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Stadt der Hunde

Publiziert am 20. Februar 2025 von Matthias Zehnder

Die einzelnen Geschichten, die eine Schriftstellerin, ein Schriftsteller erzählt, mögen ganz unterschiedliche sein – mit der Zeit wird im Werk eines Autors oft ein Grundthema sichtbar. Bei Max Frisch zum Beispiel ist es die Frage nach der Identität des Menschen, vor allem die Spannung zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung. Das Grundthema in den Romanen von Elfriede Jelinek ist die Dekonstruktion von Machtstrukturen, vor allem im Zusammenhang mit Geschlecht, Gewalt und Sexualität. Bei der Lektüre des neusten Romans von Leon de Winter ist mir sein Grundthema aufgefallen: Es ist die Frage: «Was bin ich eigentlich?» Wie weit kann sich ein Mensch von der Geschichte seiner Familie und ihrer Kultur lösen? Leon de Winter ist Niederländer. Seine orthodox-jüdischen Eltern überlebten als einzige in ihrer Familie den Zweiten Weltkrieg. Sein Vater stammte aus einfachsten Verhältnissen und war ursprünglich Lumpen- und Altmetallhändler. Er brachte es zu einem kleinen Vermögen, so dass de Winter in gut bürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Er besuchte die niederländische Filmakademie und schrieb eine ganze Reihe von Drehbüchern und Romanen. Leon de Winter ist mittlerweile 70 Jahre alt. Eine Frage beschäftigt ihn immer noch: Kann ich mich von meiner Herkunft, meiner Familie, meiner Religion lösen? Bleibt ein Jude für immer ein Jude, gibt es also kein Entrinnen? Oder kann ich meine Geschichte, meine Kultur und Religion und vor allem meine Familie hinter mir lassen? In meinem 243. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was es mit der seltsamen Geschichte auf sich hat, die Leon de Winter in seinem neusten Roman erzählt, und was das Buch lesenswert macht.

 

Ich habe Leon de Winter vor vielen Jahren mit dem Roman «Super Tex» kennengelernt. Der Roman dreht sich um Max Breslauer, 36 Jahre alt, Erbe des Textilimperiums SuperTex – und Jude. Das Buch beginnt damit, dass Max an einem Samstag morgen in seinem Porsche mit hundert Sachen durch die Amsterdamer Innenstadt brettert. Gleichzeitig ist eine Chassidische Familie auf dem Weg in die Synagoge. Es kommt, wie es kommen muss: Max steigt zwar voll auf die Bremse, das ABS des Porsche leistet ganze Arbeit, trotzdem fährt er einen kleinen Jungen der Familie an. Es ist nicht schlimm, der Junge ist nur leicht verletzt, nichts, was Robbie, der Anwalt von Max, nicht aus der Welt schaffen könnte. Doch der Vater des Jungen ist nicht zu beruhigen. Er schimpft und wütet, wirft Max vor, dass er seinen Jungen habe ermorden wollen. Ein kleiner Junge der Familie fragt Max: «Wenn Sie ein Jude sind, was tun Sie dann am Schabbesmorgen in einem Porsche?» (Seite 30)

Dieser eine Satz bringt die Geschichte auf den Punkt: Ein frommer Jude benutzt am Sabbat keine Maschinen, rast also nicht durch die Stadt und fährt schon gar keinen Porsche. Denn Ingenieur Porsche hat, wie der Vater des Jungen ausruft, für Hitler den Volkswagen gebaut. «Ich hatte es eilig», versucht Max sich zu entschuldigen. Der kleine Junge sagt darauf vorwurfsvoll: «Am Schabbes hat man keine Eile.» (Seite 31) Obwohl er sonst mit der jüdischen Religion kaum etwas am Hut hat, bringen Max die altklugen Sätze des kleinen Jungen aus dem Konzept. Sie erschüttern ihn so, dass er notfallmässig eine Psychoanalytikerin aufsucht. Auf der Liege sagt er ihr: «Der kleine Junge hatte recht. Was bin ich eigentlich? Ein Jude? Ein Goj? Worum dreht sich mein Leben? Was bin ich ausser einem Samenkorn im Wind?» (Seite 49)

Der Roman über Max Breslauer, den Juden mit dem Porsche, ist 1994 bei Diogenes erschienen. Damals war Leon de Winter 40 Jahre alt. Er war ein junger, holländischer Filmemacher, der mit ersten Romanen in seiner Heimat grosse Erfolge feierte. Dreissig Jahre später ist Leon de Winter Siebzig, er hat inzwischen eine ganze Reihe erfolgreicher Romane und Drehbücher geschrieben und sich als politischer Kolumnist betätigt. Sein neuster Roman «Stadt der Hunde» dreht sich wieder um einen Mann, wieder ist er im Alter von Leon de Winter, wieder ist es ein Jude, diesmal ein erfolgreicher Neurochirurg – und noch immer steht im Zentrum die Frage: «Was bin ich eigentlich?»

Hauptfigur des neuen Romans ist Professor Jaap Hollander. Er gilt als einer der besten Hirnchirurgen der Welt. Barbara Ben Zion, eine israelische Kollegin, hat einmal gegenüber der «Jerusalem Post» erklärt, dass Jaap für seine «fast telepathischen Fähigkeiten» bei den schwierigsten Hirnoperationen geschätzt werde. Sie selbst schätzt Jaap für ganz konkrete Fähigkeiten: Wenn Jaap in Jerusalem ist, verbringen die beiden gerne ein, zwei Nächte miteinander.

Jaap verfügt über ein bemerkenswertes räumliches Vorstellungsvermögen. Er sieht die Gehirne, die er operiert, präzise dreidimensional vor sich und seine Finger und Hände bewegen sich mit absoluter Sicherheit in den Strukturen. Jaap leidet aber unter einer milden Form von Prosopagnosie, also Gesichtsblindheit. Er kann sich Gesichter schlecht merken. Schwere Fälle erkennen nicht einmal sich selbst im Spiegel. So schlimm ist es bei Jaap nicht. Aber er muss sich Eselsbrücken bauen für die Gesichter der Menschen, mit denen er zu tun hat. Er vergleicht sie deshalb mit Filmstars. Er selbst hat in seinen besten Jahren einer hochgewachseneren Version von Al Pacino geähnelt. Er war zweifellos attraktiv. Er ist mit Nicole verheiratet. In ihren besten Jahren, also vor ihrer Heirat mit Jaap, erinnerte sie ihn an die Sängerin Blondie: breite Wangenknochen, blondes Haar, grüne Augen, sinnliche Ausstrahlung. Allerdings war das Blondie-Image bei Nicole kein Zufall, sondern das Resultat harter Arbeit im Fitnessstudio und am Schminktisch. Das Paar hat eine Tochter, Lea.

Nicole hatte auf seiner Station gearbeitet; sie war eine der attraktivsten Frauen dort gewesen, und Jaap schlief mit ihr, wie er es auch mit anderen Krankenschwestern tat. Als sie ihm eröffnete, dass sie von ihm schwanger war, war Jaap achtunddreißig, Nicole achtundzwanzig.

Zuerst war er sauer, weil sie die Pille vergessen hatte; dann vermutete er, dass sie es absichtlich getan hatte, denn er war der Hauptgewinn der Abteilung: ledig, schlank, Verführerblick, wenn er es darauf anlegte, und Geld wie Heu. Vielleicht, dachte er dann aber irgendwann, war es an der Zeit, Vater zu werden, und er sollte dies wie ein Naturgesetz akzeptieren, auch wenn er Nicole nie als Lebenspartnerin in Betracht gezogen hatte und es andere Krankenschwestern gab, die er für geeigneter gehalten hätte. In puncto Abtreibung dachte er konservativ, was Nicole wusste, und daher ließ ihm die Schwangerschaft keine Wahl. (Seite 9f.)

Die Beziehung, wenn es denn je eine war, ist längst zerbrochen. Schon lange geht Nicole Jaap vor allem auf die Nerven, ja, er hat begonnen, sie zu verachten. Er fühlt sich deswegen schuldig. Schliesslich ist Nicole die Mutter seiner Tochter. Er sollte sie respektieren, sie lieben. Manchmal denkt er, es wäre besser gewesen, er wäre damals nicht so gradlinig gewesen und hätte Nicole dazu gebracht, das Kind abzutreiben. Dann wäre ihm die Ehe erspart geblieben. Aber dann hätte es Lea nie gegeben.

Obwohl: Einfach geht es ihm mit seiner Tochter nicht. Wie immer in zerbrechenden Beziehungen steht das Kind zwischen den Eltern. Jaap flüchtet sich vor Nicole in den Operationssaal und in die Gehirne seiner Patienten, er verbringt wenig Zeit mit Lea. Es überrascht ihn deshalb, dass Lea, als sie dreizehn Jahre alt ist, sich für das Judentum zu interessieren beginnt. Jaap ist selbst zwar Jude, empfindet das aber als Zufall der Geburt. Seine Eltern haben den Krieg in einem Versteck überlebt und ihn jüdisch erzogen. Jaap hat Hebräisch gelernt und mit dreizehn Jahren seine Bar Mitzwa gefeiert. Nach dem frühen Tod seines Vaters hat er aber nie wieder einen Fuss in eine Synagoge gesetzt. Er ist einige Male nach Israel gereist, aber immer nur beruflich. Dabei hat er eine schöne, junge Neurochirurgin argentinischer Abstammung kennengelernt, die ihn an die junge Penélope Cruz erinnert. Das ist jene Barbara, die ihn später gegenüber der «Jerusalem Post» lobt. Davon abgesehen ist ihm Israel einigermassen gleichgültig: Er empfindet weder Zu- noch Abneigung zu dem Land und dem, was die Juden dort machen.

Und dann will Tochter Lea plötzlich Jüdin werden. Das ist gar nicht so einfach. Nach der traditionellen jüdischen Gesetzgebung, der Halacha, gilt eine Person nur dann als jüdisch, wenn ihre Mutter jüdisch ist. Das Judentum geht also automatisch von der Mutter auf das Kind über, unabhängig von der Religion oder der Herkunft des Vaters. Jaap ist zwar jüdisch, aber Nicole ist katholisch. Lea ist deshalb keine Jüdin. Sie will das aber ändern.

Mit dreizehn begann ihre stille Tochter, sich mit den Traditionen ihrer jüdischen Großeltern zu beschäftigen, die Jaap nichts bedeuteten. Lea las die Bücher Mose, vertief‌te sich in die alte Geschichte und den Holocaust und meldete sich bei der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Amsterdam, wo sie in eine Gruppe junger Mädchen aufgenommen wurde, die als jüdisch anerkannt werden wollten. Sie alle hatten einen jüdischen Vater und waren damit sogenannte Vaterjuden, was für die Rabbiner aus irgendeinem Grund keine Bedeutung zu haben schien; sie stellten nur dann eine Bescheinigung über das Jüdischsein aus, wenn die Mutter Jüdin war. Lea aber wollte diese Bescheinigung unbedingt.

Sie hatte sich vorgenommen, nach ihrem Schulabschluss eine sogenannte Birthright-Reise nach Israel zu unternehmen, eine kostenlose Fahrt, durchgeführt von einer israelischen Organisation für junge Juden, Vaterjuden und Großvaterjuden, die auf der Suche nach ihren Wurzeln waren. Lea schaffte ihren Abschluss und machte sich auf den Weg. Dieser Drang seiner Tochter hatte Jaap befremdet, aber irgendwann hatte er sich damit abgefunden. Nach der Rundreise wolle sie noch ein bisschen länger in Israel bleiben, hatte sie ihrer Mutter erzählt. Nicole beriet sich mit Jaap, und er war einverstanden. (Seite 16f.)

Zusammen mit Joshua, einem jungen Amerikaner, reist Lea also noch ein bisschen in Israel herum. Mit ihm besucht sie den Ramon-Krater in der Negev-Wüste. Und da verschwinden die beiden Teenager spurlos. Lea ist achtzehn, Joshua Pollock zwanzig Jahre alt. Jaap findet, dass Lea zu diesem Zeitpunkt Ähnlichkeit mit einer sehr jungen Gal Gadot hat und Joshua mit Bradley Cooper in seiner jugendlichen, gut aussehenden Version von 1995. Es sind zwei schöne junge Menschen – und sie sind verschwunden. Jaap setzt alle Hebel in Bewegung. Armee, Geheimdienst, Terrorexperten, Wissenschaftler – die beiden Jugendlichen bleiben spurlos verschwunden.

Das Verschwinden seiner Tochter erschüttert Jaap zutiefst. Er verliert sein Haar, die Gesichtsblindheit verschlimmert sich, er wird ein Schatten seiner selbst. Neun Jahre nach dem Verschwinden seiner Tochter wird Jaap auch noch in Rente geschickt. Er ist immer noch einer der besten Gehirnchirurgen der Welt, sein Wissen ist immer noch auf dem neusten Stand, seine Hände, die aussehen, wie die eines Pianisten, sind immer noch im der Lage, die schwierigsten Operationen auszuführen. Aber Jaap hat die Altersgrenze erreicht. Er darf nicht mehr arbeiten.

Spätestens jetzt stellt sie sich wieder, die Frage, die Max Breslauer schon in «SuperTex» umgetrieben hat: «Was bin ich eigentlich?» Jaap hat sich immer über seine Arbeit definiert. Aber er darf nicht mehr operieren. Er hat sich von seiner Frau getrennt, bleibt ihr aber über die gemeinsame Tochter verbunden. Die Tochter, die seit Jahren verschwunden ist. Die Religion ist ihm egal, aber ausgerechnet diese Religion ist schuld an der Reise von Lea nach Israel.

Zehn Jahre nach dem Verschwinden seiner Tochter reist Jaap, wie jedes Jahr, wieder in die Wüste Negev, an jenen Ort im Ramon-Krater, an dem die letzten Spuren von Lea gefunden worden sind. Im nahe gelegenen Hotel erreicht ihn eine Mitarbeiterin der israelischen Regierung mit einer dringenden Nachricht des israelischen Ministerpräsidenten (den Jaap nicht ausstehen kann). Gegen alle Zweifel und Aversionen folgt Jaap dem Ruf des Präsidenten. Er bittet ihn nämlich, eine Gehirnoperation an einem siebzehnjährigen Mädchen durchzuführen. Eine Operation, von der alle Fachleute sagen, dass sie unmöglich sei. Ausser, vielleicht, für Jaap Hollander. Und dann beginnt am Gedenkstein für Lea in der Negev-Wüste ein Hund mit Jaap zu sprechen.

Auf den ersten Blick ist es eine seltsame Geschichte, die Leon de Winter in seinem neuen Roman erzählt. Ein Gehirnchirurg, seine in der Negev-Wüste verschwundene Tochter, ein sprechender Hund, eine unmögliche Operation. Dazu kommt, dass de Winter in einem eher distanzierten Ton erzählt, der zuweilen ein wenig an den essayistischen Erzählstil von Milan Kundera erinnert hat. Wenn man von Anfang an als Lesehilfe Leon de Winters zentrale Frage im Kopf hat, verliert der Roman aber seine Seltsamkeit. Die Frage lautet: «Was bin ich eigentlich?»

Wichtig ist dabei: Die Frage ist nicht, wer bin ich, sondern was bin ich. Es geht also nicht um Selbstverwirklichung und Individualität, sondern um Zugehörigkeit. Was ist Jaap? Ist er Gehirnchirurg oder Jude, Vater oder Mann, Macho oder Gefährte? Max Frisch würde wohl sagen: Der Schlüssel ist die Selbstwahl: Es kommt darauf an, wer Du sein willst. Leon de Winter sieht das anders. Seine Figuren sind eingesperrt in ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre Religion, auch wenn die keine Rolle mehr spielt, ihre Familie, selbst wenn sie dysfunktional ist wie bei Jaap, und in ihr Gehirn. Das wird sich als die grösste Herausforderung herausstellen, die Jaap zu meistern hat: Er selber weiss nur zu genau, dass das, was er erlebt, nicht unbedingt wirklich ist, weil er eingesperrt ist in sein Gehirn. Und das ist auch nur ein Organ.

«Was bin ich eigentlich?» Wenn Sie diese Frage bei der Lektüre des Romans als Lesehilfe nutzen, kann ich ihnen ein spannendes Leseerlebnis garantieren. Ein Leseerlebnis, das seltsam nachwirkt. Mindestens in meinem Gehirn.

Leon de Winter: Stadt der Hunde. Roman. Diogenes, 272 Seiten, 35 Franken; ISBN 978-3-257-07281-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072815

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20.02.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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