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Perspektiven

Publiziert am 26. März 2025 von Matthias Zehnder

Florenz, Anfang des Jahres 1557. In der grossen Kapelle von San Lorenzo wird der Maler Jacopo da Pontormo tot aufgefunden. Das ist nicht irgendwo und das ist nicht irgendwer. In der Kirche San Lorenzo hat Michelangelo einige seiner Meisterwerke geschaffen. Jacopo Pontormo war ein Schüler von Leonardo da Vinci und galt als einer der bedeutendsten Maler seiner Generation. Er war Künstler am Hof der Medici und arbeitete zehn Jahre lang an Fresken im Chor der Kirche. Jetzt ist er tot: ein schwerer Schlag auf den Kopf, ein Meissel in der Brust. Grossherzog Cosimo I., einer der Medici, verlangt nach Aufklärung. Er beauftragt den Architekten und Historiker Giorgio Vasari, die Wahrheit herauszufinden. Vasari bittet seinen alten Mentor Michelangelo um Rat – der befindet sich inzwischen in Rom. Aber war er das auch zum Zeitpunkt des Todes von Pontormo? Und warum hat der tote Maler in seiner Wohnung ein erotisches Bild der Tochter seines Herzogs? Der französische Schriftsteller Laurent Binet erzählt die spannende Geschichte über den Tod des florentinischen Malers in Form eines Briefwechsels zwischen gut zwanzig Figuren – darunter Katharina von Medici, der Königin von Frankreich, und dem nämlichen Michelangelo. Jede Figur verfolgt ihre eigenen Absichten und schildert ihre eigene Theorie, ihre Sichtweise – eben: ihre Perspektive auf den Fall. In meinem 248. Buchtipp sage ich Ihnen, was es mit diesen Perspektiven auf sich hat und warum es sich lohnt, dieses Buch nicht nur deshalb zu lesen, weil es an Altmeister Umberto Eco erinnert.

 

Das Wort «Perspektive» kommt aus dem Lateinischen: Perspicere bedeutet «hindurchblicken» oder «deutlich sehen» bedeutet. Ursprünglich bezeichnete perspicere die Fähigkeit, etwas klar zu sehen – und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Im künstlerischen Kontext taucht das Wort zum ersten Mal in der Renaissance auf, als sich die Maler mit neuen Techniken der Darstellung des Raums  beschäftigten. Die Perspektive wurde dabei zu einem zentralen, gestalterischen Mittel – und zu einem Ausdruck eines neuen Welt- und Menschenbildes. Bis dahin hatten die Maler mit der Grösse einer Person auf einem Bild seine Bedeutung abgebildet. Jesus, ein Kaiser oder eine Königin waren deshalb grösser gemalt als andere Menschen. In der Renaissance änderte sich das radikal: Jetzt begannen die Künstler die Welt so zu zeichnen, wie der Mensch sie sah. Der Mensch begann damit, die Welt aus seinem Blickwinkel zu ordnen. Das heisst: Der Mensch wurde zum Mass aller Dinge.

Der erste Künstler, der die Raumdarstellung revolutionierte, war Filippo Brunelleschi: Um 1420 veränderte er die Darstellung des Raums grundlegend. Mit seiner Technik war er in der Lage, eine realistische Tiefenwirkungen zu erzeugen. Künstler wie Paolo Uccello und Piero della Francesca setzten diese Entwicklung fort und wandten geometrische Prinzipien an, um den Bildraum exakt zu konstruieren. Geometrie als Massstab für die Welt – das war auch ein Ausdruck des humanistischen Weltbilds und des Interesses an der Wissenschaft. Zum Zentrum dieser Entwicklung wurde Florenz: In der Stadt der Medici wurde die Perspektive nicht nur angewendet, sondern auch theoretisch darüber nachgedacht.

Leonardo da Vinci hat die Perspektivtechniken verfeinert, indem er die Farbperspektive entwickelte. Er beobachtete, dass Objekte in der Ferne blasser, bläulicher und unschärfer erscheinen. Diese Beobachtung nutzte er systematisch, um seinen Bildern nicht nur mit Hilfe der Geometrie Tiefenwirkung zu geben, sondern auch optisch und atmosphärisch. Zu sehen ist das zum Beispiel bei der «Mona Lisa»: Der Hintergrund verschwimmt in einem nebligen Blau, das gibt dem Bild auch ohne geometrische Linien Raumtiefe. Im letzten Abendmahl nutzt Leonardo die mathematische Perspektive für eine emotionale Aussage: Alle Linien der Zentralperspektive laufen auf den Kopf von Jesus zu.

Einer der Schüler von Leonardo war Jacopo Pontormo, 1494 in der Nähe von Empoli geboren. Nach seiner Ausbildung arbeitete er in Florenz und fiel da Vasari und Michelangelo positiv auf. Deshalb erhielt er eine ganze Reihe von Aufträgen von den Medici. Unter anderem malte er ein Porträt von Cosimo de’ Medici, allerdings posthum, dieser erste grosse Medici hatte lange vor ihm gelebt.  Jacopo Pontormo starb unter ungeklärten Umständen an Neujahr 1557 in Florenz. Sein Tod ist Thema des Briefromans von Laurent Binet.

Der Roman beginnt mit einem Brief von Maria de’ Medici an ihre Tante Catherine de Médicis, die  Heinrich II. geheiratet hat und deshalb nichts Geringeres ist als Königin von Frankreich:

Stellt Euch vor, liebe Tante, in Florenz hat sich ein entsetzliches Drama abgespielt. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch an den Maler Pontormo, denn unter all den Künstlern, an denen unser Vaterland so reich ist, war er wohl einer der berühmtesten zu der Zeit, als Ihr Italien noch nicht in Richtung Frankreich verlassen hattet auf dem Weg zu Eurer königlichen Bestimmung. Stellt Euch vor, er wurde in der großen Kapelle von San Lorenzo tot aufgefunden, genau dort, wo er seit undenklichen Zeiten – seit elf Jahren! – gearbeitet hatte. Es heißt, er habe sich das Leben genommen, weil er mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Ich war ihm ein paarmal im Haus seines Freundes Bronzino begegnet: Da wirkte er wie einer dieser alten Narren, die nur noch in ihren Bart murmeln. Gleichviel, es ist sehr traurig. (Seite 16)

Maler Jacopo muss bis kurz vor seinem Tod gearbeitet haben. Er lag auf dem Rücken vor seinem Sintflut-Fresko in der Kirche, mit Spuren frischer Farbe am Kittel. Er arbeitete bedächtig und war anspruchsvoll, was seine Arbeit anging. Er war selten zufrieden und besserte immer wieder nach. Mit den letzten Korrekturen am Fresko in der Kirche und mit der Leiche scheint aber einiges nicht zu stimmen. Architekt Giorgio Vasari schreibt deshalb an Michelangelo Buonarroti, den berühmten Bildhauer, der mittlerweile in Rom lebt:

Jacopo da Pontormo, dessen Begabung Ihr ja schon erkannt habt, als er noch ein Kind war, lebt nicht mehr. Er wurde tot aufgefunden in der Kapelle von San Lorenzo, zu Füßen seiner berühmten Fresken, die er mit einem Bretterverschlag vor neugierigen Blicken verbarg. Allein schon diese Nachricht hätte mich dazu bewogen, Euch zu schreiben, denn einer musste Euch ja von dem schrecklichen Unglück erzählen. Aber die Umstände seines Todes verlangen erst recht, dass ich mich an Euch wende.

Denn da seiner Leiche ein Meißel im Herzen steckte, direkt unter dem Brustbein, war die Hypothese eines Unfalls schwer aufrechtzuerhalten. So hat mir der Herzog den Auftrag gegeben, Licht in die unselige Geschichte zu bringen, bei der es erhebliche dunkle Stellen gibt, wie Ihr selber erkennen werdet, wenn ich Euch sage, dass Jacopos Leiche außer dem todbringenden Meißel Male von stumpfer Gewalt am Kopf zeigte, zugefügt mit einem Hammer, der am Fußboden der Kirche zwischen seinem übrigen Werkzeug gefunden wurde. (Seite 18f.)

Auf diese Weise entwickelt und verwickelt Laurent Binet ganz im Stil von Umberto Eco die Geschichte in Form von 176 Briefen. Das klingt auf den ersten Blick anstrengend, ist es aber überhaupt nicht. Es geht bei weitem nicht nur um den Tod des armen Malers, sondern um Intrigen am Hof, künstlerische Leidenschaft, politische Machtspiele à la Machiavelli und um religiösen Fanatismus. Architekt Giorgio Vasari wird beauftragt, den Fall zu lösen – das erweist sich allerdings als kompliziert. Die Künstlerszene von Florenz ist ein Natternnest, Michelangelo weilt zwar in Rom, hat aber trotzdem überall die Finger drin, Königin Katharina von Medici spinnt von Paris aus ihre eigenen Fäden und dann ist da auch noch der Schatten des puritanischen Predigers Savonarola. Die Briefe sind also keineswegs trocken, sondern geradezu skandalträchtig. Ein Beispiel:

Maria de’ Medici schreibt an Catherine de Médicis, Königin von Frankreich:

Florenz, den 7. Januar 1557
Liebe Tante, ich bin am Verzweifeln und wage kaum, Euch an meiner Schande teilhaben zu lassen – aber wem sonst könnte ich mich anvertrauen? Stellt Euch vor, im Atelier dieses Pontormo wurde ein Gemälde gefunden, auf dem Venus (die Göttin der Liebe also) dargestellt ist, hingegeben, nackt, zwischen ihre gespreizten Schenkel gleitet das Bein eines kleinen molligen Cupido, und – ich wäre lieber tot, als dass ich diese Zeilen schreiben müsste – diese Ausgeburt einer römischen Hure hat mein Gesicht! Könnt Ihr Euch eine tiefere Demütigung vorstellen? Warum hat dieser verdammte Maler mich zum Vorbild seiner obszönen Darstellung genommen? Ich schwöre, nie habe ich ihm Unrecht getan oder ihn in irgendeiner Form beleidigt. Außerdem kannte ich ihn kaum, denn ich bin ihm, wie gesagt, nur ein-, zweimal bei Bronzino begegnet. (Seite 35f.)

Hoppala. Ein erotisches Bild in der Wohnung eines Kirchenmalers ist an sich schon skandalös. Die Zeiten haben sich geändert. Die hyperrealistischen Fresken von Pontormo passen schlecht zum Zeitgeist der Gegenreformation – in Rom wird Michelangelo sogar aufgefordert, seine nackten Figuren in der Sixtinischen Kapelle zu «bekleiden». Dazu kommt: Diese Maria de’ Medici, deren Gesicht auf dem Erotikbild von Pontormo prangt, ist nicht irgendwer, sondern die Nichte der französischen Königin und Tochter des Herzogs von Florenz. Und sie ist mit dem Sohn des Hauses Este verlobt. Das Bild ist explosiver Stoff – und könnte als Hebel eingesetzt werden im machiavellistischen Spiel um Macht. Katharina von Medici plant deshalb in Paris den Diebstahl des kompromittierenden Bildes – als Druckmittel.

Spannend ist das Buch, weil die Briefe uns Leserinnen und Lesern quasi ungefilterten Zugang zu den Gedanken, Wünschen und Befürchtungen der Protagonisten ermöglicht, also zu ihren Perspektiven. Diese Perspektiven sind nicht nur formal das zentrale Stilmittel des Buchs, die Perspektive spielt auch eine zentrale Rolle bei der dramatischen Wendung, die zur Lösung des Kriminalfalls führt. Aber mehr sei hier nicht verraten.

Laurent Binet: Perspektiven. Roman. Rowohlt, 304 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-00694-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498006945

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 26.03.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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