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Reise nach Laredo
Kaiser Karl der V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König Karl I. von Spanien, machte 1556 einen Schritt, der bis heute äusserst selten vorkommt: Er trat freiwillig zurück. Er teilte sein Reich und damit seine Macht auf und übergab die spanischen und burgundischen Besitzungen seinem ältesten Sohn Philipp, die österreichischen Erblande übergab er seinem jüngeren Bruder Ferdinand. Karl selbst zog sich 1558 in seinen Palast neben dem Kloster von Yuste zurück. Die Monasterio de Yuste liegt in der Region Extremadura, in der Provinz Cáceres. Es ist eine ruhige, ländliche Umgebung, eingebettet in die Berge der Sierra de Tormantos. Hier verbrachte Karl der V. seine letzten Lebensjahre. Im Buch von Arno Geiger treffen wir Karl im Jahr 1558. Karl sei, schreibt Arno Geiger, «nicht so alt wie die Welt, aber so alt wie das Jahrhundert». Von den sechzig Jahren, die ein Mensch damals vielleicht zu leben hatte, hat Karl also den grössten Teil hinter sich. «Kaum zu glauben, was für ein alter Sack er geworden ist», lässt Arno Geiger seinen abgedankten König denken. Karl hat nicht nur alle Macht verloren, sondern auch alle Kraft. Er ist krank und voller Selbstmitleid. Wenn Karl einschläft, schaut er unglaublich alt aus – und er schläft ziemlich oft ein. Immer ist er aus irgendeinem Grund müde oder fiebrig. Alle warten nur noch auf seinen Tod – er auch. Da begegnet Karl im Garten einem elfjährigen Jungen, seinem jüngsten, natürlich illegitimen Sohn Geronimo. Der Junge ist das Gegenteil von Karl: Lebendig und wach, eins mit seinem Körper, unfertig, spontan, an der Schwelle zwischen Kind und Erwachsenem. Die beiden beschliessen, zusammen durchzubrennen. Um Mitternacht brechen sie auf, in strömendem Regen, und treten gemeinsam eine magische Reise an. In meinem 228-. Buchtipp sage ich Ihnen, was es mit dieser Reise auf sich hat und warum es sich lohnt, dieses Buch langsam zu lesen.
Man könnte das Buch als Variante von «The Prince and the Pauper» lesen. Der Roman von Mark Twain über einen Prinzen, der den Platz tauscht mit einem Bettelknaben, der ihm extrem ähnlich sieht, spielt Mitte des 16, Jahrhunderts in England, also etwa zu derselben Zeit wie «Reise nach Laredo». Oder man könnte das Buch von Arno Geiger als melancholischen Fantasy-Roman mit magischen Elementen lesen. Immerhin kommen ein König und ein Greif darin vor, eine Heilerin und ein Narr. Der König ist nicht irgendein König, er war zu seiner Zeit der mit Abstand mächtigste Mann des Abendlands.
Karl V. war der letzte römisch-deutsche König und der letzte Habsburger, der von einem Papst zum Kaiser gekrönt wurde. Er verteidigte das Abendland gegen das Osmanischen Reich unter Süleyman I. und die römisch-katholische Kirche gegen die Spaltung durch Luther. Karl kämpfte gegen die Ausbreitung des Protestantismus, er konnte die Reformation aber nicht eindämmen. Karls Reich war riesig. Weite Teile Europas und Amerikas gehörten dazu. Karl versuchte, das Reich zu einen, das gelang ihm aber nicht. Ein Grund dafür war seine Abwesenheit: Karl führte ständig Krieg gegen Frankreich und die Osmanen. Die Kriege nützten ihn ab, politisch, finanziell und wohl auch persönlich. Er war zunehmend krank und litt unter schwerer Gicht.
Wie mächtig Karl vor seiner Abdankung war, wird angesichts seiner Nachfolger klar: Sein Sohn Philipp ging als Philipp II. in die Geschichte ein. Er war König von Neapel, Sizilien, den spanischen Niederlanden, von Kastilien und León, Aragonien, Valencia, Navarra, Katalonien, Sardinien, Mailand und des spanischen Kolonialreichs, ab 1580 zudem König von Portugal mit seinen Kolonien. Nach diesem Philipp sind die Philippinen benannt. Karls Bruder Ferdinand war Erzherzog von Österreich, König von Böhmen, Kroatien und Ungarn und wurde nach dem Rücktritt seines Bruders Ferdinand I. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.
Karl war also zu seiner Zeit zweifellos der mächtigste Mann der westlichen Welt. Doch 1558 ist dieser Karl nur noch ein kranker, alter Mann. Das wird gleich in der ersten Szene des Romans von Arno Geiger deutlich: Vor Augen aller Knechte und Mägde wird Karl nackt mit Hilfe einer mechanischen Schaukel im Hof des Palasts ins Bad gehievt. Die Szene macht deutlich: Karl kann nicht gehen, er ist schwach; er ist krank und müde – und er ist, auch wenn ihm der ganze Hofstaat beim Bad zuschaut, allein im Wasser.
Er ist seit anderthalb Jahren in Yuste und wartet auf eine Veränderung. Seit anderthalb Jahren ist er in dem verdammten Yuste und wird hierbleiben, bis er tot ist. Also hoffentlich nicht mehr lange. Der Ort verursacht ihm Unbehagen, aber er wüsste nicht, wo er lieber wäre. Manchmal geht er in Gedanken andere Orte durch, ohne viel dabei zu empfinden. Er sieht die Orte, aber er sieht nicht sich selbst an diesen Orten. Sich am falschen Ort zu fühlen, ohne dass man weiß, wo man lieber wäre, Mathys hat recht, das ist Verzweiflung.
Gott beschütze uns vor dem, was wir uns wünschen. Karl wollte sich von allen Ämtern zurückziehen und endlich die Person sein, die er nie sein durfte. Aber die Person ist nicht mitgekommen. Wo sie geblieben ist, auf den Schlachtfeldern, in den Geschichtsbüchern, am andern Ufer der Geschichte? Er weiß es nicht. Juan Regla, sein Beichtvater, sagt, Karl sei König gewesen, bevor er eine Persönlichkeit habe sein können. Jetzt ist Karl kein König und keine Persönlichkeit mehr. Und obwohl Fray Regla ihm widerspricht – die Vorstellung, ohne die Kronen nichts mehr zu sein, hat etwas Lähmendes, ein Äquivalent zur Gicht, die ihm das Gehen beinahe unmöglich macht. Der Rücktritt hat nicht die erhoffte Befreiung gebracht. (Seite 27)
Karl will sich mit seinem Rücktritt befreien. Aber auf die erste Erregung nach dem Rücktritt folgt die Beklemmung des Stillstands, die düstere Empfindung der Entfremdung. Arno Geiger beschreibt es als Gefühl, dass nach Beendigung der Laufbahn nicht die Persönlichkeit hervorgetreten ist, sondern die Leere.
Es sind solche Sätze, die dieses Buch ausmachen und es von einem Fantasy-Roman unterscheiden. Die Sätze bringen einen dazu, das Buch langsam zu lesen, so, wie man ein Stück Königskuchen isst, immer auf der Hut, nicht auf den König zu beissen. Ich konnte beim Lesen den Bleistift gar nicht mehr aus der Hand legen, so viele Sätze habe ich mir angestrichen. Manchmal sind es sprachliche Preziosen, etwa:
[Er] sieht trübe auf die Seerosen im Teich, die so zart sind, dass Karl Sorge hat, die Blütenblätter könnten Druckstellen bekommen vom Hinsehen. (Seite 26)
Die Blütenblätter sind so zart, dass sie Druckstellen bekommen vom Hinsehen. Wunderbar. Oder Sätze wie diesen hier:
Es heisst, der Mensch ist das, was ihm bleibt, nachdem er alles verloren hat. So verhält sich die Sache, es ist ein wenig peinlich. (S. 28)
Warum ist das peinlich? Weil Karl als Kaiser sich ein Leben lang über Macht, Besitz und Position definiert hat. So, wie wir das heute auch tun, auch wenn die wenigsten von uns Kaiser sind, sondern nur Könige von Abteilungen, einer Küche, eines Führerstands oder auch nur eines Schreibtisches. Das Gefühl, dass nach Beendigung der Laufbahn nicht die Persönlichkeit hervorgetreten ist, sondern die Leere, das lässt sich auch als Beschreibung nach der Pensionierung lesen, als Beschreibung eines Menschen in Rente. Der Roman von Arno Geiger ist deshalb kein harmlose, historische Fantasy, sondern zeitkritisches Nachdenken darüber, was den Menschen wirklich ausmacht.
Leibarzt Henri Mathys gehört in Karls Haushaltung zur grossen Gruppe jener, die Tagebuch führen und Berichte verfassen. Alles, was Karl tut und sagt, wird festgehalten. Ein Recht auf Vergessen existiert nicht. Sogar wenn er schläft, steht der ehemalige König unter Beobachtung. Freiheit wäre für Karl, wenn er etwas sagen könnte, das nicht sofort die Runde macht und kommentiert wird. Das sieht auf den ersten Blick nach einem Problem aus, das nur Könige im 16. Jahrhundert hatten. Ersetzen Sie in Gedanken «Tagebuch» durch «soziale Medien». Dann lautet der Gedanke: Freiheit wäre, wenn man etwas sagen könnte, das nicht sofort in den sozialen Medien die Runde macht und kommentiert wird.
Aber zurück zu Leibarzt Mathys. Als der den nackten Ex-König beim Baden beobachtet, geht ihm auf, dass
dieser Mann, zu dem einst die ganze Welt mit Liebe oder Wut aufgeblickt hat, am Ende seiner Erdentage dasteht mit nichts. Zwischen lauter Einsamkeiten. Und niemand, der ihn aus seiner Verlassenheit befreien kann. (Seite 25)
Er steht am Ende seiner Erdentage zwischen lauter Einsamkeiten. Denken Sie an diesen Satz, wenn Sie das nächste mal ein Alters- und Pflegeheim besuchen. Wenn man einmal damit beginnt, die Sätze in Arno Geigers Buch aus dem Schatten von Kaiser Karl V. zu lösen und auf die heutige Zeit zu beziehen, wird das Buch zur spannenden Lektüre. Als Karl nach dem Bad im Garten liegt, klettert der elfjährige Geronimo über die Mauer. Der Junge ist sein jüngster illegitimer Sohn, allerdings weiss Geronimo das nicht.
Eigentlich falsch, denkt Karl, dass der Junge sich hier herumtreibt, und man lebt aneinander vorbei. Der Junge gehört unter Leute. Ich müsste mich um ihn bemühen. Niemand in der Familie weiß etwas vom anderen. Was weiß der König von seinem Vater? Was weiß der Vater von seinem Sohn? Traurig. Aber das wird sich jetzt nicht mehr ändern.
«Mir ist auch oft langweilig«, sagt Karl.
«Man kann es sich vorstellen, dass einem das ewige Liegen bald langweilig wird.»
Die kleine Bemerkung muntert Karls Geister auf. Er lacht. Er hat schon lange nicht mehr gelacht, es fühlt sich an wie ein Abenteuer.
«Vielleicht sollten wir gemeinsam durchbrennen», sagt er.
Auch der Junge lächelt, in seine sonst verschlossenen Züge kommt Bewegung. Er fragt:
«Wohin?»
Er fragt mit echter Neugier.
«Müsste man sich überlegen.» Karl hebt willkürlich den rechten Arm und lässt ihn schweifen: «Um Mitternacht, zwei Pferde bei der unteren Gartenpforte.»
Der Junge mustert Karl interessiert, zaudernd zwischen Kindheit und Jugend. Seine Brauen gehen nach oben. Karl setzt mit abfallender Stimme hinzu:
«Das Davonlaufen verlangt die Mitarbeit des Körpers, und mein Körper ist, befürchte ich, nicht geneigt, diese Mitarbeit zu leisten. Du siehst, in welchen Schwierigkeiten ich stecke.» (S. 32f.)
Doch gemeinsam überwinden der Junge und der abgedankte König in der Nacht alle Hindernisse. Allerdings schafft es Karl nicht, das Pferd zu besteigen. So bietet ihm der Junge sein Maultier an und Karl schluckt allen Stolz hinunter und reitet auf dem Maultier hinter dem Jungen, der sich auf das Pferd geschwungen hat, aus Yuste heraus. Es beginnt, oberflächlich gelesen, ein Abenteuer in bester Fantasy-Tradition, mit Prüfungen, Begegnungen, Kämpfen und Versuchungen. Die beiden Ausreisser begegnen zwei Cagots, Honza und Angelita, Bruder und Schwester, die sie vor einem Lynchmob retten. Fortan reisen sie gemeinsam. Als Honza Karl fragt, wohin die Reise gehe, sagt der:
«Nach Laredo. Auf Seitenpfaden.»
«Nach Laredo? Zu welchem Zweck?»
«Zu keinem Zweck. Es ist nur ein Vorhaben.»
«Seltsame Antwort.»
«Braucht jedes Vorhaben eine Absicht?» (Seite 90)
Auf der Plot-Ebene ist der Roman spannend, deshalb sei hier nicht zu viel verraten. Die äussere Reise ist aber auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, was mit Karl auf der Reise passiert. Wie er Freundschaft schliesst mit Geronimo, Honza und Angelita. Gemeinsam treffen sie in den Bergen in der Stadt der Toten ein, La ciudad muerta. Hier trifft Karl auf seinen Gegenspieler in der Geschichte, den beleibten Wirt des Gasthofs, in dem die Reisegruppe unterkommt. Der Wirt trägt eine himbeerfarbene Mütze. Beim Kartenspiel spricht Karl den Wirt auf seine Mütze an:
«Warum die lächerliche Mütze?», fragte Karl. Er war mit Geben an der Reihe, mischte die Karten und teilte aus.
Mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der eine hohe Meinung von sich hat, nahm der Wirt seine Karten. Obwohl Karl aufgefallen war, dass der Mann sich gerne selbst reden hörte, hatte der Wirt es mit der Antwort nicht eilig.
«Ein harter Kontrast zu unserem Mann in Schwarz, was?», sagte er schließlich, ordnete die Karten und machte ein Gesicht wie ein zufriedener Kater. «Haben Sie schon einmal über echte Freiheit nachgedacht? Das ist der Grund. Weil ich auf die Meinung von Leuten wie Ihnen pfeife.» Wieder hörte Karl das tief aus dem Bauch kommende Lachen, und dann die amüsierte Stimme: «Ordnung ist etwas Kaltes, Señor Scheißegal. Deshalb die Mütze. Weil ich der Meister dieser Unordnung bin.» Er machte eine weitausholende Geste, die den ganzen Raum meinte. «Es zählt nicht das, was klar ist. Was klar ist, hört auf zu zählen. Nur das Unklare zählt. Nur weil die Welt nicht klar ist, gibt es Schönheit, Glück, Träume und alles, wofür sich zu leben lohnt.» (Seite 147)
Frei ist, wer auf die Meinung von anderen pfeift. Das können Sie gerne auf die Gegenwart beziehen. Und: Es zählt nicht das, was klar ist. Was klar ist, hört auf zu zählen. Nur das Unklare zählt. Auch das ist im digitalen Zeitalter, wo 0 und 1 und Programme wie Excel die Welt regieren, ein geradezu aufrührerischer Satz.
Natürlich verrate ich Ihnen nicht, wie die Geschichte ausgeht. Ob Karl und Geronimo, Angelita und Honza in Laredo ankommen. Es hat auch keinen Sinn, darauf hinzuweisen, dass der reale Karl V. am 21. September 1558 in Yuste gestorben ist. Lassen wir noch einmal Karl in der Geschichte von Arno Geiger zu Wort kommen:
Erst wenn man die Wahrheit schreibt, ist eine Geschichte aus. Also nie. Diesen Gedanken hatte Karl. Und es war ihm, als fiele ein letzter Regentropfen in ihn hinein und breite sich langsam in seinem Körper aus. (Seite 72)
Das ist der Punkt: Erst wenn man die Wahrheit schreibt, ist eine Geschichte aus. Bei Arno Geiger geht es immer auch um die Sprache, um die Worte. Um Sätze, die sich lesen, als falle ein Regentropfen in einen hinein und breite sich langsam im Körper aus.
Arno Geiger: Reise nach Laredo. Hanser, 272 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-446-28118-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446281189
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 29.10.2024, Matthias Zehnder
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