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Tesla oder die Vollendung der Kreise
Wenn Sie «Tesla» hören, dann denken Sie wahrscheinlich an die amerikanische Firma, die ebenso bekannt ist für ihre E-Autos wie für ihren exzentrischen CEO Elon Musk. Ihren Namen hat sich die Autofirma von Nikola Tesla geborgt, einem Elektroingenieur und Erfinder aus dem heutigen Kroatien, der zur Zeit von Thomas Alva Edison in den USA unter anderem den Wechselstrom entwickelte. Dieser Nikola Tesla steht im Zentrum des Romans «Tesla oder die Vollendung der Kreise». Das heisst aber nicht, dass das Buch wirklich von ihm handelt. Die Erzählung kreist vielmehr um Tesla als einem kaum erreichbaren Zentrum. Hauptfigur des Romans ist der Kroate Anton Matijaca, der wie Tesla in die USA auswandert und da Medizin studiert. Alida Bremer zeigt, wie stark dessen Leben geprägt ist durch seine Herkunft aus dem zerfallenden Österreich-Ungarn, die Emigration und das Zerriebenwerden zwischen den Ländern im Krieg. In meinem 184. Buchtipp sage ich Ihnen, warum es sich lohnt, dieses Buch zu lesen, auch (und gerade) wenn Sie mit der Automarke und ihrem Besitzer absolut gar nichts am Hut haben. Vielleicht schafft es dieser Roman sogar auf meine Liste der besten Bücher des Jahres.
Anton Matijaca ist 17 Jahre alt, als er mehr oder weniger fluchtartig seine Heimat verlassen muss: Er hat als Gymnasiast Österreich und den Kaiser beleidigt und wird, bevor er inhaftiert werden kann, von seinem Vater mit 10 Dollar in der Tasche nach Triest zum Schiff nach Amerika gebracht. Das Dampfschiff Giulia soll ihn nach New York bringen. Beim Abschied winkt ihm sein Vater mit der roten dalmatinischen Kappe in der Hand zu und Anton ärgert sich, dass ihm italienische und nicht kroatische Worte in den Sinn kommen. Unter all den Italienern auf dem Schiff hält er lieber den Mund.
Die kurze Szene beinhaltet den Kern des ganzen Buchs: Anton stammt aus Kastel Luksic, einem kleinen Ort in Dalmatien, 18 Kilometer nordwestlich von Split an der Adria, etwa auf der Höhe von Ancona. Dalmatien hat eine wechselvolle Geschichte. Hier haben die Griechen und die Römer, die Kroaten, die Venezianer und die Ungarn, die Osmanen und die Franzosen geherrscht. 1905, als Anton das Schiff nach Amerika besteigen muss, gehört Dalmatien zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Anton wird aus dem Gymnasium in Zadar ausgeschlossen, weil er zusammen mit einigen anderen Jugendlichen die österreichische Flagge verbrannt hat. Aus Protest, weil die Österreicher zu den Italienern halten, die Dalmatien beherrschten, obwohl dort die Kroaten die Mehrheit stellen. Sie sehen: Es ist kompliziert. Ganz sicher aber will Anton mit den Italienern auf dem Schiff nichts zu tun haben.
Doch als er sich mit einem Jungen in seinem Alter anfreundet, ist der ausgerechnet Italiener: Ernesto ist ebenso gebildet wie redegewandt und er reist, wie Anton, allein. Auch er hat nur die vorgeschriebenen zehn Dollar in der Tasche und auch er weiss nicht, was ihn in New York erwartet. Anders als Anton heisst ihn in New York aber eine grosse Community willkommen: die ausgewanderten Italiener sorgen für ihre neu ankommenden Landsmänner. Anton dagegen erwartet niemanden. Die Kroaten sind nicht organisiert, zu den Österreichern kann er nicht und zu den Italienern will er nicht. Anton fällt zwischen die Landesgrenzen. Bald er Anton aber Anschluss bei «den Slawen». 1905 ist die pan-slawische Idee populär: Alle Slawen sollten sich unter einer Herrschaft vereinen. Doch das will nicht recht gelingen.
«Solange sie zusammen nostalgische Lieder sangen, Schnaps tranken und deftige Fleischspeisen verzehrten, waren die Slawen Brüder und Verbündete, aber ein falsches Wort über Geschichte, Sprache, Religion oder Kultur, und schon teilten sie sich in uns, euch und die, wobei die Mitglieder der zahlenmäßig grösseren slawischen Völker jenen aus den kleineren erklärten, dass sie gar keine eigenständigen Völker seien. Die Ähnlichkeit ihrer Sprachen untereinander beweise doch, so ungefähr lautete die Argumentation, dass die kleineren über keine eigene Sprache und ergo über keine eigenständige Daseinsberechtigung verfügten, und diese Spirale drehte sich hoch bis zu den Russen, die für alle anderen nur eine müde Verachtung übrighatten.
Anton erwiderte, dass er trotzdem die Vereinigung der Slawen für eine bessere Lösung halte, als ewig von Österreichern, Ungarn und Italienern, dazu noch von Türken, Deutschen und womöglich Japanern beherrscht und bekämpft und darüber hinaus von all diesen und auch den Amerikanern als minderwertig betrachtet zu werden.» (S.93)
Schon bald erweist sich die Idee des Panslawismus also als Illusion: auch in der Emigration zerfallen des Slaven in einzelne Volksgruppen.
«Damals auf dem Schiff wollte er wie Ernesto werden: Viel wissen und seine Meinung vertreten, ganz egal, ob die anderen darüber lachten.
Vlaho Moretti lachte nicht, er wirkte nur nachdenklich:
‹Die Slawen, Anton, sie sind wie alle anderen. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Völkern, nur zwischen den einzelnen Menschen. Und gerade deswegen wäre es schwierig, sie friedlich zu vereinigen und zufriedenzustellen.›» (S. 95)
Das also ist das Grundproblem von Anton: Seine Heimat ist ein kleiner Ort in Kroatien, der in den nächsten Jahrzehnten zum Spielball der Weltpolitik wird. Er hat keine Hausmacht, kein Volk, auf das er sich berufen kann, ist nicht der Vertreter einer Weltkultur und hat in Amerika keine Verbündeten. Darin geht es ihm gleich wie Nikola Tesla, dem berühmten serbischen Erfinder und Ingenieur. Tesla hat das Wechselstromsystem erfunden, das heute weltweit verwendet wird, vom Generator über die Transformatoren bis zum Verteilungssystem. Er hat die Tesla-Spule entwickelt, ein Gerät, das hohe Spannungen erzeugen kann und zum Beispiel in der Funktechnik oder der Medizin angewendet wird. Tesla hat aber auch mit drahtloser Kommunikation experimentiert und zur Entwicklung der Radiotechnologie beigetragen. Er hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vision von weltweiter drahtloser Kommunikation. Tesla hielt über 300 Patente im Bereich Elektromagnetismus, Funktechnik, Fernsteuerung und frühe Formen der Neonbeleuchtung. Anders als Thomas Alva Edison wurde Tesla aber nicht reich. Er wurde mehrfach von seinen Geschäftspartnern betrogen, musste um Anerkennung kämpfen und wurde zum Sonderling.
Ernesto, der Schriftsteller werden will, erklärt Anton das Phänomen Nikola Tesla so:
«Manchmal verlor Anton den Faden, aber Ernesto bemühte sich, deutlicher zu werden: Tesla verbinde Magie und Wissenschaft, Messung und Vermutung, Beweisführung und Einschätzung, Nur so, im Zusammenspiel aller Möglichkeiten, lasse sich die Wirklichkeit verstehen. Tesla sei ein Mann der Visionen, der das Unsichtbare, Unaussprechbare, Undefinierbare verstehe, da sich darin Kräfte entfalten, die er entdecken möchte. Abschliessend sagte Ernesto, er wolle sein Stück Anton widmen, weil sein verstorbener Vater ihm von Galileo und Edison, Newton und Maxwell, Faraday und Huygens erzählt hatte, von Volta und Galvani, von Dante, Goethe und Shakespeare, aber nie von einem Slawen. Das sei keine bewusste Auslassung gewesen. Anscheinend habe man in Triest die Slawen nur als Dienstboten oder Hafenarbeiter wahrgenommen, höchstens als Fischer und Seemänner, nicht jedoch als Erfinder oder Dichter. Und wenn es welche gab, dann seien ihre Namen italianisiert oder germanisiert worden. Zum Beispiel Ruggero Giuseppe Boscovich, der in Wirklichkeit Ruder Josip Boskovic heisse, und auf den ihn Tesla aufmerksam gemacht habe. Der Mann sei eines der grössten Genies aller Zeiten, der wegen dieses Namens voller Zischlaute allzu wenig bekannt sei.» (S. 197)
Anton begegnet Tesla mehrfach. Einmal trinken Ernesto und Anton mit Tesla Tee im Hotel Waldorf Astoria, wo Tesla eine Suite bewohnt. Bis sein Gönner die Rechnung nicht mehr bezahlt und das Hotel den Erfinder rausschmeisst. Unter den slawischen Immigranten hat Tesla Kult-Status, die Amerikaner belächeln ihn. Seine Theorien gelten in New York als esoterisch und abgehoben, heute ist viel davon selbstverständlich. Alida Bremer führt den mangelnden Rückhalt von Tesla auch auf seine Herkunft zurück. Sie zeigt das aber nicht an Tesla selbst, sondern anhand der Erzählung des Lebens von Anton Matijaca. Das störte mich zunächst, als ich beim Lesen begriff, dass Nikola Tesla nur im Zentrum steht, aber nicht Gegenstand des Buchs ist. Die Erzählung kreist um dieses Zentrum wie der Draht einer Teslaspule. Dann hat mich die Lebensgeschichte von Anton Matijaca aber so gepackt, dass ich den Titel des Buchs ganz vergessen habe.
Anton Matijaca arbeitet zunächst in New York in einem Anatomiemuseum und kommt so in Kontakt mit Ärzten und der Medizin. Er schliesst die Schule ab und beginnt mit dem Medizinstudium. Es ist eine glückliche Zeit des Aufschwungs, nicht nur für Anton, für ganz Amerika. Der Wendepunkt kommt, als 1912 die Titanic sinkt und, kurz vor dem Ende von Antons Studium, der erste Balkankrieg ausbricht. Oder, wie Ernesto es ausdrückt: Der elende Karneval der Nationen in Europa zum Blutbad wird. Anton meldet sich beim amerikanischen Roten Kreuz für einen Einsatz in seiner Heimat und reist als Sanitäter nach Kroatien. Als der Krieg zu Ende geht, bringt sich Anton vor den Österreichern in Sicherheit und fährt nach England. Da führt er seine Ausbildung fort, wird aber nach Ausbruch des 1. Weltkriegs als feindlicher Österreicher verhaftet und mit Deutschen Kriegsgefangenen interniert. Wieder sitzt Anton aus dem kleinen Dalmatien zwischen allen Stühlen der Weltpolitik. Es wird nicht das letzte Mal sein.
Berührend und äusserst kenntnisreich erzählt Alida Bremer die Lebensgeschichte von Anton. Wie er in England heiratet, in den USA seinen Abschluss macht und in Chicago erfolgreich als Arzt arbeitet. Seine Heimat lässt ihn aber nicht los. Er vermisst die Seeigel aus der Bucht bei Kastel Luksic und das tiefe Blau des Meers. Er kehrt mit seiner Frau zurück nach Dalmatien und gerät wieder und wieder in Konflikt mit den Stühlen und Sesseln der Weltpolitik. Alida Bremer erzählt beides, das Leben des Arztes und die Wirren auf dem Balkan, spannend und informativ. Ich habe viel gelernt über Medizingeschichte und historische Behandlungsmethoden, über die Kriege auf dem Balkan, über Jugoslawien und Kroatien und, ja, auch über Nikola Tesla.
Warum aber heisst das Buch «Tesla oder Die Vollendung der Kreise», wo doch Tesla selbst nur im Hintergrund als Motiv auftaucht? Die Erklärung dafür gibt der angehende Schriftsteller Ernesto, als er in New York mit Anton in einer irischen Kneipe ein Bier trinkt:
Anton fragt: «‹Du arbeitest also an einem Stück über den Rachegott Mannahatta, von dem du mir einmal erzählt hast? Und darin tauchen Tesla und Anna Morgan auf?›
‹Ich arbeite parallel an mehreren Stücken. Das aktuell wichtigste Projekt ist dir gewidmet, Spanjuletto caro, und unserer Freundschaft. Es heisst Tesla oder Die Vollendung der Kreise.›
Anton gab dem Kellner ein Zeichen, ein weiteres Bier zu bringen, ging zu dem Tisch mit den Schnittchen und Salaten und füllte zwei weitere Teller. Erst als er sich wieder gesetzt hatte, sagte er:
‹Ein Stück über uns beide und Tesla? Über den Tag, an dem wir drei in eleganter Kleidung im Palmgarten des Waldorf-Astoria gesessen haben?›
‹Nein, nicht so geradlinig. Es wird eine stilistische Explosion werden. Ich werde Teslas rotierendes Magnetfeld in Worte verwandeln, die Industrialisierung der Welt auf die Bühne übertragen. Seine Teleautomaten werden zwischen den Zuschauerreihen herumwuseln. Es wird Funken und Blitze geben, das erste Theaterstück, in dem der Text wie Wechselstrom fliesst und Hochspannung verursacht. Das sind natürlich Metaphern, aber du verstehst, was ich meine. So wie Tesla Poesie in die Wissenschaft einbaut, werde ich Wissenschaft zu Poesie verarbeiten. Der Mann verdient es, dass man ihn von einer ganz anderen Seite betrachtet.›» (S. 195)
Genau das hat Alida Bremer gemacht: Sie hat Wissenschaft zu Poesie verarbeitet. Nicht Elektrotechnik wie Ernesto das vorhatte, sondern Geschichtswissenschaft und Medizin, Völkerkunde und Soziologie. Entstanden ist ein wunderbarer Roman über das Leben eines Arztes aus Dalmatien, ein Stück Antikriegs- und Antinationalismuslitratur, das es vielleicht sogar auf meine Liste der besten Bücher des Jahres schafft. So oder so ist Anton Matijaca mir zu einem Freund geworden, wie das starke Figuren aus guten Büchern an sich haben. Er wohnt in meiner Erinnerung irgendwo zwischen Giorgio aus den «Schwarzen Brüdern», Ravi aus «Arc de Triomphe» von Erich Maria Remarque und Marcel Reich-Ranicki aus dessen Lebensbeschreibung.
Alida Bremer: Tesla oder die Vollendung der Kreise. Jung und Jung, 368 Seiten, 35.50 Franken; ISBN 978-3-99027-286-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783990272862
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 14. Dezember 2023, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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