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Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken
«Wäre ich Ärztin, so würde ich bei leichter Schwermut ein Rezept für Maschas Gedichte ausstellen.» Das schreibt Sarah Lorenz in ihrem berührenden Roman über Elisa, eine junge Frau, die Mascha Kalékos Gedichte liebt. Beide, die junge Frau und Mascha Kaléko, sind Aussenseiterinnen: Elisa, weil sie in sozial schwierigen Verhältnissen aufwächst, missbraucht wird und dennoch an die Liebe glaubt, Mascha Kaléko, weil sie die «undeutscheste deutsche Dichterin» ist. So sagt es Daniel Kehlmann. Elisa sitzt im ICE nach Hamburg. Auf dem Rückweg von Zürich, wo sie das Grab von Mascha Kaléko besucht hat, erzählt sie Mascha ihr Leben. Im inneren Dialog mit der geliebten Dichterin denkt sie zurück an die überforderte Mama, das Jugendheim und den «Onkel» im Jugendheim, die Flucht von Zuhause, die erste Liebe unter Punks im Abbruchhaus in Köln, und die vielen Lieben, die dann folgten. Dabei richtet sie sich immer wieder an Mascha Kaléko: «Ach, Mascha, weißt du, welcher Gedanke mich seit Stunden begleitet?» Alle Kapitel beginnen mit einem Gedicht von Mascha Kaléko. Auch mit den Gedichten tritt Elisa in Dialog. So schreibt Mascha Kaléko: «Man braucht nur eine Insel / Allein im weiten Meer. / Man braucht nur einen Menschen, / Den aber braucht man sehr.» Elisa sagt dazu: «Mascha, ausnahmsweise muss ich dir widersprechen.» Warum ich Ihnen ein Rezept für dieses Buch ausstelle, damit Sie es in Ihre literarische Hausapotheke aufnehmen, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 247. Buchtipp.
Literarisch könnte Mascha Kaléko so etwas wie die jüngere Schwester von Erich Kästner sein. Kästner ist 1899 in Dresden geb7oren, Mascha Kaléko 1907 in Galizien. Kästner ist 1974 in München gestorben, Mascha Kaléko 1975, also ein Jahr später, in Zürich. Vor allem aber haben beide, Kästner wie Kaléko, mit ihren Gedichten die Weimarer Republik verzaubert. Kästners Erfolg setzte etwas früher ein: Er eroberte Ende der 1920er-Jahre Berlin mit seinen Gedichten im Sturm. Nach Veröffentlichungen in den grossen Berliner Zeitungen erschien 1928 «Herz auf Taille» und 1929 «Lärm im Spiegel» – Gedichte von ironischer Abgebrühtheit, mit viel Zartsinn zwischen den Zeilen.

Mascha Kaléko war etwas später dran. 1929 veröffentlichte sie erste Gedichte, 1933 erschien bei Rowohlt «Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag». Der Ton ihrer Lyrik traf präzise das Lebensgefühl der Weimarer Republik: Traurigkeit und Ironie hielten einander die Waage. Während die Bücher von Erich Kästner auf dem Scheiterhaufen der Nationalsozialisten landeten, blieb Mascha Kaléko zunächst unbehelligt. Vermutlich war den Nazis schlicht entgangen, dass sie Jüdin war. Das änderte sich aber bald: 1935 erhielt auch Mascha Kaléko Berufsverbot. Nach langen Bemühungen schaffte Mascha Kaléko 1938 zusammen mit ihrem zweiten Mann die Flucht in die USA. Da veröffentlichte sie ab 1939 Texte auf deutsch in Exilpublikationen und verdiente ihr Geld mit dem Verfassen von Reklametexten.
Nach dem Krieg emigrierte sie wieder, diesmal nach Israel. Da wurde sie aber nicht heimisch. Weil ihre Gedichte im Nachkriegsdeutschland auf viel Interesse stiessen, streckte sie ihr Fühler wieder nach Deutschland aus. Auf dem Weg von Berlin zurück nach Jerusalem musste sie in Zürich Station machen, weil sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Sie musste sich in die Klinik Hirslanden begeben, da starb sie 1975 an Magenkrebs. Deshalb ist Mascha Kaléko auf dem jüdischen Friedhof in Zürich beerdigt. Auf ihrem Grabstein steht schlicht «Dichterin» – bis heute gehört sie zu den meistgelesenen Dichterinnen deutscher Sprache – Goethe inklusive.
Daniel Kehlmann schreibt über ihre Gedichte: «Bei schwächeren Lyrikern kann man oft sagen, welche Zeile zuerst da war und welche des Reims wegen dazuerfunden wurde, bei ihr aber stehen alle Zeilen gleichberechtigt, und nie kommt der metrische Rhythmus dem konversationshaften Parlandostil in den Weg.» Obwohl ihr «Lyrisches Stenogrammheft» wie die Gedichte Kästners über die zeittypische Stimmung der Weimarer Republik ausstrahlen, jenen «frech-sensiblen, traurigen und doch schnoddrigen Ton Berlins kurz vor Hitler», wie es Schriftsteller Horst Krüger nennt, haben sie oft auch die Einfachheit eines Volkslieds und sind deshalb zeitlos schön. Daniel Kehlmann schreibt sogar: «Solange man in deutscher Sprache überhaupt noch Gedichte liest, werden jene von Mascha Kaléko dabei sein.»

Dieser Dichterin also setzt Sarah Lorenz mit ihrem Roman über Elisa ein Denkmal. Im Prolog erzählt Elisa, wie sie in Zürich eine Buchhandlung besucht und nach Gedichten von Mascha Kaléko fragt. Nicht dass sie die Bücher brauchen würde, sie besitzt sie schon. Aber keinen Gedichtband aus der Stadt, in der Mascha Kaléko gestorben ist.
Natürlich kenne ich die drei Bände bereits, aber: Diese Ausgabe des Lyrischen Stenogrammhefts besitze ich noch nicht. Ich besitze die mit dem Leinenrücken, den Rotweinflecken und den angeknabberten Seiten. Sogar Bücherwürmer lieben Maschas Gedichte und können nicht genug von ihnen kriegen. Es war das erste Buch von ihr, das mir in die Hände fiel. Nicht metaphorisch, nein, es fiel tatsächlich beim Auspacken von Bücherspenden während meiner Buchhandels-Ausbildung im Antiquariat. Plumps. Das ist dann auch bald 20 Jahre her. Sowas hatte ich noch nie gelesen, frech, melancholisch und weise zugleich, ein Ausnahmetalent. (Seite 10)
Und dann steigt Elisa in Zürich in den ICE nach Hamburg. Fahrzeit: Siebeneinhalb Stunden. Sie können das Buch also etwa zeitsynchron lesen. Während der Fahrt blättert Elisa im Gedichtband und tritt innerlich in einen Dialog mit Mascha Kaléko: Sie erzählt der geliebten Dichterin ihr Leben. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das von ihrer Mutter im Alter von elf Jahren in eine Jugendhilfeeinrichtung gegeben wird. Da hat sie zwar ein Zimmer, aber es ist kalt und es hat da einen Onkel. Einen Onkel, der kein Onkel ist, sondern Heimleiter, aber so genannt werden möchte. Einen Onkel, von dem alle wissen, was er tut. Einen Onkel, über dessen Taten alle schweigen. Einen Onkel, der wegen Missbrauchs angeklagt werden wird.
Mit 13 nimmt sie sich vor, spätestens mit 30 an einer Überdosis Heroin sterben zu wollen, mit 14 büxt sie aus nach Köln, weil da die Punks wohnen.
Weil ich meine Ziele schon immer entschlossen verfolgt habe, stand ich im Spätsommer 1998 mit einem Rucksack voller Klamotten und meinem Buch ‹Wir Kinder vom Bahnhof Zoo› in der grünen Armee-Umhängetasche auf der Domplatte. Eigentlich soll die Geschichte der 13-jährigen heroinsüchtigen Christiane F. Menschen abschrecken. Bei mir war das Gegenteil der Fall. Sie wurde mein Vorbild. Meine Mutter besaß nicht viele Bücher, wie auch, wenn sie nicht gerne diese ihr fremde Welt der Buchhandlungen betrat. Gerade mal ein Regalbrett konnte sie füllen. Drei Titel erinnere ich genau: ‹Sorge dich nicht – lebe!›, ‹Trotzdem habe ich meine Träume› und dann eben ‹Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo›. ‹Trotzdem habe ich meine Träume›, in den Titel hab ich mich schon mit zehn verguckt. Auf ein Trotzdem folgt immer Widerstand, Widerspenstigkeit, ein Aufbegehren, ein Weitermachen. Das passt zu mir, und zu dir, Mascha, da passt das auch. Leben ist das, was auf das Trotzdem folgt. Ist das Unsinn? Ist das einer dieser Sätze, die schlau klingen und gar nichts sagen? Oder einer dieser Sätze, die mit wenig alles sagen? (Seite 31f.)
Es ist beides. Das macht das Buch von Sarah Lorenz und die Gedichte von Mascha Kaléko so lesenswert. «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» und «Trotzdem habe ich meine Träume» sind Bücher über junge drogenabhängige Mädchen. Diese Welt zieht Elisa an: Eine Spritze im Arm scheint ihr mit 14 das Erstrebenswerteste überhaupt. Vielleicht, weil sie hofft, auf diese Weise nach dem Aufenthalt im grossen, kalten Haus etwas Wärem fühlen zu können – oder überhaupt etwas fühlen zu können. Natürlich funktioniert das nicht: Elisa wird immer wieder enttäuscht – und sucht doch immer wieder nach Liebe. Das verbindet sie mit Mascha Kaléko,
Wenn ich neue Menschen kennenlerne, heißt es immer: Du bist so lustig, ich liebe deinen Humor. Doch nach und nach kommt ein Trauma nach dem anderen zum Vorschein. ‹Humor ist der Regenschirm der Weisen›, meinte Erich Kästner mal. Damals, in deiner Zeit. Kanntet ihr euch? Bestimmt. War er nett zu dir? Ich rate es ihm. (Seite 20)
Die Gedichte von Mascha Kaléko strukturieren den Text: Jedes Kapitel beginnt mit einem Gedicht. Aus dem Gedicht heraus entwickelt Elisa ihren Dialog mit der verehrten Dichterin. Ein Beispiel:
Weil deine Augen so voll Trauer sind,
Und deine Stirn so schwer ist von Gedanken,
Laß mich dich trösten, so wie man ein Kind
In Schlaf einsingt, wenn letzte Sterne sanken.
Die Sonne ruf ich an, das Meer, den Wind,
Dir ihren hellsten Sommertag zu schenken,
Den schönsten Traum auf dich herabzusenken,
Weil deine Nächte so voll Wolken sind.
Und wenn dein Mund ein neues Lied beginnt,
Dann will ichs Meer und Wind und Sonne danken,
Weil deine Augen so voll Trauer sind,
Und deine Stirn so schwer ist von Gedanken …
Hast du dein Leben auch in Abschnitte unterteilt, Mascha? In Galizien, Marburg, Frankfurt, Berlin, New York, Jerusalem, oder in Saul, Chemjo, Chemjo und Steven, dann wieder nur Chemjo und am Ende nur du? Bestimmt. Wer macht das nicht? Je mehr Jahre, desto mehr Struktur, um sich zu erinnern, ist ja nötig.
Ich unterteile meins, das ist irgendwie extrem unangenehm, in Liebesbeziehungen. Kann immer genau sagen, wer wann gerade mein Herz besetzt hatte. Und besetzt war es durchgehend. Wie auf einem Lineal habe ich die Lieben alle zentimeterweise vermerkt, Wohnungen, Jobs, Freundschaften, das sind die Millimeter. Unangenehm ist es mir, weil ich mich allen feministischen Überzeugungen zum Trotz, wohl nie ganz von der Vorstellung lösen konnte, mein Seelenheil lediglich in einer romantischen Beziehung zu einem Mann zu finden. (Seite 60f.)
«Laß mich dich trösten, so wie man ein Kind / In Schlaf einsingt, wenn letzte Sterne sanken», schreibt Mascha Kaléko. Elisa berichtet von ihren Beziehungen, den Versuchen, zu lieben, zu retten und zu trösten. Die Gedichte von Mascha Kaléko werden zum Einstieg in eine Seelenwelt, zum Anstoss für den Dialog zwischen der jungen Frau und ihrer verehrten Dichterin. Wie die Gedichte von Mascha Kaléko ist das Buch in einem ebenso frechen wie sensiblen Ton geschrieben, jene Mischung aus Traurigkeit und Schnoddrigkeit, die den Schmerz erträglich macht, ja manchmal schon verklärt und allen Pathos mit Ironie herunterspült. Im Buch bilden die Gedichte jeweils den Einstieg in die Kapitel – das Buch als Ganzes wird auf diese Weise zu einem wunderbar leicht lesbaren Einstieg in die Gedichte von Mascha Kaléko. Und wenn Sie beim Lesen in Hamburg angekommen sind, werden Sie die «undeutscheste deutsche Dichterin» in Ihr Herz geschlossen haben. Spätestens dann.
Sarah Lorenz: Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken. Roman. Rowohlt, 224 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-498-00699-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498006990
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 19.03.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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