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Unter Freunden stirbt man nicht
Dem Wirtschaftswissenschaftler Avischai Sar-Schalom winken höchste Ehren: Er gilt als heisser Anwärter für den Nobelpreis. Blöd nur, dass er wenige Tage, bevor das Nobel-Komitee seinen Entscheid fällt, zu Hause an einem Herzinfarkt stirbt. Seine Freunde finden ihn tot auf seinem Bett. Aber wahre Freunde sind treu über den Tod hinaus: Sie beschliessen, Avischai offiziell am Leben zu halten, bis der Nobelpreis kommuniziert ist. Die israelische Autorin Noa Yedlin hat aus dieser verzwickten Ausgangslage eine witzige Slapstick-Komödie gebaut, die prompt auch schon verfilmt worden ist. Dabei ist allerdings ihr rabenschwarze Humor verloren gegangen, der den Text auszeichnet. Das Buch ist deshalb nicht einfach lustig, das auch, doch das Lachen bleibt einem beim Lesen öfter mal im Hals stecken. Noa Yedlin beschreibt sprachlich sehr präzise und gnadenlos, was das Älterwerden mit den Freunden anstellt. Bei Lichte besehen sind deren Motive, den Tod des klugen Freundes noch etwas zu verheimlichen, nämlich alles andere als altruistisch. In meinem 182. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, diesen schwarzen Roman zu lesen.
Der Nobelpreis darf nur lebenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verliehen werden. Der indische Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi zum Beispiel hätte 1948 eigentlich den Friedensnobelpreis erhalten sollen. Allerdings ist er kurz vor der Vergabe des Preises ermordet worden. Posthume Auszeichnungen aber gibt es nicht. Also ging Gandhi leer aus. Präziser gesagt: Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Gewinner müssen die Kandidaten am Leben sein. Wenn sie zwischen der Bekanntgabe im Oktober und der eigentlichen Verleihung im Dezember sterben, ist das kein Problem. Wenigstens keins aus Sicht des Nobelpreises.
Als seine vier Freunde Amos, Jehuda, Nili und Sohara den renommierten Professor für Volkswirtschaft kurz vor Bekanntgabe der Nobelpreisgewinner tot auf seinem Bett finden, sind sie sich deshalb schnell einig: Sie wollen Avischai noch eine Weile am Leben erhalten. Wenigstens offiziell. Über WhatsApp und SMS zum Beispiel. Er sei abgetaucht, um zu schreiben, sagen sie der Schwester und der Freundin, die plötzlich an der Tür klingelt. Er wolle nicht gestört werden, sagen sie den Medien, und der Universität, wo er eine Vorlesung halten sollte, husten sie etwas von krank und Grippe ins Telefon. Natürlich geht es denn vier Freunden nur um Avischai. Er hätte das gewollt. Schliesslich ist es sein Nobelpreis.
«Nili zuckte die Achseln, wir tun doch nichts Böses, alles geschieht in bester Absicht, Avischai wäre es egal gewesen, wenn seine sterblichen Überreste noch etwas länger aufbewahrt werden, der Nobel dagegen wäre ihm keineswegs egal gewesen, das wissen wir doch alle. Dieser Preis war der Traum seines Lebens, fuhr Nili fort, es würde ihn beglücken, wenn er wüsste, dass wir so etwas für ihn tun. Ich bin dafür, dass wir es wagen. Es hätte sogar etwas von einer Feier an sich, wir würden Avischais Leben ein grossartiges Finale bereiten, ein bisschen wie im Film ‹Alex› – eine Geschichte über Freundschaft, in dem alle Freunde sich einfinden, um Alex‘ Tod auf ganz besondere Art und Weise zu begehen.» (S. 69)
Das allerdings löst unter den Freunden den ersten Streit aus. Nicht die Frage, ob sie Avischai noch etwas am Leben erhalten sollten, sondern der Vergleich mit dem Film. Sohara findet, es sei eher wie in «Lang lebe Ned Devine». Darin gewinnt ein alter Mann in einem kleinen Ort in Irland im Lotto, stirbt aber, bevor er den Gewinn einkassieren konnte. Die anderen Dorfbewohner verheimlichen, dass er gestorben ist, damit der Gewinn nicht verloren geht.
«Jehuda wurde auf einmal überraschend zornig, seine Idee war total originell, geradezu brillant, warum wollte Sohara sie jetzt kleinreden und anderen zusprechen? Was soll das heissen, sie verheimlichen, dass Ned gestorben ist?, fragte er zurück, sie geben sich doch als Ned aus, um an seiner Stelle den Gewinn zu kassieren. Genau, sagte Sohara, und Nili fragte, könnte mir jemand erklären, worum es geht? Jehuda antwortete ihr, es geht um ein Täuschungsmanöver, an dem sich ein ganzes Dorf beteiligt, um reich zu werden. Der Unterschied zu uns ist, dass sie ihn nicht am Leben erhalten wollen, sie benutzen seinen Namen und seine Sozialversicherungsnummer, damit ihnen der Gewinn ausgezahlt wird.» (S.70)
Natürlich ist es etwas völlig anderes, wenn Amos, Nili, Jehuda und Sohara ihrem Freund Avischai posthum zum Nobelpreis verhelfen. Oder? Doch die weitere Lektüre zeigt, dass die irischen Dorfbewohner sich gar nicht so sehr von unseren Freunden unterscheiden. Wie den Lottogewinnern in Irland geht es den vier Freunden keineswegs um das posthume Wohlergehen des gestorbenen Freundes, es geht Ihnen allen schlicht um sich selbst. Das wird schnell klar, weil Noa Yedlin die Geschichte erzählt, indem sie den vier Freunden abwechslungsweise über die Schultern schaut und mit bitterbös präziser Sprache ihre Motive und Gefühle seziert. Alle sind sie schon über sechzig Jahre alt, alle hecheln immer noch ihren Lebensträumen nach und merken nicht, dass nicht die böse Welt das grosse Hindernis ist auf dem Weg zur Verwirklichung ihre Träume, sondern dass sie sich alle selbst im Weg stehen.
Jehuda zum Beispiel, der die Idee mit dem Vertuschen des Todes erst aufgebracht hat. Er ist reich und sechzig und möchte sich endlich seinen Lebenstraum erfüllen: ein Buch publizieren. Avischai hat ihm dafür ein Vorwort geschrieben. Jehuda hofft, dass das Vorwort zur Empfehlung eines Nobelpreisträgers wird. Wie handfest materiell seine Motivation ist, macht Autorin Yedlin früh deutlich:
«Er fand das Ladegerät im Badezimmer auf der Waschmaschine und schloss Avischais iPhone an. So konnte er eingehende Anrufe entgegennehmen, ohne dass die anderen ihm im Nacken sassen. Schade, dass man Avischai nicht aufladen kann, dachte er, fünf Prozent, sieben Prozent, genug für ein Gespräch, für ein letztes Abendessen.» (S. 82)
Nein, Avischai kann man nicht mehr aufladen, so nützlich das auch wäre. Auch die lebenskluge Kinderärztin Nili vermisst Avischai aus ganz persönlichen Motiven: er hat sie immer getröstet. Nili ist dick, sie selbst empfindet sich geradezu als grotesk. Mit Avischai fühlte sie sich verbunden, im Bewusstsein, dass sie beide etwas Besonderes waren.
Sie selbst lebte «in der Annahme, Bekannte und Freunde in ihrer Umgebung würden ihre Partnerlosigkeit auf ihr Übergewicht zurückführen. Natürlich sprach niemand darüber, sie waren ja nicht völlig verrückt, aber das regte Nili nur noch mehr auf, denn so bekam sie keine Gelegenheit, die irrige Meinung zurückzuweisen und richtigzustellen. Und je mehr sie selbst ihren Leibesumfang verdächtigte, desto grösser war ihr Ärger über die Leute, die ihr nicht glaubten, dass selbstbewusste Männer sie trotzdem begehrten und immer begehrt hatten.» (S. 163)
Amos ist ebenfalls Wirtschaftswissenschaftler wie Avischai. Erst nach dessen Tod kann er aus dem Schatten des grossen Kollegen heraustreten: Er springt an einer Vorlesung für ihn ein. Der Ökonom des Glücks stösst dabei auf den Kern vor, den das Buch ausmacht.
«Er sprach über sein Forschungsvorhaben, über den Unsicherheitsindex, und er nannte den Tod als typisches Beispiel für die Art, in der die Unsicherheit das Glücksbarometer beeinflusst. Obwohl nichts gewisser ist als der Tod, gelingt es uns, irgendwie zu leben. Aber lassen Sie uns von dem sprechen, was danach kommt. Was ist gewiss und was ist ungewiss?, sagte er, nicht für die Toten – allgemeines Kichern –, sondern für die Hinterbliebenen. Da stellen die Dinge sich auf den Kopf. Man würde erwarten, die absolute Gewissheit des Todes hätte etwas Tröstliches an sich, was aber nicht der Fall ist.» (S. 192)
Genau das ist der Punkt: der Tod von Avischai löst eine grosse Verunsicherung bei seinen Freunden aus. Alle sehen sie sich plötzlich mit ihren unerfüllten Träumen konfrontiert, die alle irgendwie um den toten Avischai kreisen. Alle merken Sie, dass sich die Verwirklichung von Träumen nicht in alle Ewigkeit aufschieben lässt. Schon gar nicht mit Sechzig. Noa Yedlin schildert das in wunderbar präziser Sprache, die zu lesen eine wahre Freude ist. Ein kleines Beispiel:
«Die Wahrheit lag ja bereits wie Gift in Geschenkverpackung zwischen dem Salzstreuer und dem Süssstoff auf dem Bistrotisch.» (S. 11)
So ist es auch mit dem Buch: Es ist Lebenswahrheit in Unterhaltungsverpackung. Das macht viel Freude beim Lesen – und gibt danach einiges zu Denken.
Noa Yedlin: Unter Freunden stirbt man nicht. Übersetzung von Helene Seidler. Kein & Aber, 464 Seiten, 35.50 Franken; ISBN 978-3-0369-5899-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036958996
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Basel, 30. November 2023, Matthias Zehnder
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