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Der große Riss
Donald Trump möchte den USA nicht nur Grönland und Kanada einverleiben, sondern sich auch den Panamakanal holen. «Zurückholen», wie er sagt. Seit 1914 verbindet der Kanal den Atlantik mit dem Pazifik. Heute ist es eine der wichtigsten Wasserstrassen der Welt. Jedes Jahr fahren etwa 14’000 Schiffe durch den Panamakanal – das sind etwa fünf Prozent des maritimen Welthandels. Das Land rund um den Kanal gehörte ursprünglich zu Kolumbien. 1903 besetzten US-Truppen das Gebiet und riefen den unabhängigen Staat Panama aus. Im Gegenzug erhielten die USA die Rechte für die Kanalzone. Präsident Theodore Roosevelt machte den Kanalbau zur nationalen Prestigeaufgabe. 1914 erzielten die Arbeiter den Durchstich. Doch dann brach der Erste Weltkrieg brach. Auch nach dem Krieg behielten die USA den Kanal unter ihrer Herrschaft. Dagegen entwickelte sich in Panama immer grösseren Widerstand. 1977 einigten sich der damalige US-Präsident Jimmy Carter mit Panama auf einen Vertrag, der die Rückgabe des Kanals an Panama bis zum Jahr 2000 vorsah. Seither kontrolliert Panama den Kanal – und das gefällt Donald Trump offenbar gar nicht. Er will den Kanal zurück. Damit knüpft er an die Herrenhaltung der USA an, wie sie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts üblich war. Diese Haltung macht Cristina Henríquez in ihrem neuen Roman erlebbar: In «Der große Riss» erzählt sie, wie Arbeiter aus Panama und den umliegenden Ländern 1907 mit Schaufeln und Spitzhacken den Kanal graben. Sie erzählt die Geschichte etwa aus der Sicht eines einheimischen Bauarbeiters, von jungen Arbeitssuchenden aus Barbados, Ecuador und Kolumbien oder der eines Arztes aus den USA, der die Malaria ausrotten soll. In meinem 249. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum der Roman über den Bau des Panamakanals gerade jetzt aktuell und sehr lesenswert ist.
Die Idee, den Atlantik und den Pazifik miteinander zu verbinden, existiert schon seit dem 16. Jahrhundert. 1881 beginnt der französische Ingenieur Ferdinand de Lesseps, der schon den Suezkanal geplant hat, mit dem Bau eines Kanals. Das Land um den Kanal gehört damals zu Kolumbien. De Lesseps hat vor, das Land auf Meereshöhe zu durchqueren. Doch das Projekt scheitert. Schuld daran sind einerseits technische Schwierigkeiten, vor allem aber die tropischen Krankheiten: Über 20’000 Arbeiter sterben an Malaria und Gelbfieber.
1903 übernehmen die USA das Projekt. Sie greifen Kolumbien mit Kriegsschiffen an und fordern Zugriff zum Kanal. Das Land um diese Kanalzone herum erklärt sich für unabhängig: Der Staat Panama wird ausgerufen. Als Gegenleistung für die «Befreiung» von Kolumbien erhalten die USA die Kontrolle über die Kanalzone. Der Panamakanal wird zum Mond-Projekt von Präsident Theodore Roosevelt.

Anders als Ferdinand de Lesseps setzen die amerikanischen Ingenieure nicht auf einen Meereshöhenkanal, sondern auf ein Schleusensystem: Sie bauen also eine Art gigantische Wassertreppe, mit deren Hilfe die Schiffe den Bergrücken im Inneren des Landes überqueren können. Gleichzeitig führen sie systematisch medizinische und hygienische Massnahmen ein: Sie kämpfen gegen Moskitos und stehendes Wasser und schaffen es auf diese Weise, Malaria und Gelbfieber entscheidend zu reduzieren. Durch Unfälle sterben trotzdem über 5600 Arbeiter beim Bau des Kanals. 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, ist der Bau fertiggestellt.
Mit ihrer Geschichte setzt Cristina Henríquez 1907 ein. Der Bau des Kanals steckt in seiner Anfangsphase. Herrische US-Amerikaner treffen auf eine ablehnende, einheimische Bevölkerung und auf Tausende von Arbeitsmigranten aus den umliegenden Ländern. Dazu gehört auch die sechzehnjährige Ada Bunting: Als blinde Passagierin reist sie von Barbados nach Colón in Panama. Ihre Schwester, Millicent, ist krank. Sie hat nach einer schweren Lungenentzündung Wasser auf der Lunge und benötigt eine Operation, die sich die Mutter Lucille nicht leisten kann. Als Schneiderin verdient Lucille nicht viel. Ada hätte sich selbst einen Job gesucht, nur ist Arbeit auf Barbados schwer zu finden. Doch in Panama, das sagen jedenfalls alle, in Panama sei es «so leicht, Arbeit zu finden, wie Äpfel von Bäumen zu pflücken». Wenn alle anderen sie pflücken können, überlegt sich Ada, warum nicht auch sie? Sie will so lange in Panama bleiben, bis sie das Geld für die Operation verdient hat. Dann will sie wieder heimkehren.
Wie Ada sucht auch der siebzehnjährige Omar Aquino Arbeit bei den Kanalbehörden. Anders als Ada kommt er nicht von weit her: Omar stammt aus Panama, sein Vater Francisco ist Fischer. Jeden Tag fährt er alleine mit seinem Boot zur See und jeden Tag bringt er eine Handvoll Fische nach Hause und verkauft sie auf dem Markt. Omar will mehr sehen von der Welt als See, Boot und Fischstand. Er hat sich selbst Englisch beigebracht und bei der Kanalverwaltung nach einer Stelle gefragt. Dem Beamten hat er gesagt: «Ich möchte beim Bau Ihres Kanals helfen.»
Omar war schlank und nicht besonders stark, aber er war willig, und hätte der Mann gefragt, weshalb Omar den Job wollte, wäre er bereit gewesen zu sagen, dass der Kanal seiner Meinung nach die Zukunft Panamás sei, dass sein Land mit solch einer wichtigen Wasserstraße für immer mit dem Rest der Welt verbunden wäre. Doch der wahre Grund, weshalb Omar den Job wollte – der Grund, den er dem Mann gegenüber nie ausgesprochen hätte –, lautete, dass sein Leben klein und einsam war. Jeden Tag wachte er auf ohne einen Ort, an den er gehen, ohne einen Menschen, den er sehen konnte. Er wollte seinen sinnlosen Tagen einen Sinn geben, wollte unter Menschen sein und sich nicht mehr so oft einsam fühlen. Gab es einen besseren Weg dafür, als sich der größten der Menschheit bekannten Unternehmung anzuschließen, deretwegen Tausende von Menschen gekommen waren, und zwar ausgerechnet zu dem Ort, an dem er lebte? (Seite 52f.)
Omar will sich also am Jahrhundertprojekt seines Landes beteiligen, weil er sich im Haus seines Vaters einsam fühlt. Sein Vater Francisco Aquino fährt jeden Tag mit seinem Boot, das er von Hand aus dem Stamm einer Zeder gebaut hat, zum Fischen aufs Meer. Francisco versteht seinen Jungen nicht, die beiden reden nicht mehr miteinander. Jetzt schon gar nicht mehr: Ihre Arbeitszeiten sind so unterschiedlich, dass sie aneinander vorbeileben. Jeden Tag steigt Omar in den Zug, der ihn zur grossen Baustelle bringt. Die Baustelle ist gigantisch:
Unterhalb des Hügels, wo die Oswalds lebten, jenseits des Bahnhofs, jenseits der Stadt Empire mit ihren Maschinenhallen, dem Klubhaus, der Commissary, dem Postamt und den Geschäften, eine steile Terrasse von 154 Stufen hinab, unten, tief unten in den Kordilleren, auf dem Grund eines menschengemachten Kanals, der gegenwärtig 40 Fuß tief und 420 Fuß breit war und täglich wuchs, arbeiteten Tausende von Männern im Regen, schaufelten Matsch, wickelten Dynamit, verlegten Bahngleise, und schlugen Spitzhacken gegen die Felswände. Jeden Morgen strömten diese Männer, die aus aller Welt gekommen waren – aus Orten wie Holland, Spanien, Puerto Rico, Frankreich, Deutschland, Kuba, China, Indien, der Türkei, England, Argentinien, Peru, Jamaika, St. Lucia, Martinique, Antigua, Trinidad, Grenada, St. Kitts, Nevis, Bermuda, Nassau, und insbesondere Barbados – an einem Ort zusammen: dem Culebra Cut. Sie strömten in Arbeitszügen herbei und kletterten hinunter in den Riss, und wenn die Pfeife ertönte, arbeiteten sie. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang öffneten sie die Erde. Sie standen bis zu den Knien im Schlamm. Sie atmeten den Kohlenqualm der Lokomotiven ein, die unentwegt an ihnen vorbeizogen. Ihnen dröhnten die Ohren vom Hämmern der Felsbohrer, die an den freigelegten Hängen widerhallten. Sie bekamen Blasen an den Händen und bluteten vom stundenlangen Halten der Stiele ihrer Hacken und Schaufeln. Ihre Beine taten weh, ihre Schultern brannten, der Rücken fühlte sich an, als würde er bersten. Sie waren permanent nass. Sie konnten sich nie abtrocknen. Sie waren mit Matsch bedeckt. Sie konnten sich nie waschen. Ihre Stiefel fielen auseinander. Sie zitterten fiebrig. Sie sangen Lieder im Regen. Sie schwangen ihre Arme und schaufelten und schaufelten. (Seite 50)
Auf dem Hügel, weit über dem Kanal, da steht das Haus der Oswalds. Hier wohnt John Oswald, ein US-amerikanischer Arzt. Offiziell ist er zuständig für die Labore der Gesundheitsbehörde, sein Auftrag lautet aber, die Malaria zu bekämpfen, ja sie endgültig auszurotten. So wie es mit dem Gelbfieber gelungen ist. Er hat die Übertragung der Krankheit erforscht. Man sagt, dass sich niemand auf der Welt so gut mit der Anopheles-Mücke auskennt wie John Oswald. Er will die Mücke ausrotten, indem er die Häuser ausräuchert und stehendes Wasser beseitigt. Wenn er es schafft, wird sein Name in die Geschichtsbücher eingehen. Vorerst kämpft John allerdings vor allem mit der Ablehnung der Einheimischen – und mit dem Regen.
John Oswald ist mit seiner Frau Marian von Tennessee nach Panama gekommen. Marian hat Botanik studiert. Jetzt fühlt sie sich eingesperrt im grossen Haus auf dem Hügel. Statt sich an die Regeln zu halten und brav zu Haus zu bleiben, macht sie, wenn John bei der Arbeit ist, grosse Spaziergänge. Auch im Regen. Dabei handelt sie sich eine schwere Lungenentzündung ein. John braucht eine Pflegerin für seine Frau – und heuert Ada an, weil er kurz zuvor beobachtet hat, wie das Mädchen auf der Strasse einem jungen Mann spontan erste Hilfe leistete.
Das weisse Haus auf dem Hügel war imposant. Ada, die noch nie einen Fuß in ein derart prächtiges Haus gesetzt, und schon gar nicht darin gewohnt hatte, konnte ihr Glück nicht fassen, wenn sie jeden Morgen aufwachte. Überhaupt war es ein Glücksfall gewesen, an diesen Job zu gelangen – sich um Mr. Oswalds Frau zu kümmern, die an einer Lungenentzündung litt –, und sie sagte sich immer wieder, dass es ein Job war, den sie unbedingt behalten musste. Ein anderer wäre nicht so leicht zu bekommen und sicher nicht so gut bezahlt. Bei den Oswalds verdiente sie so viel, dass sie in nur sechs Wochen genug Geld für Millicents Operation beisammenhätte, wenn ihre Rechnung stimmte. Sechs kurze Wochen, dann könnte sie nach Hause fahren. (Seite 148)
Ada pflegt also Marian Oswald. Der junge Mann, dem Ada zufällig erste Hilfe leistete, war Omar, der Sohn des Fischers. Cristina Henríquez verknüpft auf diese Weise die Schicksale der unterschiedlichsten Menschen in Panama. Sie erzählt zwar parallel die Geschichten von Ada und Omar, von John und Marian, von Francisco und seinem Fischhändler Joaquín, von Adas Mutter Lucille und Adas kranker Schwester Millicent auf Barbados und von den Arbeitern im grossen Graben, mit denen Omar schuftet, von Berisford, Prince und Clement und ihrem brutalen Vorarbeiter Miller. Cristina Henríquez wechselt wie in einem Reigen von Einzelschicksal zu Einzelschicksal. Weil sie dabei aber ein feines Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Geschichten spinnt, entsteht aus dem Patchwork der Einzelschicksale eine einzige grosse Geschichte: die Geschichte des Panamakanals.
Dabei sticht immer wieder die brutale Art und Weise der US-Amerikaner hervor, mit welcher Verachtung für Einheimische und Arbeiter sie vorgehen. Cristina Henríquez sagt das nie, sie zeigt es. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel ist die Sache mit dem Hut. Omars Vater Francisco, der Fischer, steht am Fischstand von Joaquín, den er mit seinem Fang beliefert. Der fragt ihn:
«Ich frage dich, mein Freund, was ist ein Panamahut?» Francisco antwortete, dass er es nicht wisse.
«Hast du die Strohhüte gesehen, die alle sogenannten wichtigen Männer tragen?»
«Nein.»
Joaquín wich ein Stück zurück und warf Francisco einen irritierten Blick zu. «Gehst du denn nie irgendwohin?»
«Ich komme hierher.»
«Hierher, ja, gut. Aber es gibt eine ganze andere Welt da draußen.» Joaquín zeigte hinter sich auf die Stadt, vielmehr auf das ganze Land, das jenseits des Docks lag. Francisco zuckte mit den Schultern. «Würdest du irgendwohin gehen, dann würdest du sie sehen. Sie sind bei Männern eines bestimmten Ranges inzwischen nicht mehr wegzudenken. Es sind helle, fein gewebte Hüte mit einem schwarzen Band.
«Du meinst Ecuadorhüte?» Joaquín klatschte in die Hände. «Du lässt mich ja doch nicht hängen! Ja, Ecuadorhüte! Wissen die Yankees nicht, dass diese Hüte in Ecuador gefertigt werden? Aber jetzt nennen sie sie Panamahüte. Und verkaufen sie als solche.»
«Aber warum?»
Joaquín beugte sich über den heutigen Fischhaufen und sichtete die Fische, deren silbrige Körper übereinander glitten. «Was denkst du, warum?»
«Sie benutzen unseren Namen.»
«Sie benutzen jeden Teil von uns, wie es ihnen passt.» Joaquín schnappte sich einen Fisch und hielt ihn an der Schwanzflosse hoch. «Es ist wie bei diesem Fisch. Man kann die Schuppen für Schmuck benutzen, die Augen als Köder, das Fleisch zum Essen, und die Gräten für eine Suppe, und wenn sie fertig sind, ist nichts mehr übrig.» Er warf den Fisch beiseite. (Seite 197f.)
Wir kennen hier bei uns vor allem die weltpolitische und vielleicht die wirtschaftliche Seite des Panamakanals. Cristina Henríquez erzählt in ihrem Roman die Geschichte der Menschen, die den Kanal gebaut haben. In einem Gespräch an der Northwestern University hat sie erzählt, dass sie einen persönlichen Bezug zum Land und seiner Geschichte habe: Ihr Vater stammt aus Panama, sie war seit ihrer Kindheit jedes Jahr während der Sommerferien im Land. Als Kind habe sie den Kanal langweilig gefunden. Erst mit der Zeit hat sie sich für den Bau und seine Geschichte interessiert und vor allem dafür, was der Kanal für die Panamaer bedeutet.

Für ihr Buch hat sie fünf Jahre recherchiert. Jeder Zugfahrplan und jedes Zeitungszitat im Roman sind authentisch. Ihr Buch hat sie übrigens ganz altmodisch von Hand in Notizhefte geschrieben. Die Geschichten der Menschen, die sie zu diesem Roman verwoben hat, sind ein wunderbarer Gegenentwurf zu jener Welt der US-Amerikaner, die nur aus Zahlen und Berechnungen besteht, aus Hochmut und aus Verachtung. Deshalb möchte ich Ihnen, gerade jetzt, dieses Buch ans Herz legen.
Cristina Henríquez: Der große Riss. Roman. Hanser, 416 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-446-28251-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282513
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Basel, 03.04.2025, Matthias Zehnder
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