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Gregor Mendel begegnet dem Schicksal
Genetik gilt als Schlüsselwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Genetische Analysen ermöglichen eine personalisierte Medizin. Mit der Genschere Crispr lassen sich genetische Defekte gezielt korrigieren. Die synthetische Biologie entwickelt mit Hilfe von Gentechnik Mikroorganismen, die Medikamente oder Biokraftstoffe produzieren. Genetik lässt Forschungsvorhaben wie Science Fiction klingen. Und wer hat es erfunden? Vielleicht denken Sie jetzt an Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna: Sie haben 2020 für die Entdeckung der Genschere Crispr/Cas9 den Chemie-Nobelpreis erhalten. Oder an die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick, die 1953 die Doppelhelix-Struktur der DNA entdeckt haben. Doch die Genetik ist viel älter. Ihr Entdecker war kein futuristischer Wissenschaftler und kein Nerd in einem High-Tech-Labor, sondern ein bescheidener Augustinermönch: Von 1856 bis 1863 führte Gregor Mendel im Augustinerkloster St. Thomas in Brünn Kreuzungsexperimente mit Erbsenpflanzen durch und untersuchte systematisch die Vererbung verschiedener Merkmale. Die statistische Auswertung der Ergebnisse führte zu den Mendelschen Regeln, die bis heute gelten und die Grundlage der Genetik bilden. Damals war das aber nicht absehbar: Mendels strikt mathematische Herangehensweise wurde von Zeitgenossen verspottet, der Mönch sogar verlacht. Das ist die Ausgangslage für diese Erzählung: Auf einer Zugfahrt von Wien nach Brünn lässt Gregor Mendel 20 Jahre nach seinen Experimenten sein Leben Revue passieren. Er ist überzeugt, dass er auf ganzer Linie gescheitert ist. So erzählt es Franz-Maria Sonner in seiner wunderbar leichtflüssigen Novelle. In meinem 231. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen diesen schmalen Band ganz dick ans Herz lege.
Wiener Nordbahnhof, 1883. Gregor Johann Mendel, Abt der Brünner Abtei St. Thomas, ist 61 Jahre alt und so beleibt, dass er Mühe hat, den bereits unter Dampf stehenden Zug nach Brünn zu erklimmen. Der erste Versuch misslingt, beim zweiten wirft ihn ein Ruck des Zuges zur Seite und lässt ihn fast abstürzen. Als er zum dritten Versuch ansetzt, packt ihn der Dienstmann am Hinterteil und schiebt ihn unprätentiös, aber zweckmässig wie einen Mehlsack auf die Plattform des Wagens. Kaum kann der Geistliche sich beim geistesgegenwärtigen Dienstmann mit einem Lächeln bedanken, schon schliessen sich die Türen und der Zug setzt sich dampfend und knirschend in Bewegung.
Schnaufend lässt sich Abt Gregor auf einen gepolsterten Sitz im Erstklass-Abteil sinken. In einer sanften Kurve fährt der Zug aus dem Bahnhof heraus und setzt zur Überquerung der Donau an. Verschwitzt von der Anstrengung lehnt Mendel sich zurück im Polster. Der Schaffner betritt das Abteil, man kennt sich, der Abt fährt die Strecke öfter. Er erkundigt sich deshalb nach dem Sohn des Schaffners. Der zuckt die Achseln: «Nur Sorgen! Ob aus dem etwas wird? Ich weiss nicht.» Der kleine Wortwechsel wird zum Auslöser der Erzählung.
Aus dem Sohn des Kondukteurs wurde nichts. Warum? Abt Gregor faltete die Hände vor seinem Bauch. Frauen, Schnaps, Kartenspiel? Das waren die stets offensichtlichen Verfehlungen, solche, die zur Schau getragen wurden. Diese Personen zeigten kein Interesse an einem rechtschaffenen Leben. Oder waren zu schwach, um ein solches überhaupt in Angriff nehmen zu können. Ließen sich einfach treiben. Trotzdem sammelte sich dabei etwas an, denn sie hatten die Frauen, sie tranken den Schnaps und verspielten das Geld. Schlimmer war es doch, das Höchste zu versuchen, das Beste zu wollen und nichts davon zu erreichen. Den Strebsamen traf das Scheitern mit großer Wucht, er war ihm ausgesetzt, weil er von seinem Einsatz nichts mehr zurückbehielt: Er hatte die gesamte Existenz vertan. (Seite 16)
Abt Gregor treten die Tränen in die Augen. Denn genau das, findet er, ist ihm passiert: Er hat das Höchste versucht, das Beste gewollt und nichts davon erreicht. Als Strebsamen trifft ihn das Scheitern mit voller Wucht. Er findet, er habe von seinem Einsatz nichts zurückbehalten: Er habe seine gesamte Existenz vertan. Abt Gregor schämt sich.
Er schämte sich seiner Wehrlosigkeit, nahm die Brille ab und bedeckte sein Gesicht mit dem Taschentuch. Das Auge Gottes ruhte immer auf dem Menschen, der Herr wusste alles, trotzdem versuchte Gregor ihn abzulenken, gab sich geschäftig, stand auf, beugte sich über seine Ledertasche, wühlte darin, holte ein Etui mit Zigarren hervor, zündete eine an und hüllte sich in die Rauchschwaden. (Seite 17)
Es ist geradezu rührend, wie der dicke, alte Mann Gott von seinem Scheitern und seiner Scham abzulenken versucht. Bei sich selbst funktioniert es jedenfalls nicht. Die Zigarre in der Hand grübelt Gregor Mendel im Erste-Klasse-Abteil des Zugs von Wien nach Brünn über ein Leben nach. Heute gilt er als Genie, als Entdecker der Genetik. Im Zug ist er überzeugt, dass nichts aus ihm geworden ist. Er fühlt sich in eine Position berufen, der er nicht gewachsen ist. Er ist dem Drang nach Wissen bedingungslos gefolgt, aber, wie er findet, bloss im Dunklen umhergestolpert. Jetzt ist er nur noch ein müder, alter dicker Mann, dem vor Scham über seinen vergeblichen Ehrgeiz die Tränen über die feisten Wangen laufen.
Wir wissen es heute besser. Seine drei Mendelschen Regeln, die er 1866 veröffentlichte, gelten bis heute: Die Uniformitätsregel, die Spaltungsregel und die Unabhängigkeitsregel beschreiben, wie Merkmale von Eltern an ihre Nachkommen weitergegeben werden und wie sich dominante und rezessive Erbanlagen auswirken. Herausgefunden hat Mendel diese Regeln im Gewächshaus seines Klosters anhand von Erbsen. Jahrelang hat er geduldig Erbsenpflanzen gezüchtet.
Zwei Jahre hatte er nur darauf verwendet zu überprüfen, ob seine Pflanzen das taten, was er von ihnen erwartete, dass nämlich aus runzligen Samen nur runzlige nachkamen, dass Weißblütler ausschließlich Weißblütler zeugten. Und auf diese Weise stellte er sie in ihren jeweiligen Gegensatzpaaren einander gegenüber, rechts die achsenständigen Blütler, links die endständigen, und dann rechts die hoch- und links die kleinwüchsigen Pflanzen. Als sie schließlich kräftig genug gediehen waren und vor der Blüte standen, kroch er, ein Säckchen hinter sich herziehend, die Pinzette hinters Ohr geschoben, von Pflanze zu Pflanze. Erbsen sind gemischtgeschlechtlich, daher machte er aus einer ganzen Reihe zunächst einmal weibliche Pflanzen. Schnaufend, hin und wieder ächzend beugte er sich seiner Kurzsichtigkeit wegen ganz nah über die Pflanzen, öffnete bedächtig mit seinen gepflegten Priesterhänden die noch unreife Blüte, holte die Pinzette hinter dem Ohr hervor, entfernte die inneren Schichten, das sogenannte Schiffchen, und legte damit die Staubgefäße frei, den männlichen Teil des Befruchtungsapparats. Wiederum die Pinzette benutzend, zog er die kleinen Pollenstengel heraus und versorgte sie in sein Säckchen. Dies musste im unreifen Zustand vorgenommen werden, später wurde die Narbe klebrig, hätte jedes herabfallende Pollenkorn bei sich behalten und sich so selbst befruchtet. Pflanze für Pflanze schob er sich vorwärts, bis er die ganze Reihe in rein weibliche Exemplare verwandelt hatte. Damit sich niemand, wie etwa der Erbsenkäfer, in die Fortpflanzung seiner Schützlinge einmischte, band er jeder Blüte ein Tüllsäckchen um, die er, bereits zugeschnitten, aus einer Tüte in seiner Kutte holte; den Bindfaden dazu zog er von einer Rolle und biss die passende Länge mit den Zähnen ab. (Seite 89f.)
Seine bäurische Herkunft ist ihm dabei ebenso von Nutzen wie seine naturwissenschaftliche Ausbildung. Die nächsten sieben Jahre widmet Gregor Mendel dem Zählen der Erbsen. Er sortiert, zählt, analysiert und berechnet. Er registriert dabei gut zehntausend Pflanzen und dreihunderttausend Erbsen und versucht, die Zahlen zum Sprechen zu bringen. Es ist eine Art Mastermind-Spiel mit der Natur: Er versucht, die Muster in den Resultaten zu erkennen und daraus Regeln abzuleiten, die er mit der nächsten Kreuzung überprüft. Das Resultat ist eine schmale Publikation voller Zahlen und Rechnungen: «Versuche über Pflanzen-Hybriden» von Gregor Mendel.
Der Prälat hielt inne, paffte und faltete die Hände. Rückblickend betrachtet waren die Versuche Berichte eines botanisierenden Mönchs aus seinem heimischen Garten. Heimatkunde. Naturforscher von Format wie Forster, Humboldt, Brehm und Darwin waren weltläufig, sie segelten auf allen Weltmeeren und riefen Giraffen, Flattermakis und fliegende Fische ebenso selbstverständlich auf wie Eichhörnchen und Hausschweine. Mit großem Interesse hatte Pater Gregor damals die zweite Auflage der deutschen Übersetzung von Darwins Entstehung der Arten studiert. Ein bedeutender Denker. (Seite 95f.)
Gregor Mendel dagegen wird von der Wissenschaft in den folgenden Jahren auf seinen Platz im Klostergarten verwiesen. Er ist und bleibt ein gärtnernden Mönch, das stellt er traurig fest in seinem Eisenbahnwagon.
Pater oder später dann Abt Gregor trat nie wieder mit wissenschaftlichen Arbeiten hervor. Er wusste zwar, wie man farbenprächtige Blumen, wohlschmeckendes Obst, gut ausgestattete Gemüsesorten und vor allem Erbsen mit bekömmlichen Eigenschaften züchtete, dieses Wissen war jedoch für die Wissenschaft nicht von Belang. Wenn man ihn darauf ansprach, sagte er, dies sei sein Geheimnis, eine Erörterung würde zu weit führen. Er blieb Gärtner, Imker und Hobbymeteorologe, weil ihm die Freude und das Können an der bäuerlichen Arbeit eingewachsen waren. (Seite 110)
Bitter blickt Gregor Mendel auf sein Leben zurück: Er hat nach den Sternen gegriffen und nur Erbsen geerntet. Doch dann ereignet sich im Eisenbahnwagon ein kleines Wunder. Mehr sei hier nicht verraten. Wir alle wissen aber, dass der bescheidene Mönch mit seinen Erbsen die Basis für die Genetik gelegt hat. Mit grosser Sympathie schauen wir ihm zu, wie er im Wagon erster Klasse ein Gabelfrühstück zu sich nimmt und in sein Kloster zurückkehrt. Zu seinen Mitbrüdern – und zu seinem Garten.
Franz-Maria Sonner: Gregor Mendel begegnet dem Schicksal. Novelle. Edition Nautilus, 112 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-96054-372-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783960543725
Basel, 21.11.2024, Matthias Zehnder
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