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Tabak und Schokolade
Der Schweizer Schriftsteller Martin R. Dean ist 1955 in Menziken im Kanton Aargau geboren, das ist ziemlich genau in der Mitte zwischen Aarau und Luzern und damit ziemlich genau in der Mitte des Schweizer Mittellands. Er hat in Menziken die Primarschule und in Aarau die Kantonsschule besucht und in Basel und Zürich Germanistik und Philosophie studiert. So weit, so normal. In einem Punkt hat er sich aber von seinen Mitschülern unterschieden: Er war (und ist), wie er selber sagt kaffeebraun. Der Vater von Martin R. Dean stammt aus Trinidad, er war ein Nachfahre indischstämmiger Kontraktarbeiter, die auf den Plantagen der Insel in der Karibik geschuftet hatten. Seine Mutter war als junge Frau ihrem Mann mit Baby Martin nach Trinidad gefolgt. Einige Jahre später kehrte sie desillusioniert mit dem vierjährigen Martin zurück nach Menziken und verlor kaum mehr je ein Wort über die Zeit und den dunklen Mann in Trinidad. Seine Familie habe die frühen Jahre seiner Mutter auf der tropischen Insel verdrängt, vergraben und ins Vergessen gestossen, sagt Dean. Und mit ihnen den ersten Teil seines Lebens. Nach dem Tod seiner Mutter streitet die Verwandtschaft um das nicht unbeträchtliche Erbe der Mutter. Dean geht dabei weitgehend leer aus. Ihm bleibt nur ein Fotoalbum, ein rot eingebundenes Album aus den fünfziger Jahren. Als er darin blättert, trifft es ihn wie ein Blitzschlag: Es sind die Bilder aus seiner versunkenen Kindheit auf Trinidad. In seinem Buch erzählt er, wie er der Spur dieser Bilder nachgegangen ist, der Spur seiner Vorfahren, der geknechteten Arbeiter auf Trinidad. In meinem 221. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum die Erzählung dieser persönlichen Suche von Martin R. Dean uns allen viel zu sagen hat.
Ein grösserer Gegensatz ist kaum denkbar. Hier das betuliche Bauerndorf Menziken im Kanton Aargau mit ein paar Tausend Einwohnern. Stärkste Partei mit einem Wähleranteil von 45 Prozent: die rechtsbürgerliche SVP. Da die in jeder Beziehung farbige Insel Trinidad, die grösste Insel der Kleinen Antillen im karibischen Meer, nur wenige Meilen vor der Küste von Venezuela. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Nachfahren afrikanischer Sklaven, zwei Fünftel sind Nachfahren von indischen Kontraktarbeitern. Nichts verbindet das Dorf im Aargau mit der Karibikinsel.
In der Person von Martin R. Dean sind Gegensätze Menziken und Trinidad vereint: Seine Mutter aus dem Aargauer Dorf hatte in London einen jungen Mann aus Trinidad kennengelernt und war mit ihm zunächst in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Nach der Geburt des kleinen Martin folgte sie ihrem Mann mit dem Baby nach Trinidad. Bis heute sei sein Erstaunen über seine junge Mutter gross, schreibt Martin R. Dean. Sie muss den Mann wirklich geliebt haben, sonst wäre sie nie auf diese abgelegene Insel mitgegangen. Das Mädchen aus dem Aargau suchte tatsächlich sein Glück auf einer tropischen Insel mit absurd hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität.
Die Beziehung hält kaum ein Jahr. Als sie zwanzig ist, flüchtet seine Mutter mit Martin auf dem Arm aus dem Haus in Port of Spain, um ihn vor seinem Vater zu schützen. Der ist wieder betrunken nach Hause gekommen, sie haben sich gestritten, er hat sie geschlagen. Danach hat er versucht, seine Zigarette auf der Haut des Kindes auszudrücken. Nur mit einem Nachthemd bekleidet flüchtet das Mädchen aus dem Wynental auf die Strasse. Ein gefährliches Unterfangen für eine junge, weisse Frau. Zufällig fährt in diesem Moment Isa Wright im Jeep vorbei, eine Isländerin, die eine grosse Plantage verwaltet. Asa Wright nimmt Martins Mutter mit. Sie bleibt ein Jahr lang bei Asa Wright und arbeitet als Sekretärin für die Kaffee- und Kakaoplantagenbesitzerin, führt die Buchhaltung und zahlt den Arbeitern die Löhne aus. Martin verbringt die ersten vier Jahre seines Lebens auf Trinidad. Dann kehrt die Mutter mit dem Kind und ihrem zweiten Mann, einem Arzt, zurück ins Dorf im Kanton Aargau.
Nach dem Tod der Mutter kümmert sich ein Willensvollstrecker im Haus der Mutter um die Verteilung des Erbes. Martin soll weitgehend leer ausgehen. Der Willensvollstrecker spricht über das nicht unbeträchtliche Vermögen der Mutter. Martin kommt die Aufzählung der Immobilien und der vielen Gegenstände immer absurder vor. Seine tote Mutter scheint nur aus Bankkonti, Aktien, Immobilien und Mobiliar zu bestehen, die an die Familie gehen. Er allein scheint ihre Geschichte zu erben, die von ihrem Aufbruch in jungen Jahren in ein tropisches Land erzählt und von zwei miteinander verfeindeten Männern von derselben fernen Insel. Es ist eine Zeit, die im Dunkeln liegt. Seine Familie habe die frühen Jahre seiner Mutter in der Karibik verdrängt, vergraben, ins Vergessen gestossen. Und damit auch den frühesten Teil seines eigenen Lebens. Diese Zeit sei der Familie und seinem Stiefvater immer peinlich gewesen.
Martin hält es nicht mehr aus bei der Testamentseröffnung im Wohnzimmer und bei den schachernden Verwandten. Er steht auf, wandert im Haus herum und findet sich im Schlafzimmer der Mutter wieder. Da steht die Schublade ihres Nachttischs offen. Der Schmuck ist weg, man hat das Gold und Silber weggetragen. Aber neben dem Nachttisch entdeckt er ein Fotoalbum.
Es ist ein rot eingebundenes Album aus den fünfziger Jahren, in dem jede Seite zur Schonung der Abzüge mit einem dünnen Seidenpapier versehen ist. Ich blättere und sehe Bilder, die mich wie ein Blitzschlag treffen. Es sind Bilder aus der versunkenen Welt meiner Kindheit. Schwarz-weiße Abzüge von meiner Mutter und mir, von meinem trinidadischen Großvater und von tropischen Stränden, Palmen, von lachenden Schwarzen Menschen. Insgesamt mehrere Dutzende gezackte Fotos, von deren Existenz ich nichts gewusst habe. (Seite 14)
Darunter dieses Bild, das Martin in einem Kindersitz zeigt, mitten in der Kaffeeplantage von Asa Wright. Er trägt eine Latzhose, seine Haare sind linksseitig gescheitelt. Er ist etwa ein Jahr alt und lacht in die Kamera. Offensichtlich geht es dem Kind gut. Vielleicht lacht es auch nur, weil seine Mutter hinter der Kamera auch lacht. Das Lachen durchbricht die Einsamkeit, die auf dem Bild auch zu sehen ist. Das Kind lacht seiner Mutter zu. Es sei das erste Dokument ihres Blicks auf ihn, schreibt Martin R. Dean. Und der Beleg dafür, dass es diese unglaubhafte, unwahrscheinlich weit von der Schweiz entfernte Welt wirklich gegeben hat. Die Jahre auf Trinidad, über die seine Familie immer geschwiegen hat.
Das Foto erzählt von diesem Anfang meiner Geschichte. Über diese erste Zeit existieren nur wenige, schamvolle Andeutungen meiner Mutter, ihre aus lakonischen Sätzen zu einem Puzzle zusammengesetzten Beschreibungen der Plantage. Meine Mutter war immer eine Meisterin des Schweigens und Verschweigens; es hatte sich im Laufe ihres Lebens immer mehr ihrer bemächtigt. Aufgehoben wurde es erst die letzten Jahre, aber da war die Erinnerung schon löchrig und von dieser Verschwiegenheit durchsetzt. Bei jeder Auskunft schwang mit, dass mich diese Zeit und die Geschichte mit ihrem ersten Mann eigentlich nichts angingen und dass ich froh sein könne, noch am Leben zu sein.
Schwieg meine Mutter aus Scham? Oder hatte ihr mein Stiefvater das Schweigen auferlegt? Was ich in den letzten Jahren über unseren Aufenthalt in Trinidad erfuhr, war so widersprüchlich, dass es genauso gut eine Erfindung hätte sein können. Etwa wenn sie von einem Mann erzählte, der mein Großonkel war und der fast zum Premierminister von Trinidad gewählt worden wäre. Oder wenn sie meinen Großvater Budri und dessen Ehe mit meiner Großmutter Olive schilderte, in allen Stufen der Zerrüttung. (Seite 16)
Das Fotoalbum wird zum Schlüssel zu seiner Geschichte. Zu den ersten Jahren seines Lebens, aber auch zu seiner Herkunft väterlicherseits. Seinen indisch-trinidadischen Wurzeln. In seinem Buch erzählt Martin R. Dean präzise und packend, wie er sich auf den Weg macht nach Trinidad, um seine lange vergessenen Verwandten zu besuchen und die Leerstelle zu füllen, die da klafft, wo seine Mutter systematisch jede Erinnerung an seinen leiblichen Vater getilgt hatte. Schritt für Schritt findet er heraus, dass sein Leben von indischem Kastendenken, einer Familienfehde, unterschiedlichen Klassenzugehörigkeiten im vorletzten Jahrhundert und den Gesetzen einer britischen Kolonie beeinflusst war. Die Sache ist verzwickt und lässt sich nicht simpel durch die koloniale Brille lesen. Denn die Kultur, in der sein trinidadischer Vater aufgewachsen war, ist von Rassismus und Kastendünkel geprägt.
Wie eine Welle des Unheils, ausgelöst von vorangegangenen Generationen, die entwurzelt worden waren, kam die Gewalt des Kolonialismus in das Verhalten meines Vaters, der sie an meine Mutter weitergab. Seine Haltlosigkeit aber war nie die eines rohen Alkoholikers, eines Dummkopfs oder eines Verbrechers. Es war die Gewalt eines Menschen, der, als Teil einer ihrer Traditionen beraubten Gesellschaft, keine moralische Verankerung hatte. Seine Haltlosigkeit teilte er mit vielen Inselbewohnern. Sie war es, die ihn trieb, als er an jenem Abend betrunken nach Hause kam und seine brennende Zigarette auf mir ausdrücken wollte. (Seite 53)
Die Vorfahren seines Vaters waren Inder, die von den Engländern als Kontraktarbeiter nach Trinidad verschifft worden waren. Es waren nominell keine Sklaven, das machte aber kaum einen Unterschied. Die Auswanderer konnten nur das nackte Leben mitnehmen, alle sozialen Bindungen gingen verloren. Wie die afrikanischen Sklaven waren auch die indischen Arbeiter Entwurzelte, die ihre gewaltsame Entwurzelung als kollektives Trauma weitervererbten. Die Auswanderung von Indien nach Trinidad ist Teil des Lebensdramas seiner trinidadischen Verwandten, so, wie die Flucht seiner deutschen Grossmutter in die Schweiz Teil des Dramas seiner Schweizer Familie bildet.
Martin findet heraus, dass seine Vorfahren auf Trinidad bis aufs Blut auf den Zuckerrohfeldern schufteten, um jenen Zucker zu gewinnen, dem er bis heute vor allem als Zutat in der Schokolade verfallen ist. Seine Vorfahren arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Das Plansoll wurde von den Briten immer etwas zu hoch angesetzt, namentlich bei den Frauen. Bei Nichterfüllung kamen die Arbeiter ins Gefängnis, und ihre Verträge wurden ausgesetzt.
Sind meine Vorfahren nun Sklaven? Oder doch eher freie Arbeiter, die einen Vertrag unterschrieben haben und nach zehn Jahren frei wurden? Opfer oder Abenteurer? Die Auseinandersetzung, die sich an diesem Abend noch in Avorys Haus ereignete, beschäftigt mich bis heute. Man dürfe die Sklaverei nicht verharmlosen und die Kontraktarbeiterschaft nicht verschlimmern, hatte Avory gesagt. Schließlich hatten alle Inder freiwillig einen Vertrag unterschrieben. Aber Usha hatte andere Fragen gestellt: Wussten die Menschen überhaupt, was sie da unterschrieben? Wurden sie nicht ebenso verführt wie irregeführt? Konnten sie überhaupt lesen und schreiben? (Seite 118)
Nicht nur die Liebe zu Zucker und Kakao verbindet Martin aus Menziken mit der britischen Kolonie. Seine Grosseltern arbeiten beide in einer Zigarrenfabrik im Aargau. Menziken war die «Oberwynentaler Tabakmetropole». Die Zigarrenindustrie brachte einen bescheidenen Wohlstand ins Bauerndorf. Die Grossmutter arbeitete in der Menziker Zigarrenfabrik Weber & Söhne, der Grossvater bei der Konkurrenz, bei Villiger Söhne im Nachbardorf. Beide rollten Tabakblätter zu Zigarren, zu Stumpen, wie man sie in der Schweiz nennt. Zigaretten rauchten nur die Fremden, die Gastarbeiter aus Italien. Diese Blätter, die seine Grosseltern zu Zigarren rollten, stammten, wie der Zucker und der Kakao in der Schokolade, aus tropischen Kolonien. Das kleine Dorf im Aargau war also eng verbunden mit den Tropen, über die seine Familie so innig schwieg.
Das ist ein Aspekt der Geschichte, die Martin R. Dean erzählt, die sich mir im Gedächtnis eingenistet hat: Diese enge Verbindung des kleinen Schweizer Dorfs mit den tropischen Kolonien, den Sklaven und den Arbeitern. Es wirkt geradezu grotesk, wie die Bürger im Dorf sich gegen das Fremde wehren, das die italienischen Gastarbeiter oder geflüchtete Deutsche ins Dorf tragen, selbst aber mit einer noch viel weiter entfernten Fremde verknüpft und verbunden sind. Kein Wunder verdrängen sie und verdrängt die Familie von Martin R. Dean die Erinnerung an die Sklaveninsel in den Tropen.
Wie er Schicht für Schicht die Vergangenheit aufdeckt, den Menschen auf den verschwommenen Schwarzweiss-Bildern im Fotoalbum seiner Mutter Namen gibt und ihren Geschichten nachspürt, das ist wunderbar präzise erzählt und eine wirklich spannende Geschichte. In der Biografie von Martin R. Dean stecken viele der verdrängten Probleme unserer Gesellschaft, von der Sklaverei und der Ausbeutung der Arbeiter in den Kolonien bis zum Rassismus der Gegenwart, den der kaffeebraune Junge im Aargau erlebt.
Dieser Teil der Geschichte ist einzigartig und spannend. Zu einer universellen Geschichte wird das Buch, weil Martin R. Dean es nicht als Autobiografie erzählt, sondern als Reportage auf der Suche nach der eigenen Geschichte. Wie er als Junge mit Jim Knopf fühlt, weil der im Paket der Post nach Lummerland gelangte und auch nichts wusste über seine Herkunft, das rührt das universelle Motiv an, das in seiner Geschichte steckt: Wir alle stammen aus einem Land, das wir nicht kennen. Einem Land in der Vergangenheit, das uns nur über vergilbte Fotos und zurecht gebogene Geschichten zugänglich ist. Wir alle gehen den schönfärberischen Erzählungen (und dem Schweigen) unserer Eltern auf den Leim. Wer wissen will, wer er ist und woher er kommt, muss seine eigene Reise nach Trinidad antreten und versuchen, den Menschen auf den Fotos in seinem Fotoalbum Namen und Geschichten zu geben. Das macht die spannende Geschichte von Martin R. Dean universell und das Buch über die kolonialen und historischen Bezüge hinaus unbedingt lesenswert.
Martin R. Dean: Tabak und Schokolade. Atlantis, 208 Seiten, 30 Franken; ISBN 978-3-7152-5039-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783715250397
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Basel, 11. September 2024, Matthias Zehnder
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