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Der Chor
Ein Chor ist ganz ähnlich wie ein Hotel oder ein Kaufhaus ein kleiner Mikrokosmos. Ganz unterschiedliche Menschen finden sich auf Zeit zusammen, weil sie gemeinsam singen möchten. Es bildet sich so etwas zwischen Familie und Schicksalsgemeinschaft. Im Zentrum des neun Romans von Anna Katharina Hahn steht so ein Chor: ein Frauenchor. Die Cantarinen nennen sie sich. Es ist ein Projekt der Musikhochschule, geleitet von wechselnden Studierenden. Das Niveau hält sich in Grenzen, der Chor tritt nur zweimal im Jahr auf, auf dem Sommerfest und beim Adventsbazar. Aber das Singen macht den Frauen grossen Spass. Eine bestimmte Stilrichtung haben sie nicht, sie singen einfach ihre Lieblingslieder – von Bach bis Schlager ist alles drin. «Im Grunde sind wir eine Versuchsanordnung für künftige Chorleiter», sagt Alice, als sie Sophie begrüsst, eine junge Frau, die sich für den Chor interessiert. Sophie erinnert Alice an ein Kaninchen. Und tatsächlich löst das Kaninchen-Mädchen die Handlung im Buch aus: Sophie wird zum Trigger, der eine ganze Kaskade von Ereignissen in Gang setzt. Wie in «Alice im Wunderland» von Lewis Carroll folgt Alice dem «Kaninchen», allerdings landet sie dabei nicht in einem Wunderland, sondern – aber das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 227. Buchtipp.
Alice ist Managerin. Sie arbeitet als Personalleiterin in einem grossen Kaufhaus. Sie ist das, was man eine erfolgreiche Business-Frau nennt. Ihr Partner heisst Fred, er ist Steuerberater. Beide arbeiten sie viel und verdienen auch gut. Die meisten anderen Frauen im Chor sind verheiratet, haben Kinder oder schon Enkel und stammen aus der Gegend, also aus der Region Stuttgart. Alice ist die einzige «Karrierefrau» im Chor. Fast alle anderen Sängerinnen scheinen sie zu bedauern, wenn sie mitbekommen, dass Alice nach der Probe noch lange keinen Feierabend hat.
Nur Lena verstand das von Anfang an. Lena ist eine Generation älter als Alice und wie sie kinderlos und berufstätig. Bis zur Rente hat sie als Lektorin bei einem renommierten Stuttgarter Verlagshaus gearbeitet. Auf andere wirkt Lena manchmal arrogant, weil sie sich elegant kleidet und ihre Noten immer in einer schönen Ledermappe verstaut. Als sie sich besser kannten, sagte Alice zu Lena:
«Ich dachte, du seist eine hochnäsige Kuh.» Die alte Dame fühlte sich ähnlich abgeschreckt von Alices Business-Outfit und der Art, wie sie «mit tanzenden Daumen» in manchen Pausen dringende Mails beantwortete oder vor der Kirche stehend telefonierte. (Seite 13)
Mittlerweile sind Alice und die elegante, deutlich ältere Lena eng befreundet. Ja: Lena ist im Chor eine Art Mutterfigur für Alice. Als sie zu den Cantarinen kam, hätte Alice nicht gedacht, dass ausgerechnet die älteste dieser Frauen eine ihrer besten Freundinnen werden würde. Ihre Arbeit, ihre Kinderlosigkeit, ihr Humor und die Tatsache, dass sie beide nicht aus der Region Stuttgart stammen, hat sie miteinander verbunden. Mehr noch: Alice findet die alte Frau mit ihrem seidig weissen Schopf und dem spöttischen Lächeln einfach toll. «Die würde ich sofort einstellen», hatte sie nach ihrem ersten Gespräch gedacht. Das ist ihr grösstes Kompliment. Und es zeigt auch, wie sehr sich Alice über ihre Arbeit und ihren Beruf definiert.
Und doch wurmt es sie, dass sie keine Kinder hat. Zwar ist der Zug längst abgefahren und Partner Fred ist das ganz recht so, trotzdem klafft manchmal doch eine Lücke. Da taucht eines Tages Sophie auf, eine junge Frau, die sich für den Chor interessiert. Sie hat ihn «auf Insta» entdeckt. Könnte Lena die Mutter von Alice sein, so könnte Sophie von der Generation ihre Tochter sein und Alice fühlt sich auch sofort seltsam hingezogen zu der jungen, schmalen Frau, die sie an ein Kaninchen erinnert. Sie nimmt Sophie unter ihre Fittiche und versucht, ihr den Eintritt in den Chor so einfach wie möglich zu machen. Geleitet werden die Cantarinen im Moment von Terje, einer jungen Estin, die Gesang an der Musikhochschule studiert. Sie singt mit den Frauen gerne Lieder aus ihrer Heimat.
Terje greift in die Tasten und spielt die kurze Erkennungsmelodie, mit der sie den Beginn der Probe ankündigt. Alice sieht Lena verhalten lächeln. Sie weiß, dass die Freundin solche indirekten Aufforderungen albern findet. «Früher hätte man tüchtig in die Hände geklatscht. Genauso kindisch wie dieses ständige Genuckel an Wasserflaschen.» Sophie steht etwas krumm da. Die Schultern eingezogen, streicht sie sich das Haar hinters Ohr. Wieder wundert sich Alice über sich selbst, dass sie Sophie so genau wahrnimmt. Es muss an dem Bewerbungsmarathon heute liegen, denkt sie, ich habe zu viele Leute zu scharf angeschaut, aus ihnen herauszulesen versucht, ob sie verkappte Narzissten, Lügnerinnen, Querulanten sind. Obwohl sie damit wahrscheinlich ihr Make-up verwischt, legt sie die Fingerspitzen auf ihre Lider, spürt die Augäpfel darunter und sagt sich ein altes Entspannungsmantra vor: Ich bin im Hier und Jetzt, alles ist gut. Als sie die Augen wieder öffnet, hat sich nichts verändert. Sophie interessiert sie auf eine Weise, die ihr selbst unheimlich ist. (Seite 14, 15)
Alles wäre wunderbar – wäre da nicht Marie. Sie ist für Alice so etwas wie die böse Schwester in einem Märchen der Gebrüder Grimm. Alice und Marie waren eng befreundet, bis es zu einem harten Zerwürfnis kam. Sie waren beste Freundinnen, dann kam es zu einem schrecklichen Ausbruch von Marie und von einem einem Tag auf den anderen wechselte Marie von Vertrautheit und Sympathie zu Nichtachtung. Marie blockiert Alice auf WhatsApp, drückt sie auf dem Handy weg und lässt ihre Anrufe zu Hause direkt auf dem Anrufbeantworter landen. Marie ist also das emotionale, chaotische Gegenstück zur vernünftigen, rationalen Alice.
Mittlerweile fühlt sich Alice abgehärtet gegen Maries Anblick. Trotzdem beschleunigt sich ihr Puls jedes Mal, wenn sie auftaucht. Selbst bei dieser albernen Türenknallerei, dieser Zauberbergnummer, von der Marie ernsthaft behauptet, sie mache das nicht absichtlich! Alice findet sich erbärmlich. Wie kann es sein, dass diese Frau sie immer noch so aus der Fassung bringt? Zum Glück weiß Marie nichts davon, aber Alice kommt sich anhänglich vor, ausgeliefert, wie ein Hund, der wedelt, obwohl er schon mehrfach getreten wurde. (Seite 17)
Das ist die Figurenkonstellation: Im Zentrum Alice, die rationale Karrierefrau ohne Kinder, die elegante, viel ältere Lena, die schüchterne, kindhafte Sophie und Marie, die emotionale, chaotische Gegenspielerin. Es gibt bei den Gebrüdern Grimm ein Märchen, in dem gleich zwei Figuren Marie heissen: Frau Holle hat eine fleissige Stieftochter Marie, die alle Arbeit im Haushalt verrichten muss, und sie hat eine faule leibliche Tochter Marie, die von ihrer Mutter verwöhnt wird. Das sind Goldmarie und Pechmarie. So simpel sind die Rollen bei Anna Katharina Hahn nicht verteilt, aber es lohnt sich, diese Doppelung der Person im Hinterkopf zu behalten und Marie als Komplementärfigur zu Alice zu lesen. Sie haben auch unterschiedliche Stimmlagen: Alice singt Alt, Marie, natürlich, Sopran.
Alice, Lena, Sophie und Marie singen also im Chor. Bei den Cantarinen finden sie sich nicht nur, beim Singen finden sie zusammen. Ein Chor besteht ja aus ganz unterschiedlichen Stimmen. In der Musik wird aus dem Stimmendurcheinander Vielstimmigkeit und Harmonie, auch wenn die verschiedenen Stimmgruppen unterschiedliche Melodielinien singen. Die Lieder, die der Chor singt, beschreibt Anna Katharina Hahn sehr genau. Die Bandbreite ist gross, sie reicht vom estnischen Volkslied über «Geh aus mein Herz und suche Freud» bis «Marmor, Stein und Eisen bricht». Der Suhrkamp-Verlag hat mit den Liedern eine Playlist auf Open Spotify eingerichtet. Sie können die Lieder also als Soundtrack beim Lesen nutzen. Nötig ist das nicht: Das Wesentliche ist über den Text erlebbar. Zum Beispiel, dass es im Chor auch zwischen Alice, Lena, Sophie und selbst mit Marie zu Harmonie kommt.
Der Zwist mit Marie ist ausserhalb des Chors entstanden. Ausserhalb des klaren Rahmens und der klar verteilten Rollen. In ihrem Kaufhaus meistert Alice die Welt auch ohne Chor. Da ist sie, vielleicht nicht gerade die Dirigentin, aber doch eine der Chefinnen. Sie prüft die Bewerbungen, stellt die neuen Mitarbeiter ein und weist ihnen ihre Rolle im Mikrokosmos Kaufhaus zu. Wie im Chor entsteht im Kaufhaus aus dem Durcheinander der verschiedensten Menschen ein klar geregeltes Miteinander. Sogar die Tochter von Marie hat eine kleine Rolle. Schwierig wird es für alles ausserhalb von Chor und Kaufhaus. Alice, die so gewohnt ist, Menschen präzise zu erfassen und ihnen Rollen zuzuweisen, verliert in der chaotischen Welt die Übersicht und den Halt.
Es beginnt damit, dass sie Sophie ihre warme Winterjacke ausleiht, damit sie nach der Chorprobe auf dem Nachhauseweg nicht friert. Später bringt sie Sophie mit ihrem Auto nach Hause und begleitet sie in ihre Wohnung. Alice verlässt damit den klar geregelten Rahmen des Chores und kommt ins trudeln. Sie fühlt sich auf unheimliche Art und Weise von Sophie angezogen. Sie macht ihr Geschenke. Sie lädt sie ein. Und wird immer tiefer hineingezogen in eine Welt, die sie nicht kontrollieren kann. Es ist nicht das Wunderland wie bei Lewis Carroll, es ist die ganz normal verrückte Welt, in der sich jede und jeder vor eine schwierige Aufgabe gestellt sieht: Wer bin ich? Und was ist meine Stimme in diesem Konzert?
Anna Katharina Hahn schildert die Suche, die das Kaninchen Sophie bei Alice auslöst, phantastisch schön – oder vielmehr schön phantastisch. Den Alice gerät auf ihrer Suche nach Sophie und sich selbst in einen Strudel und Trudel von eingebildeten und realen Ereignissen. Sie folgt dem Kaninchen und landet wie durch ein Wunder am Ende bei sich selbst. Weil der Roman «Der Chor» heisst, ist von Anfang an klar, dass es um diese Frage geht: Wie finden wir unsere Stimme, unsere Rolle im Stimmgefüge der anderen, auch dann, wenn keine Dirigentin am Klavier den Ton anschlägt?
Anna Katharina Hahn: Der Chor. Suhrkamp, 283 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-518-43160-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518431603
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 23.10.2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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