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Partikel
Im Sommer habe ich «Partikel» gelesen, den neuen Roman von Wolf Harlander. Ein spannender Ökothriller, aber ich fand, er habe die Sache mit dem Mikroplastik doch etwas übertrieben. Und dann wurde der Roman in den letzten Tagen von der Realität eingeholt: Der Kanton St. Gallen stoppte den Verkauf von Rindfleisch, weil gefährliche chemische Verbindungen im Fleisch gefunden wurden. Es geht dabei um PFAS: Das ist eine Gruppe von chemischen Verbindungen, die in der Natur nicht abgebaut werden. Seit Jahrzehnten kommen PFAS zum Einsatz, zum Beispiel in wasserabweisenden Regenjacken, teflonbeschichteten Bratpfannen oder Löschschaum der Feuerwehr. Über Klärschlamm sind die Chemikalien auf die Wiesen gelangt. Die Rinder haben das Gras gefressen und die Chemikalien in sich angereichert. Jetzt hat der Kanton St. Gallen den Verkauf dieses Fleischs verboten und einen Aktionsplan des Bundes gefordert. Der Ausgangspunkt im Thriller von Wolf Harlander ist ganz ähnlich: Bei ihm ist es Mikropastik. Wie PFAS werden Kunststoffpartikel in der Natur nicht abgebaut. Sie reichern sich zum Beispiel in Fischen an und gelangen so in die Nahrungskette und letztlich ins Blut, ja ins Gehirn von uns Menschen. Wie Wolf Harlander daraus einen packenden Ökothriller gestrickt hat, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 220. Buchtipp.
Auf den ersten Blick sieht das Buch ja schon etwas reisserisch aus: «Partikel. Überall. Unsichtbar. Tödlich.» Im Prolog schreibt Wolf Harlander:
Niemand kann sie aufhalten – kein Gefängnis, keine Waffe, keine Armee. Längst sind sie unter uns, haben jeden Winkel unserer Erde besetzt. Winzig klein und unscheinbar. Und dennoch überall präsent.
Eine Bedrohung, der niemand entkommen kann. Die unsere Existenz gefährdet. Die unseren Lebensraum erstickt. Die längst in unseren Adern fließt. …
Die Partikel machen sich auf den Weg, die Welt zu vergiften. Über den Boden. Über das Wasser. Über die Luft. Sie infiltrieren die Ozeane, durchdringen die Adern der Natur, wandern von einem Organismus zum nächsten, spannen ein Netz über unseren Planeten. Jahrzehnte, Jahrhunderte mögen vergehen, doch die Teilchen halten das aus. Sie brechen nicht zusammen, lösen sich nicht auf. Stattdessen werden sie zum Boten einer Krise, die allmählich ihre Macht entfaltet. Still und unaufhaltsam breitet sich die Gefahr aus. Niemand nimmt die Bedrohung wahr. Doch die Partikel haben sich ihren Weg zu uns zurück längst gebahnt. Das stille Gift, geschaffen von Menschen, erreicht nun die Menschen. Der Kreislauf schließt sich. Aber anders als geplant. (Seite 5f.)
Man kann sich das gut als Intro zu einem Film vorstellen, eine tiefe Männerstimme sagt den Text, dazu sehen wir Bilder von Plastik, verendende Fischen, der Plastikstrudel im Pazifik, Schnitt, ein kleines Kind sitzt spielend in einem Kinderzimmer in fröhlichen Farben, die Kamera fährt näher, zoomt auf den Arm, fährt scheinbar in die Blutbahn des Kindes, und da sehen wir sie, neben den roten Blutkörperchen, die kleinen Plastikteilchen, die das Kind krank machen. Bedrohliche Musik, Schnitt zurück zum Müllstrudel und einem Fisch, der sich in einer Einkaufstüte verheddert hat. Das ist das Problem: Mikroplastik ist überall und geht nicht mehr weg. Bloss: Wie macht man daraus einen Thriller? Wie erzeugt man vor diesem Hintergrund Spannung und lässt die Leserin, den Leser mitfiebern?
Erstes Element: Allgemeine Betroffenheit. Dafür sorgt, trotz aller Dramatik, nicht das Intro, sondern eine Hochzeitsfeier auf Sylt. Phantastische Location, viel zu lange Reden, leckeres Essen: Getrüffelte Kartoffelschaumsuppe, Gemüseterrine mit Balsamicoessig, als Hauptgang pochierte Seeteufel-Medaillons auf Pastinakencreme und Karotten-Julienne. Zum Abschluss: Dessertvariationen. Und natürlich eine gigantische Hochzeitstorte. Als die Torte serviert wird, kommt es zur Katastrophe, eine ganze Reihe von Gästen erkrankt akut und muss ins Krankenhaus eingeliefert werden. Es kommt sogar zu Todesfällen. Ursache: unklar.
Zweites Element: Ein Bösewicht. Das ist bei Plastikpartikeln gar nicht so einfach, schliesslich sind wir alle Schuld am Plastikmüll. Jede Plastiktüte, die nicht sorgfältig in einem Abfalleimer entsorgt wird, hat das Potenzial, in der Umwelt, im Meer zu Partikeln zu zerfallen und in der Nahrungskette zu landen. Alle Menschen nutzen Plastik, kaum eine Firma kann darauf verzichten. Wie findet sich da ein Bösewicht? Wolf Harlander löst dieses Problem, indem er eine zwielichtige Entsorgungsfirma erfindet, die illegal Plastikmüll nach Afrika entsorgt. Ein rücksichtsloser Kapitän schippert den Müll über das Meer. Aber wer sind die Hintermänner?
Drittes Element: ein unschuldiges Opfer. Bei Wolf Harlander ist das ein Kind, das schwer erkrankt. Die kleine Zoe ist zwei Jahre alt. Eigentlich ist sie ein fröhliches Kind, aber sie kränkelt in letzter Zeit. Tobias, der Vater von Zoe, macht sich Sorgen. Als Sie plötzlich ohnmächtig wird, bringt er sie ins Krankenhaus und lässt sie genau untersuchen. Diagnose: Leberkrebs im Endstadium. Und das bei einem Zweijährigen Kind. Die Ärzte sind erstaunt: Bei Kindern ist Leberkrebs extrem selten. Aber sie haben Zoe mehrfach untersucht und die Diagnose überprüft, es bleibt dabei: Zoe hat Leberkrebs. Tobias zermartert sich den Kopf, warum seine Tochter erkrankt sein könnte. Hat er seiner Tochter versehentlich eine Medizin gegeben, auf die sie mit dieser Krankheit reagiert hat? Stimmt etwas nicht mit dem, was er zu Hause kocht? Die Ärzte zerstreuen seine Bedenken. Aber die Wahrheit bleibt auch: Bisher wissen sie nicht, warum Zoe an Krebs erkrankt ist. Wir Leser ahnen es – und bald herrscht traurige Gewissheit.
Die kleine Zoe bringt nicht nur die Handlung in Gang, sie drückt dem Leser eine immer lauter tickende Uhr in die Hand: Zoe liegt im Sterben. Es muss etwas geschehen und zwar rasch. Aber was?
Viertes Element: eine Heldin, die als Identifikationsfigur des Lesers fungiert und uns einführt in die gefährliche Welt des Mikroplastik. Bei Wolf Harlander ist das Melissa Frey. Sie ist die Schwester von Tobias, Zoe ist also ihre Nichte. Damit ist sie persönlich stark motiviert. Von Beruf ist sie Journalistin. Das heisst: Sie wäre es gern. Sie hat ihr Lehramtsstudium abgebrochen und arbeitet jetzt gegen alle Wünsche ihrer Eltern als Volontärin bei «Daily Flashlight». Das ist ein internationales Medien-Start-up, ein Onlinemedium irgendwo zwischen «Buzzfeed» und «Politico». Ihr Chef, Nolan Adams, ist ein junger Deutsch-Afroamerikaner. Nolan hat bei der «New York Times» gearbeitet, bevor er zu Daily Flashlight wechselte. Er setzt Melissa unter Druck. Diese Szene im Buch ist sehr realistisch. Nolan ruft Melissa zu sich und bietet ihr einen Kaffee an.
«Wie lange bist du nun schon bei uns?»
«Drei Monate.»
«Also mitten in der Probezeit.»
Sie sparte sich die Antwort und rührte stattdessen Milch in ihren Kaffee.
«Du weißt, Melissa, ich war immer angetan von deinem Talent. Das war auch der Grund, warum ich dich eingestellt habe und nicht einen der vielen anderen Bewerber. Obwohl du außer einem Praktikum keinerlei journalistische Erfahrung vorweisen konntest. Aber du hast Grips, bist smart.»
Sie sah ihn an und wartete.
«Trotzdem sehe ich, du tust dich schwer. Ich weiß nicht, woran es liegt. Deine Arbeit ist okay, aber nicht wirklich berauschend. Das kann man bringen, muss man aber nicht. Deine Ideen heute waren Mittelmaß – du hast deine Kollegen gehört. Und gerade von dir erwarte ich mehr.»
«Was genau erwartest du, wenn ich fragen darf?»
«Wie soll ich sagen: mehr von allem – mehr Einsatz, mehr Leistung, bessere Ideen.» Er stellte seinen Becher zur Seite. «Du willst doch schließlich nach der Probezeit bei uns weitermachen, oder?»
«Selbstverständlich.»
«Dann häng dich rein.» Nolan richtete sich auf. «Ich sage es ganz klar, damit es keine Missverständnisse zwischen uns gibt: Wenn von dir nicht mehr kommt, ist in drei Monaten Schluss, so leid mir das tut. Du musst verstehen, ich habe unseren Investoren Rechenschaft abzulegen, da muss ich von der Leistung jedes meiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen überzeugt sein.» Er nickte bekräftigend. «Aber ich bin sicher, du schaffst das.»
Melissa schluckte. Mit einer so unverhohlenen Kündigungsdrohung hatte sie nicht gerechnet. Sie war schließlich noch Anfängerin, was erwartete er? Für einen Moment hörte sie wieder die Kommentare ihrer Eltern: Wir haben es dir doch gleich gesagt …
Sie gab sich einen Ruck. «Ich wünsche mir mehr Unterstützung, Nolan – von dir und den Kollegen.»
«Bekommst du. Wenn du etwas brauchst, melde dich einfach bei mir.» Nolan wandte sich zum Gehen.
«Einen Moment noch.» Sie dachte an die dritte Themenidee auf ihrem Zettel. Sie hatte sie eigentlich für zu schwach gehalten und deshalb nicht erwähnt. Aber jetzt … «Ich hätte eventuell noch eine andere Geschichte für dich.»
«Lass hören.» Er kam zurück an den Stehtisch.
«Die Hochzeitsfeier auf Sylt. Viele Gäste sind erkrankt, einer ist sogar gestorben. Hast du davon gehört?» (Seite 30f.)
Wir haben die Heldin, das Opfer, die Bösewichte und die allgemeine Betroffenheit. Was fehlt noch? Richtig: Die Retter, die Staatsgewalt und die Strasse. Als möglicher Retter bringt sich eine Start-up-Unternehmen ins Spiel: Cyaclean Ltd. heisst sie. Chefredakteur Nolan schickt Melissa zum Unternehmen auf Reportage. Als «geiles Start-up» bezeichnet er die Firma. Vielleicht nicht ganz zufällig. Ryan Hill, der wichtigste Investor von Daily Flashlight, ist auch der Financier von Cyaclean. Die Firma setzt auf mikroskopisch kleine Algen, die in der Lage sein sollen, den Plastikmüll der Meere zu zersetzen. Die Hightech-Firma pokert dabei hoch. Es geht um viel Geld. Ganz Europa hofft auf eine Lösung des Plastikmüll-Problems. Das smarte Start-up-Unternehmen hat aber auch mächtige Gegner: Sollte seine Technik funktionieren, würde es damit das brummende Geschäft der Entsorgungsfirmen zerstören.
Doch der Druck steigt. Schuld daran ist «die Strasse» – also Menschen, die gegen die Vermüllung des Planeten protestieren. Im Buch nennt Wolf Harlander die Gruppe «Earth Defender»: Ihr Thema ist der Kampf gegen die giftigen Abfallberge. Und zwar nicht nur Plastikmüll, sondern jede Art von Müll. Wie die Klimaaktivisten der letzten Generation ketten sich die Mitglieder der «Earth Defender» an öffentliche Orte, blockieren den Verkehr und versuchen so, auf ihr Thema aufmerksam zu machen. Melissa findet heraus, dass ihre Mitbewohnerin Victoria ein aktives Mitglied der «Earth Defender» ist. Wir bekommen auch hier als Leser aus nächster Nähe mit, was es heisst, gegen die Umweltverschmutzung zu protestieren.
Und dann ist da auch noch die Staatsgewalt. Diana Winkels und Nelson Carius arbeiten für den Bundesnachrichtendienst BND in Berlin. Die beiden Ermittler werden auf das Frachtschiff angesetzt, das Plastikmüll nach Afrika exportiert. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, wer die Hintermänner des grossen Geschäfts sind. Dabei stossen sie mit der Zeit auch auf die Firma Cyaclean, auf die Umweltaktivisten rund um Victoria und die verdächtig gut informierte Journalistin Melissa.
Ebendiese Melissa kommt immer stärker unter Druck. Sie gerät rasch zwischen die Fronten. Da ist ihr fordernder Chef, der emotionale Schlagzeilen fordert. Ihr Bruder sucht verzweifelt nach einer Therapie für seine sterbende Tochter. In den USA gäbe es zwar Krebstherapien, die Behandlung ist aber so teuer, dass sich die Familie das nicht leisten kann. Tolle Story, findet ihr Chef. So etwas mögen die Leser. Bei Cyaclean lernt Melissa nicht nur den amerikanischen Investor Ryan Hill kennen, sondern auch den Programmierer Leon Feininger. Der wird in der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen. Melissa möchte über die Proteste der «Earth Defender» berichten. Mitbewohnerin Victoria wehrt sich aber dagegen, weil sie nicht möchte, dass sie erkannt wird. Und dann ist da auch noch Moritz Aigner, einer der Hochzeitsgäste, die der Plastikvergiftung wegen ins Krankenhaus kamen. Er hat ein renommiertes Anwaltsbüro eigeschaltet. Die Anwälte versuchen, die Konzerne aus Handel und Industrie zur Verantwortung zu ziehen. Das erhöht den Druck im Kessel weiter.
Wolf Harlander hat es also geschafft, aus dem sperrigen Thema Plastikmüll einen spannenden Thriller zu stricken und zwar so, dass die Welt nicht holzschnittartig in gut und böse zerfällt. Journalistin Melissa zum Beispiel muss sich immer wieder fragen, ob das, was sie macht, noch Journalismus ist, oder ob sie schon Aktivistin ist. Ob sich eine Journalistin also für eine gute Sache einsetzen darf. Ihr Bruder Tobias kämpft um das Leben seiner Tochter – wie weit darf er dabei gehen? Ryan Hill will mit seinem Start-up die Welt von Plastikmüll befreien – rechtfertigt die gute Absicht auch das Verletzen von Regeln? Als Leserin, als Leser können wir uns gleich mit mehreren Figuren im Buch gut identifizieren. Das macht die Lektüre spannend, auch wenn sich der wahre Bösewicht, der die Fäden im Hintergrund zieht, nicht erst am Schluss abzeichnet.
Im Prolog schreibt Wolf Harlander:
Es ist überall. Und es hat Zeit.
Langsam entfaltet es seine unheilvolle Wirkung.
Und niemand ist auf diese Katastrophe vorbereitet. (Seite 8)
Das klingt pathetisch. Aber die Realität hat diese Worte längst eingeholt.
Wolf Harlander: Partikel. Überall. Unsichtbar. Tödlich. Ein Ökothriller. Rowohlt, 608 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-499-01135-1
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Basel, 5. September 2024, Matthias Zehnder
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