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Nicht mein Leben
Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg ist mittlerweile 90 Jahre alt. In diesem Alter ist es verständlich, dass er an den Tod denkt. Eher aussergewöhnlich ist, dass er und seine japanische Frau sich auf einem Friedhof ein gemeinsames Grab ausgesucht haben. In der japanischen Kultur spielt das gemeinsame Familiengrab eine grosse Rolle. Die Idee ist, dass Ehepartner auch im Tod vereint bleiben. Auf dass nicht einmal der Tod Euch scheide. Dieser Wunsch nach einem gemeinsamen Grab ist auch der Ausgangspunkt der neuen Erzählung von Adolf Muschg. Allerdings erzählt Muschg darin nicht von sich selbst und seiner realen Frau Atsuko Kanto. Im Buch ist es Gymnasialprofessor August Mormann, Spezialist für die alten Griechen, der seiner japanischen Frau den Wunsch nach einem gemeinsamen Grab erfüllt. Mormanns Frau verschwindet in der Mitte des Buchs. Handelt das Buch also doch nicht von Adolf Muschg? Ist das alles nicht wahr, sondern nur gut erfunden? Die Wahrheit, macht Muschg uns klar, ist eine vielschichtige Angelegenheit. Im Buch spielt ein Theaterstück von Franz Grillparzer eine zentrale Rolle: «Weh dem, der lügt!» heisst das Stück. Darin geht es nicht einfach um Lüge und Wahrheit, sondern auch um den Widerstreit von praktischer Vernunft und ideologischer Verbohrtheit. Dazu passt der Titel der Erzählung: «Nicht mein Leben». Aber was denn sonst? In meinem 242. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was es mit der Wahrheit in diesem Buch auf sich hat und warum die Kunst die Rettung ist.
Adolf Muschg ist in der Schweiz, was man einen «Public Intellectual» nennt: ein Intellektueller, der sich in öffentliche Debatten einmischt. Er war lange Zeit Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Mit seinen Romanen und Essays gehört er zu den wichtigsten Schweizer Schriftstellern der Gegenwart. Als streitfreudiger Intellektueller hat er immer wieder die Identität der Schweiz und ihre Position in Europa thematisiert. Ganz besonders hat er sich mit den nationalen Mythen beschäftigt. Mittlerweile ist Adolf Muschg 90 Jahre alt. Seit 1991 ist er in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet. Das alles spielt in seinem neuen Buch eine Rolle, auch wenn sein Buch «Nicht mein Leben» heisst. Aber in den Erzählungen von Muschg waren der Autor Muschg und die dargestellte Figur schon oft schwer auseinanderzuhalten. Wobei: Ist das nicht immer so?

In der neuen Erzählung heisst sein Alter Ego August Mormann, genannt Famu. Dieser Famu ist 80 Jahre alt und schon etwas gebrechlich. Er war Gymnasialprofessor für Alte Sprachen, seine Leidenschaft sind die alten Griechen, ihre Sprache, ihre Geschichte und vor allem ihre Geschichten. Seine zweite Leidenschaft ist Europa. Und dann ist da noch seine Ehefrau Akiko Kanda. Wie bei Muschg selbst ist es seine dritte Ehefrau und sie stammt aus Japan. Es ist eine komplizierte Beziehung. Die beiden sind zu unterschiedlich, als dass sie sich sicher sein könnten. Man darf es deshalb durchaus als Liebeserklärung lesen, dass diese Aki ihren Mann um ein gemeinsames Grab bittet. Sie möchte, dass sie im Tod beisammen sind. Also fahren sie zusammen zum Friedhof Ennetbühl, einem weitläufigen Gelände, um sich ein Grab auszusuchen.
So schritten sie, die Stöcke unter einen Arm geklemmt, hinter Bolle von Platz zu Plätzchen und ließen sich die Bewandtnis von jedem erklären, Famu mit einem leisen Stöhnen, das wie Aha! klang, Aki nur still und stumm. Ihr Führer war ein Feinschmecker der besonderen Art, eine Mischung von Gartenphilosoph, Leichenbitter und Grundstücksmakler. Schließlich einigten sie sich – Aki immer noch wortlos – auf einen dämmrigen, leeren, aber stark bemoosten Platz im Schatten dreier Fichten, von dem der Blick, um eine schützende Ecke herum, frei war auf ein sechseckiges Rondell mit einem runden Spritzbrünnchen in der Mitte und Bänklein am Rande. Der Platz war zugleich versteckt und offen. Baum und Busch, die ihn umstanden, erhoben sich ansehnlich und waren durch Vögel besiedelt, deren Gesang hoffentlich auch unter die Erde drang. Das einzige Nachbargrab wirkte ein wenig verwahrlost, aber diskret. (Seite 35)
Erst viel später bemerkt August Mormann, wer in diesem etwas verwahrlosten Nachbargrab liegt: Es ist Robin Marcus. Und diesen Robin kennt Mormann. Er ist ihm als Schüler im Internat begegnet. Robin war damals vier Jahre älter als Mormann und damit «out of reach»: Die beiden haben nie ein Wort miteinander gewechselt. Trotzdem hat Robin den jungen August nachhaltig beeindruckt. Da verschwimmen sie wieder, die reale Geschichte von Adolf Muschg und die erzählte Geschichte des August Mormann. Adolf Muschg hat nach dem Tod seiner Eltern zwei Jahre im Internat verbracht, in der Evangelischen Mittelschule Schiers im bündnerischen Prättigau. Keine Klosterschule, aber ähnlich eng und trocken, geradezu orthodox reformiert. Die Schule war für Adolf Muschg die Rettung vor dem Waisenhaus und doch ein enger Kerker. Bis er dem realen Vorbild von Robin im Nachbargrab von August Mormann begegnete.
Anlass der Begegnung war eine Aufführung des Schülertheaters:
Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her. In unserer Lehranstalt Pschütt wurde damals wieder einmal ein Schülertheater angezeigt, dessen Besuch für die Jüngeren obligatorisch war. Es hatte die Turnhalle, wo es steigen sollte, eine Woche unbenützbar gemacht, aber schon die Proben hatten das ganze Internat mit abgerissener Instrumentalmusik durchweht. Der Titel des Stücks «Weh dem, der lügt!» versprach viel Moral, also nichts Gutes, so wenig wie der ausgefallene Name des Dichters: «Grillparzer». Der war angeblich der wichtigste Klassiker Österreichs, das bei uns, abgesehen vom Skifahren, keinen guten Ruf genoß. Für mich war Theater immer noch besser als Turnen; die öde Halle mit ihren Lederböcken, Matten und Sprossenwänden konnte eine Verkleidung wohl vertragen – vor allem die Bühne, auf der uns Lehrer Cabalzar in Reih und Glied zum Salto mortale antreten ließ. Für einmal war sie mit einem deckenhohen Vorhang verhängt, der vielversprechend wogte; in einem Winkel probierte ein Musikergrüppchen seine Instrumente, während wir Schüler die Stuhlreihen besetzten … (Seite 135)
Das Stück von Franz Grillparzer dreht sich um Wahrheit und Lüge, allerdings auf höchst verzwickte Weise. Die Handlung spielt zur Zeit der Merowinger. Die feindlichen Germanen haben Atalus, den Neffen von Bischof Gregor von Chalon, gefangen genommen. Jetzt verlangen sie vom Bischof ein unmöglich hohes Lösegeld. Da springt der Küchenbursche Leon ein: Er verspricht dem frommen Bischof, den Neffen zu befreien. Der Bischoff will sich aber auf das kühne Angebot von Leon nur einlassen, wenn Leon sich dazu verpflichtet, dabei immer bei der Wahrheit zu bleiben. Denn Gottes Gebot sagt: «Weh dem, der lügt!». Der clevere Küchenjunge zeigt in der Folge mit viel Wortwitz, wie man lügen und täuschen kann, auch wenn man präzise bei der Wahrheit bleibt. «Die Wahrheit», schreibt Muschg, «ist vielschichtiger als die Gebäude der Moral». Ganz offensichtlich kann man das Heil nicht mit Dogmen beherrschen. Muschg schreibt: «Menschlichkeit zeigt sich nicht in Grundsätzen, schon gar nicht erschöpft sie sich darin.»
Ihm Buch und in der Realität hat der vier Jahre ältere Junge die Musik zum Stück geschrieben und die Musiker selber dirigiert, die Regie geführt und ist kurzfristig, weil der Darsteller erkrankte, auch noch für die Hauptrolle des Leon eingesprungen. Für den jungen August Mormann (und wohl auch für den jungen Adolf Muschg) wird die Aufführung im Internat zum Schlüsselerlebnis. Dass auch an einem so engen Ort so freie Kunst möglich ist, verändert alles. Muschg schreibt im Buch: «Ich war in Robin einem Traum von mir selbst begegnet». Plötzlich kann er im in jeder Beziehung engen Bergort wieder atmen. Die Enge wird erträglich. Die Kunst hat ihn gerettet. Jetzt, am Ende seines Lebens, entdeckt er, dass der junge Künstler neben seiner eigenen Grabstelle begraben ist. Er habe damit im richtigen Augenblick einen Bruder wiedergefunden, schreibt Muschg alias Mormann, einen Bruder, den er ein ganzes Leben lang verloren hatte, obwohl er ihm damals, im Internat, mit seiner Kunst das Leben rettete.
Diese Erleuchtung war mir nicht gleich aufgegangen, noch nicht auf der Friedhofsbank, auf die ich mich setzen mußte, als ich den Namen las. Klar war nur so viel: Vor bald siebzig Jahren hatte ich die Turnhalle des Internats als Famu betreten und war als Outis wieder herausgekommen. Sie hatte mir die eigene Kindheit vergegenwärtigt und mich zugleich von ihr befreit – nein, das noch nicht. Aber gezeigt, wie die Befreiung aussehen mußte: wie Robin Marcus und sein Umgang mit der Lüge. Natürlich stürzen besonders Lebenslügen nicht von heute auf morgen, man benötigt sie ja zu unerbittlich. Aber der Spalt zur Freiheit – von der Angst, selbst nichts weiter als ein Lügner zu sein – stand zum ersten Mal offen. Wohl dem, der auch lügen darf, um der eigenen Wahrheit näher zu kommen, zu seinem Glück! (Seite 141)
Das ist der springende Punkt: Wahrheit ist kein Dogma und keine Absolutheit. Der junge Küchengehilfe Leon mogelt sich im Stück von Grillparzer durch den Krieg, indem er die Menschen mit der Wahrheit täuschen kann, weil ihm, dem frechen Küchengehilfen, niemand glaubt. Im Buch macht Muschg dasselbe, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Er «lügt», erfindet also eine Geschichte, und nähert sich auf diese Weise der Wahrheit. Muschg zeigt auf diese Weise, dass Kunst und Wahrheit nicht digital sind. Diese Welt besteht nicht aus Nullen und Einsen. Deshalb ist es möglich, dass Muschg alias Murmann in der begrenzten Enge des Internats die Freiheit fand – und am eigenen Grab, also im Erleben der Begrenztheit des eigenen Lebens, diese Freiheit wieder fand.

Und was hat es mit diesem Outis auf sich, in den sich Adolf Muschg alias August Mormann durch das Erlebnis der Aufführung verwandelt? «Outis» ist Altgriechisch und bedeutet «niemand». In der Odyssee von Homer nennt sich Odysseus «Outis», als er gegen den Zyklopen Polyphem kämpft und das Monster seinen Namen verlangt. Odysseus antwortet: Er sei «Outis», also niemand. Odysseus sticht Polyphem das Auge aus. Polyphem schreit vor Schmerz. Als die anderen Zyklopen auf der Insel rufen, was los sei, antwortet Polyphem, dass «niemand» versuche, ihn zu töten. Also kommt ihm keiner der andern Zyklopen zu Hilfe. Für den jungen Fan der griechischen Mythologie in der Erzählung von Adolf Muschg wird «Outis» zur Chiffre für eine listige Flucht mit Hilfe der Kunst aus der Enge des Internats, der Ordnung, ja der starren Welt. Indem er sich selbst als niemanden bezeichnet, lehnt er die Rollen ab, die ihm von Aussen aufgedrängt werden, und öffnet den Spalt zur Freiheit. Wie Muschg schreibt: Wohl dem, der auch lügen darf, um der eigenen Wahrheit näher zu kommen!
Adolf Muschg: Nicht mein Leben. Erzählung. C.H. Beck, 176 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-406-82967-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406829673
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Basel, 13.02.2025, Matthias Zehnder
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