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Sich lichtende Nebel

Publiziert am 7. Dezember 2023 von Matthias Zehnder

In seinen Memoiren zitiert Carl Zuckmayer ein geflügeltes Wort, das in den Zwanziger Jahren in Berlin die Runde machte: «Je preiser ein Stück gekrönt wird, desto durcher fällt es.» Literaturpreise sind mit anderen Worten kein Garant dafür, dass ein Buch auch beim Publikum ankommt, manchmal gilt sogar das Gegenteil. Ich pflege deshalb auch und gerade preisgekrönte Bücher mit Skepsis zur Hand zu nehmen: Dass ein Buch ausgezeichnet worden ist, heisst noch nicht, dass es ausgezeichnet ist. Das gilt auch für den Schweizer Buchpreis. Dieses Jahr ist Christian Haller der Preisträger: Er hat den Schweizer Buchpreis für seine Novelle «Sich lichtende Nebel» erhalten. Christian Haller selbst ist zweifellos preiswürdig – aber ist es auch sein Buch? Ich habe es gelesen und sage Ihnen in meinem 183. Buchtipp, ob sich das Diktum aus den Zwanziger Jahren bestätigt oder ob sich die preisgekrönte Lektüre lohnt.

Kopenhagen, Frühjahr 1925. Ein junger Physiker aus Deutschland beobachtet fasziniert, wie eine undeutliche, etwas schattenhafte Gestalt den Lichtkreis einer Strassenlaterne betritt, nach wenigen Schritten im Dunkeln verschwindet, um im nächsten Lichtkreis erneut aufzutauchen. Einen Moment lang scheint es dabei ungewiss, ob die Gestalt tatsächlich wieder erscheint, da sie, eingetaucht in die Dunkelheit, nicht zu sehen ist. Wenn der junge Physiker nur genau in diesem Moment hin blicken würde, wäre die Gestalt für ihn inexistent. Ohne seinen Beobachter gibt es den Unbekannten nicht.

Mit dieser Szene beginnt das schmale Buch von Christian Haller. Bei dem Beobachter, einem jungen, namenlosen Physiker, handelt es sich in Wirklichkeit um Werner Heisenberg. Er hat 1925 tatsächlich Niels Bohr in Kopenhagen besucht. Niels Bohr hat 1913 das Bohrsche Atommodell aufgestellt und 1922 dafür den Nobelpreis für Physik erhalten. Seine Verdienste um die Erforschung der Struktur der Atome sind unbestritten. Bloss: Sein Atom-Modell geht nicht auf. Das merkt nicht nur er selbst, sondern auch dieser junge Physiker aus Deutschland. Weil den aber ein plötzlichen Heuschnupfenanfall heimsucht, reist er überstürzt ab nach Helgoland.

«Müde und dämmrig sass der Beobachter im Zug nach Cuxhaven. Die Räder schlugen auf den Schienen, und ihr rhythmischer Klang liess ihn an die Bahnen der Elektronen im Atommodell denken, an die Überlegungen, die sein Mentor und er am Institut wieder und wieder angestellt hatten. In der Grundannahme bestand das Modell aus einem positiven Kern im Innern des Atoms, um den die negativen Elektronen wie Planeten um die Sonne kreisten. Es erklärte, weshalb die Materie fest war und die Atome, wenn sie aus Molekülen herausgelöst wurden, unverändert blieben. Doch wie die Verbindungen zwischen Atomen zustande kamen, konnte es nicht beantworten. Berechneten sie die festen Bahnen der Elektronen, erhielten sie Resultate, die mit den experimentellen Befunden nicht übereinstimmten.» (S. 32)

Auf der Basis dieser Beobachtung entwickelte der reale Heisenberg seine Unschärferelation. Sie besagt, dass es unmöglich ist, gleichzeitig die genaue Position und den genauen Impuls, also die Geschwindigkeit und die Richtung eines Teilchens zu bestimmen. Diese Beobachtung wird zur Grundlage der Quantenmechanik. Sie unterscheidet sich darin von der klassischen Physik: Die nimmt nämlich an, dass Position und Impuls gleichzeitig genau gemessen werden können. Heisenbergs Unschärferelaion bedeutet, dass die Messung eines Quantenteilchens dessen Zustand beeinflusst. Der Beobachter beeinflusst durch seine Beobachtung also das, was er beobachtet.

Das hat gravierende Folgen. Die klassische Physik geht davon aus, dass das sich die Zukunft physikalischer Verhältnisse (Physiker sprechen an dieser Stelle gleich vom ganzen Universum) grundsätzlich vorhersagen lassen. Wenn man den Ausgangspunkt kennt und die Gesetze von Isaac Newton anwendet, dann lässt sich daraus die Zukunft ableiten. Physiker sagen dazu: Das Universum ist grundsätzlich deterministisch. Die Unschärferelation stellt diesen Determinismus radikal in Frage und zeigt dem menschlichen Wissen seine Grenzen auf. Denn wenn der Beobachter das Beobachtete beeinflusst, dann gibt es Dinge, die sich der Beobachtung entziehen.

So klingt das im Buch von Christian Haller:

«Den jungen Wissenschaftler erfasste ein Schwindel. Gebeugt über die Berechnungen war ihm als erwache er aus seinem Flugtraum. Die Zahlen und Formeln bewiesen, dass es in der Natur eine Unschärfe in den subatomaren Vorgängen gab, und diese Unschärfe mitbedingt durch das Messen und unser Wissen war. Bedeutete dies, dass alle bisherigen Gewissheiten, die an etwas Absolutes gebunden waren und unabhängig von unserem Beobachten existierten, fragwürdig wurden oder ihre Gültigkeit verloren? Sollten Begriffe wie Wahrheit, Objektivität oder Tatsache ihren bisher unbestrittenen Wert verlieren? Und was bedeutete die neue Theorie für die Physik selbst? War nun falsch, was all die Forscher seit der Renaissance an Gesetzen entdeckt hatten? Brach nun das Fundament seines Fachgebiets ein, auf dem auch er fest gestanden hatte, galt Newtons Mechanik nicht mehr, weil es eine andere, dem Bisherigen widersprechende Mechanik der Quanten gab?» (S. 109)

Der Beobachter beeinflusst durch sein Beobachten das Beobachtete. Das gilt nicht nur in der Physik, sondern ganz besonders beim Schreiben. In einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» sagte Christian Haller Anfang Jahr: «Bei jedem Stoff gibt es ein Zentrum, das sich der Sagbarkeit entzieht. Beim Schreiben versuche ich, möglichst nahe an dieses Zentrum heranzuarbeiten, den unsagbaren Kern einzukreisen, Positionen zu entwickeln, die so viel Strahlkraft haben, dass sie assoziativ auf den Kern verweisen.»

Genau das schafft Christian Haller mit seinem Buch. Interessant ist dabei, dass er selbst seine Erzählung als «Novelle» bezeichnet und damit an eine alte literarische Gattung angeknüpft, die wird eher mit Gottfried Keller und Theodor Storm verbinden als Quantenphysik und der Atombombe. Eine Novelle ist eine Erzählung in der Länge zwischen einer Kurzgeschichte und einem Roman, die ein aussergewöhnliches Ereignis thematisiert. Die Handlung wird zu einem Konflikt zugespitzt, bis sie an einen Wendepunkt gelangt. Der Konflikt in der Novelle von Haller liegt weniger in den physikalischen Problemen, als in Ringen des jungen Beobachters mit seinen Beobachtungen.

In diesem Ringen ähneln sich die Arbeit am Atommodell und das Schreiben. Das zeigt Haller anhand der zweiten Figur im Buch: Es ist jener Mann, der zu Beginn kurz im Licht der Strassenlaterne auftaucht. Es ist der verwitwete Geschichtsprofessor Helstedt, der sich durch den Nebel tastet. Auch er kämpft mit der Unschärfe der Wahrnehmung. Anders als Heisenberg, der es schafft, die Unschärfe mathematisch einzukreisen, fühlt sich Helstedt beim Schreiben aber von der Unschärfe seiner Wahrnehmung zunehmend übermannt:

«Er war mit seinem Schreibversuch unzufrieden, auch wenn er eine Merkwürdigkeit entdeckt hatte, die ihm beim Verfassen seiner fachlichen Artikel nie aufgefallen war. Durch seine Schriftzüge wurde die Heftseite mit einem Wort- und Satzornament bedeckt, das beim Lesen und Betrachten zu Bildern und Lauten wurde. Gleichzeitig sah er durch die Schriftzüge hinab in eine Leere, die weiss blieb und nicht zu benennen war. Er hatte mit seinem Schreibversuch klar verfehlt, was er sich erhofft hatte, nämlich sein Erlebnis in der Sprache so zu formen, dass es auch für Linn erlebbar wäre. Dafür hatte er etwas entdeckt, von dem er bisher nichts gewusst hatte: dass seine Schriftzüge Bedeutungsornamente auf den Seiten waren, durch die er hinab in das nie ganz zu Erfassende schauen konnte, das ein wenig so wie sein Erlebnis war.» (S. 45)

Haller stellt in seiner Novelle also genau das dar, was er im Interview über das Schreiben sagte: das Einkreisen eines unsagbaren Kerns. Dieser Kern bleibt ein Geheimnis, trotzdem lichten sich darum herum die Nebel, weil beide Beobachter, der junge Physiker und der alte Geschichtsprofessor, ihre Beobachtungen genau beobachten.

Ich finde mit anderen Worten, dass sich die preisgekrönte Lektüre lohnt. Sie lohnt sich besonders dann, wenn sie sich vor der Lektüre mit dem Kern des physikalischen Problems beschäftigen, also mit der Unschärferelation von Heisenberg. Dann können Sie bei der Lektüre beobachten, wie Haller diesen physikalischen Kern sorgfältig eingekreist. Und das ist ein Lesevergnügen.

Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Novelle. Luchterhand, 128 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-630-87733-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783630877334

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 7. Dezember 2023, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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