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Achtzehnter Stock
Warum lesen Sie ein bestimmtes Buch? Blöde Frage, sagen Sie jetzt vielleicht, natürlich der Geschichte wegen. Die meisten Verlage werben auf ihren Buchumschlägen denn auch mit einer spannenden Geschichte. Zwei Beispiele: «Der Profi ist ein abgebrühter Auftragskiller – und zugleich Familienvater mit Frau und Kind.» Das steht auf dem Umschlag von «Der Profi», einem Roman von Kotaro Isaka. «Als er sich entschließt, auszusteigen, gerät er in Tokios Unterwelt in einen Strudel der Gewalt». Oder der neue Roman von Jan Weiler: Der erfolgreiche Architekt Peter Munk erleidet einen Herzinfarkt. In der Rehaklinik trägt sein Therapeut ihm Selbsterforschung auf. «Und so blickt Peter Munk erstmals auf die dreizehn Frauen seines Lebens zurück.» Ob Auftragskiller oder Liebhaber – wir stellen uns dieselbe Frage: Was passiert da wohl? Es ist die Geschichte, die Handlung, die uns lockt, das Buch zu lesen. Beim neuen Roman von Sara Gmuer ist das anders. Da hat mich die Handlung eher abgeschreckt: Wanda wohnt mit ihrer fünfjährigen Tochter Karlie im achtzehnten Stock eines Berliner Plattenbaus. Zitat vom Buchumschlag: «Der Lift ist defekt, das Treppenhaus ein Funkloch, in dem man, wenn man Pech hat, das ganze Leben verpasst, und Wanda weiss nur eins: Sie muss hier raus.» Das tönt nicht nach einem Buch, das ich lesen muss. Und dann habe ich es doch gelesen und war hingerissen davon. Warum, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 244. Buchtipp.
Sozialkritische Literatur zeigt gesellschaftliche Missstände auf und übt Kritik an sozialen Ungleichheiten. Es gibt hervorragende sozialkritische Romane. Zum Beispiel «Die Blechtrommel» von Günter Grass aus dem Jahr 1959. Er erzählt darin die Geschichte von Oskar Matzerath, der sich mit seiner Blechtrommel gegen die Verdrängung des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit auflehnt. Ein Beispiel aus dem letzten Jahr ist «Demon Copperhead» von Barbara Kingsolver. Die Opioid-Krise der USA bildet das soziale Umfeld für ihre packende Neuerzählung der Geschichte von David Copperfield. Es gibt aber auch viele andere sozialkritische Romane, die nicht gut sind, sondern nur gut gemeint.
«Achtzehnter Stock» von Sara Gmuer ist anders. Obwohl die Zusammenfassung der Handlung sich liest wie die Inhaltsangabe eines sozialkritischen Romans, ist es keiner. Sara Gmuer hat keine Message und will keine soziale Wirkung erzielen. Sie schaut nur ganz genau hin und beschreibt, was sie sieht, in begeisternd präziser Sprache. Gerade deshalb erzielt sie damit viel mehr Wirkung als manch sozialkritisches Rührstück, das auf Wirkung angelegt ist. Aber von vorn.

Wanda ist 30, sie ist Schauspielerin, aber nicht wirklich erfolgreich. Ihr letzter Drehtag ist über zwei Jahre her, ein Werbespot für Persil mit strahlend weisser Wäsche. Ein Drehtag in zweieinhalb Jahren ist definitiv zu wenig für eine alleinerziehende Mutter. Wandas Tochter Karlie ist fünf Jahre alt und ein Wirbelwind. Eigentlich. Aber jetzt liegt sie mit einer Mittelohrtzündung auf dem Sofa im achtzehnten Stock. Aus ihrem Ohr fliesst Eiter und versickert im Polster. Das Ohr stinkt. Die Mama von Karlies Nachbarfreundin Aylin hat mal in der Pflege gearbeitet. Jetzt ist sie so was wie die Medizinfrau im Plattenbau. Sie hat eine weisse Schachtel mit einem roten Kreuz drauf, vollgestopft mit Fieberzäpfchen, Mullbinden, Wundsalben und Tabletten in allen Farben. Sie sagt, es sei gut, dass der Eiter aus dem Ohr fliesse.
Nein, die Handlung ist nicht packend. Packend ist, wie Sara Gmuer das Leben in der Platte beschreibt.
Karlie schläft vor dem Fernseher ein, noch bevor sich das Aspirin im Wasser aufgelöst hat. Der Fernseher flackert lautlos vor sich hin, und die bunten Trickfilmfarben nehmen der Wohnung das Grau. Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt. Ganz anders. Ich wollte nie so werden wie die anderen hier. Ich wollte nie eine von ihnen sein, mit platt gedrückten Haaren vom vielen Fernsehen. Ich räume den Müll vom Sofatisch in die Küche und lasse ihn neben dem Spülbecken liegen. Es ist ganz still. Nur das milchige Wasser sprudelt wie Kohlensäure vor sich hin. Schade um die Medizin. Ich trinke das Glas auf ex, vielleicht betäubt Aspirin ja auch Gedanken. (Seite 9)
Das ist gut, es ist saugut geschrieben. Warum packt mich die Sprache, obwohl mich die Geschichte eigentlich nicht interessiert? Ich glaube, das ist wie in einem Kunstmuseum. Ob Vincent van Gogh oder Georges Grosz – die Bilder eines guten Malers faszinieren, ganz egal, ob Sonnenblumen, ein abgeschnittenes Ohr oder verkommene Strassenszenen in Berlin dargestellt sind. Weil die Kunst selbst uns packt.
Ich gebe Ihnen gerne einige Beispiele aus dem Roman von Sara Gmuer. Hören Sie sich diese Stelle einmal an:
Sollen die doch alle denken, was sie wollen. Glück lässt sich von Pisse im Treppenhaus nicht abschrecken, Glück findet von Zeit zu Zeit sogar in den achtzehnten Stock. (Seite 18)
Glück findet von Zeit zu Zeit sogar in den achtzehnten Stock. Bei einem Maler würde man von einem perfekten Pinselstrich reden. Es sind Sätze zum anstreichen und aufschreiben. Oder diese Stelle:
Karlie und Aylin spielen mit Barbies und einem echten Prinzessinnenschloss. Aylins rosarotes Kinderzimmer ist bis unter die Decke mit Plastikschrott aus China vollgestopft. Sie kriegt von ihrer Mama alles, was sie will, damit nicht auffällt, dass sie nichts haben. (Seite 19)
Aylin kriegt von ihrer Mama alles, was sie will, damit nicht auffällt, dass sie nichts haben. Wieder so ein Satz zum Anmalen und Ausschneiden.
Oder hier. Aylins Mama kommt auf einen Tee rüber, und Esther, eine andere Bewohnerin des Hochhauses, bringt Ratschläge mit. Wanda hat Angst, dass Tochter Karlie eine Hirnhautentzündung entwickelt. Aber Esther sagt, solange Karlie ihre Knie küssen könne, sei alles gut. Wahrscheinlich eine Geschichte, die sie in einer ihrer Telegram-Gruppen aufgeschnappt hat. Und dann kommt wieder so ein Hammer-Satz:
Man muss die ganzen Verschwörungsgeschichten nicht mal glauben, man muss sie nur oft genug hören, dann kriegt man die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, und wenn es nur ein komisches Gefühl ist, irgendwas bleibt immer. (Seite 30)
Genau so ist es. Wieder ein Satz zum Anmalen. Aber Wanda lässt sich nicht einlullen. Mit Karlie stimmt etwas nicht. Erst versucht sie es bei HNO-Praxen. Keine Chance ohne Termin und mit einer Adresse in den Plattenbauten. Also schleppt sie Karlie zur Notaufnahme. Im Wartebereich liegen die Kinder kreuz und quer auf Stühlen. Wanda würde am liebsten wieder umkehren. Endlich, nach Stunden qualvollen Wartens, wird Karlie untersucht – und dann geht es schnell. Verdacht auf Hirnhautentzündung, Lumbalpunktion.
Im Fahrstuhl nach oben erklärt mir die Ärztin die Risiken einer Lumbalpunktion. «Einer was?» «Hirnwasseruntersuchung», sagt sie. Und normalerweise gebe es dafür mindestens einen Tag Bedenkzeit. Ich habe vier Stockwerke, dann muss ich unterschreiben. Ich kann nicht mal googeln, was mit uns passiert. Mein Akku ist leer. (Seite 33f.)
Normalerweise hat man mindestens einen Tag Bedenkzeit. Ich habe vier Stockwerke, dann muss ich unterschreiben. Wie könnte man Dringlichkeit knapper und besser darstellen? Später, als die Ärzte ein MRI von Karlies Kopf machen:
Wir gehen durch unterirdische Gänge und durch schwere Strahlenschutztüren, die vielleicht Strahlen abhalten, aber nicht meine Angst. (Seite 38)
Nein, gegen Angst gibt es keine Schutztüren. Auch nicht im Krankenhaus. Aber offenbar hat Karlie etwas von diesem Glück abbekommen, das von Zeit zu Zeit sogar in den achtzehnten Stock findet. Sie kommt durch. Allerdings hat Wanda, weil sie die ganze Zeit bei ihr im Krankenhaus war, ein Engagement verloren. Das erste seit zwei Jahren. Ihr Agent ruft sie an: «Du bist raus. Ich sag’s, wie’s ist, keiner braucht ’ne Mutti, die nach Hause rennt, sobald das Kind schreit.» Aber Wanda lässt sich nicht unterkriegen. Sie will nicht aufgeben, ihre Träume nicht und schon gar nicht das Leben mit Karlie. Und dann kommt wieder so ein Hammersatz:
Mein Alltag ist ihre Kindheit. (Seite 48)
Zum Aufschreiben und Einrahmen. Genau das habe ich empfunden, als unsere Kinder klein waren: Für mich war mein Leben damals nur Alltag. Für sie war es ihre Kindheit.
Wanda will gegen alle Widerstände und gegen alle Wahrscheinlichkeit ihren Traum nicht aufgeben.
Aylins Mama sagt, ich solle mich nicht so anstellen und wie jeder andere normale Mensch einfach aufs Amt gehen und mich ordentlich um meine Tochter kümmern. Die Krankheit sei ein Weckruf gewesen. Ich sei nichts Besseres als die anderen hier, ich sei genau gleich, ich solle mich mal umschauen, das sei die Realität, und ich würde mich mit meinen Mädchenfantasien bloß lächerlich machen. Sie hält mich für naiv, spielt selbst aber jeden Mittwoch Lotto. …
Sie sei nur ehrlich, die Leute würden schon hinter meinem Rücken reden, das würde natürlich keiner zugeben, aber sie, sie müsse es mir ja sagen. Sie kann sich ihre Ehrlichkeit in den Arsch stecken, Ehrlichkeit bedeutet nicht automatisch Wahrheit, und nur weil sie sagt, was sie denkt, heißt es noch lange nicht, dass es stimmt. Sie weiß überhaupt nicht, worum es geht. Sie kennt Castings nur aus dem Fernsehen, wo minderjährige Kandidatinnen mit Selfiegesicht um eine Chance betteln. Sie kennt Heidi Klum und Dieter Bohlen, mehr nicht. (Seite 59f.)
Ehrlichkeit bedeutet nicht automatisch Wahrheit, und nur weil sie sagt, was sie denkt, heißt es noch lange nicht, dass es stimmt. Gut, oder?
Unerfüllte Träume sind auch Träume. Sie sind bloß viel gefährlicher. Man verbittert, man wird so, wie man niemals sein wollte, man wird wie all die anderen Versager, Verstörten und Vergessenen, man lässt sich gehen und gewöhnt sich an die flirrenden Abgase, die Absagen, den Lärm. (Seite 61)
Wieder so ein Satz: Unerfüllte Träume sind auch Träume. Sie sind bloß viel gefährlicher. Weil unerfüllte Träume bitter machen. Das ist nicht nur gut gesagt, sondern vor allem auch gut beobachtet. Oder diese Stelle hier:
Man wird zu den Menschen, mit denen man am meisten Zeit verbringt. Man wird eins mit der Umgebung, wie Fetzenfische zwischen Korallen oder hässliche Gespenstschrecken auf irgendwelchen Ästen. Man gleicht sich an, bis man sich am Ende selbst nicht mehr sieht, und wenn man dann hinter vergilbten Gardinen und vorgehaltener Hand über die anderen redet, meint man eigentlich sich selbst. (Seite 69)
…und wenn man dann hinter vergilbten Gardinen und vorgehaltener Hand über die anderen redet, meint man eigentlich sich selbst. Das ist schonungslos beobachtet und lakonisch-präzise gesagt. Wie ein Bild von Georges Grosz. Das ist es, was dieses Buch ausmacht.

Und mit der Zeit fasziniert auch die Geschichte von Schauspielerin Wanda, die ihre Träume nicht aufgeben kann und der Platte entfliehen will. Ich habe Ihnen jetzt schon viel verraten, deshalb sage ich nicht mehr zur Geschichte. Aber vielleicht ist das wie bei einem guten Bild: Auch wenn sie wissen, was es zeigt, lohnt es sich, im Kunstmuseum das Original anzusehen. Das ist in unserem Fall ganz einfach: Lesen Sie das Buch. Aber legen Sie einen Bleistift bereit. Sie werden ihn brauchen.
Sara Gmuer: Achtzehnter Stock. Roman. Hanser, 224 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-446-28278-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282780
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 27.02.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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