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Transit Lissabon

Publiziert am 28. November 2024 von Matthias Zehnder

Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 flüchteten viele deutsche Künstler nach Paris. Da fühlten sie sich zunächst sicher. Als die Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands 1940 Frankreich überrannten, löste das eine Fluchtbewegung in den Süden aus, vor allem nach Lissabon. Weil Portugal unter Diktator Salazar neutral blieb, wurde Lissabon zu einem der wenigen Orte in Europa, von wo aus man mit dem Schiff oder Flugzeug nach Übersee reisen konnte, insbesondere in die USA, nach Südamerika oder auch nach Palästina. Literarisch hat die Flucht über Lissabon zum Beispiel im Roman «Die Nacht von Lissabon» von Erich Maria Remarque gefunden. Remarque lebte während des Kriegs in der Schweiz und in den USA. Viele der Künstlerinnen und Künstler, die über Lissabon flüchteten, sind heute weitgehend vergessen. Ihnen setzt Sabine Scholl mit ihrem Roman «Transit Lissabon» ein Denkmal. Im Zentrum stehen drei Ava, Billy und Conrad, die nach den realen Vorbilden von Hertha Pauli, Walter Mehring und Carl Frucht gestaltet sind. Die drei kennt man heute kaum mehr. Über ihre Zeit in Lissabon haben sie keine Aufzeichnungen hinterlassen. Der Roman ist deshalb erfunden. Warum die Geschichte dennoch wahr und lesenswert ist, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 232. Buchtipp.

 

Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Thomas Manns Sohn Golo Mann, sein Bruder Heinrich und dessen Frau Nelly Kröger, Franz Werfel und seine Frau – sie alle flüchteten wie viele andere vertriebene zunächst nach Paris, dann nach Südfrankreich und von da aus auf meist abenteuerlichen Wegen über die Pyrenäen nach Portugal. Hier, in Lissabon, ergatterten sie eine Schiffspassage nach Amerika und konnten den alten Kontinent hinter sich lassen. Als Emigranten versuchten sie, sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen. Sie wurden zu Exilautoren und gehörten fortan zur «Emigranten-Literatur».

Nur wenige waren so prominent wie Thomas Mann oder Erich Maria Remarque. Sie konnten auch im Exil von Tantiemen leben. Nur wenige schafften den Wechsel in die fremde Sprache. Stefan Heym gelang es: Er veröffentlichte seinen ersten Roman «Hostages» 1942 auf Englisch und kehrte erst viel später zum Deutschen zurück. Carl Zuckmayer merkte früh, dass er nicht in die amerikanische Kultur passte, und zog sich auf eine Farm in Vermont zurück, die berühmte Farm in den grünen Bergen. Zuckmayer konnte nach dem Krieg vor allem mit seiner Autobiografie an seine Erfolge in der Weimarer Republik anknüpfen.

Die meisten Exil-Literaten sind heute vergessen. Sie sei, schreibt Sabine Scholl im Nachwort ihres Romans, während ihres Studiums darauf getrimmt worden, die «Emigranten-Literatur» zu missachten. Dabei sei nie darüber gesprochen worden, warum diese Menschen im Abseits gelandet waren. Nach dem Krieg konnten viele geflüchtete Autoren und Autorinnen nicht mehr an ihre Erfolge anknüpfen. Formal seien sie meist nicht innovativ gewesen, da sie dem Verlorenen nachspürten. Inhaltlich gingen die Deutschen auf Distanz zu ihnen, weil das, was die Vertriebenen erlebt hatten, an die Schuld der Gebliebenen rührte. So seien sie, schreibt Sabine Scholl, ein weiteres Mal verdrängt worden. Mit ihrem Buch möchte sie diesen Vertriebenen ein Denkmal setzen.

Im Zentrum des Romans stehen drei Freunde, Ava, Conrad und Billy. Modelliert sind die drei nach realen Vorbildern: nach Hertha Pauli, Walter Mehring und Carl Frucht, drei Künstlern, die wie Ava, Conrad und Billy von Berlin nach Wien geflüchtet waren, von da nach Paris und dann über Südfrankreich nach Lissabon. Ich kannte von den dreien nur Walter Mehring – vor allem deshalb, weil er mit Carl Zuckmayer befreundet war. In «Als wärs ein Stück von mir» beschreibt Zuckmayer Walter Mehring als einen seiner liebsten Freunde aus den frühen Berliner Jahren, «dessen für das politische Kabarett konzipierten Verse weit über Brettl-Dichtung hinausgingen und etwas Genialisches hatten». Zuckmayer beschreibt in seiner Autobiografie, wie Walter Mehring ihn 1938 nach dem Tod von Ödön von Horváth in Paris am Bahnhof abholte, wie sie zusammen mit Joseph Roth und vielen anderen Exilkünstlern den genialen österreichischen Dichter auf dem Pariser Friedhof Saint-Ouen beerdigten. Darunter waren laut Zuckmayer auch zwei junge Frauen, die sich um den «Rang als Ödöns letzte Geliebte stritten». Eine dieser beiden Frauen war Hertha Pauli, die im Roman Ava heisst.

Ödön von Horvath ist uns bis heute ein Begriff, Theaterstücke wie «Geschichten aus dem Wiener Wald» oder «Kasimir und Karoline» werden immer wieder aufgeführt, seine Romane, etwa «Der ewige Spiesser» und vor allem «Jugend ohne Gott», bis heute gerne gelesen. Auch Ödön von Horvath war 1938 vor den Nazis von Wien nach Paris geflüchtet, wurde da aber während eines heftigen Gewitters auf den Champs-Élysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Mit diesem Gewitter in Paris beginnt der Roman von Sabine Scholl.

Ava war nervös. Der Wind zerrte an ihrem breitkrempigen Hut. Ihr durchgebratenes Filet hatte sie in kleine Stücke geschnitten, das Fleisch war schwer zu kauen. Sie schob die zähen Fasern im Mund hin und her. konnte sie kaum hinunterschlucken. Noch hielten die knatternden Markisen den kräftiger werdenden Windstößen stand. Ava spülte mit Rotwein nach. Sie hoffte, dass Edmund unter den geänderten Umständen zur Vernunft kam und zurück zu ihr. Dann hätte dieser Aufenthalt in Paris endlich Sinn. Alle strampelten sich hier ab, um sich aus dem Nichts neu zu erfinden. Die Büros und Redaktionen, in denen sie bislang wie zu Hause waren, hatten sie zurückgelassen, genauso die täglich begangenen Straßen und ihre vertrauten Cafes. Stattdessen blieben ihnen nur ihre Köpfe als Gepäck, die trotz aller Ängste weitgehend eigenständig dachten, obwohl durch die politischen Verhältnisse bedrängt. Die meisten ihrer Bekannten waren entweder in billigen Pensionen gestrandet oder in mondänen Hotels abgestiegen, alle jedoch ungläubig und zögerlich, denn vielleicht wäre der Irrsinn bald vorbei und sie könnten sich wieder einfinden im Cafe Herrenhof in Wien, im Weinhaus Huth in Berlin und selbst bestimmen, wo sie wohnten, wie sie arbeiteten, wen sie liebten. Während ihres Aufenthalts in Paris bemühten sie sich nun zu tun, als hätten sie selbst entschieden, aufzugeben, was sie vorher waren, an den gewohnten Orten, wo sich nun die Ungeheuer versammelten, zum Schlachten aller Vernunft. (Seite 7f.)

Alle waren sie ungläubig und zögerlich geflüchtet, denn vielleicht wäre der Irrsinn ja bald vorbei. Zuckmayer zum Beispiel ist am letzten möglichen Tag aus Österreich in die Schweiz geflüchtet. Ich habe mich immer gefragt, wie die Künstler, die doch so hellsichtig Politik und Gesellschaft kritisierten, die Augen vor der Realität so arg verschlossen. Es wird schon nicht so schlimm kommen. Hunde, die laut bellen, beissen nicht. Und genau so klingt es heute wieder. Auch das ist ein Grund, den Roman von  Sabine Scholl zur Hand zu nehmen.

In Edmund, auf den Ava im Café wartet und auf den sie hofft, ist unschwer Ödön von Horvath zu erkennen. Kurz danach wird er im Gewitter erschlagen. Und nach dem Gewitter müssen sie bald alle weiterflüchten. Conrad reist voraus in den Süden und drängt Ava und Billy, rasch nachzukommen. Doch wie viele andere bleiben die beiden in Paris. Ava schafft den Absprung gerade noch rechtzeitig. Als sie von der Kapitulation erfährt, spricht sie auf der Strasse einen Mann an und fragt nach einer Mitfahrgelegenheit in seinem Automobil. Gegen Bezahlung. Es ist nur noch ein Platz zu haben. So muss Billy zurückbleiben. Er will nachkommen. Treffpunkt: Bordeaux, Cafe am Hauptplatz! Versprochen. Auch Bordeaux bleibt nur Zwischenstation, die Reise geht weiter nach Lissabon.

Weil sie die reale Welt kaum aushält, flüchtet sich Ava in allen Städten ins Kino.

Ava schlüpfte in den verfinsterten Raum des Kinos, kam zu spät, bevor sie dicht an dicht neben unbekannten Körpern und Gesichtern ihren Platz einnahm. Nachmittags versammelten sich hier die Verlorenen. Um niemanden erkennen zu müssen, verließ sie den Saal, während der Nachspann noch lief, rauchte eine Zigarette im Gehen in Richtung Hotel, ließ die Bilder nachklingen, als wären diese wirklicher als das, was sie selbst erlebte. Wollte sie nicht loslassen, solange es nur ging. Spielte im Kopf die Figuren nach. ließ sie miteinander reden, bis sie allmählich verblassten. (Seite 46)

Das verzweifelte Verdrängen der Realität, die Suche nach neuem Halt, nach Ausdrucksmöglichkeiten, nach Lebenschancen, das beschreibt Sabine Scholl eindrücklich und eindringlich. Mich haben dabei zwei Aspekte besonders beeindruckt. Das eine ist der Lebens-, der Überlebenswille der geflüchteten Künstlerinnen und Künstler. Als deutschsprachiger Autor in Frankreich, in Portugal und dann in den USA ein Auskommen zu finden, das war damals und wäre heute extrem anspruchsvoll. Das andere ist das Verkennen der Gefahr. Wie ungläubig und zögerlich sie alle die Flucht antraten, weil sie nicht glauben konnten, nicht glauben wollten, dass die Nazis ihren Worten Taten folgen liessen.

Und immer wieder ist es die Literatur, sind es Gedichte, Erinnerungen an gelesene Romane, Zeilen aus Theaterstücken, die sie alle am Leben erhalten. Literatur als Lebenselixier. Das kann ich gut verstehen.

Sabine Scholl: Transit Lissabon. Roman. Weissbooks, 288 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-86337-215-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783863372156

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 28.11.2024, Matthias Zehnder

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