mit neuen Eindrücken? Seine Vorstellung war gemacht. Sein Drehbuch fast fertig. Nun musste er aufpassen, die klare Vision nicht zu verwässern, indem er sie der banalen Realität aussetzte. (Seite 132)
Das sollten Sie auch mit diesem Buch nicht machen: Mit der Realität, mit dem realen Krieg und realen Fluchtgründen hat es wenig zu tun. Es ist aber eine wunderbar ironische Auseinandersetzung mit dem Schreiben, mit der jüdischen Identität – und mit dem Mann-sein in der Gegenwart. Wie gesagt: Ich habe öfter laut gelacht. Und das will etwas heissen.
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind. Diogenes, 288 Seiten, 34.00 Franken; ISBN 978-3-257-07315-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073157
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Basel, , Matthias Zehnder
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