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In einem Zug
Es gibt grossartige Romane, die während einer einzigen Zugfahrt spielen, von «Murder on the Orient Express» der unverwüstlichen Agatha Christie bis zu Friedrich Dürrenmatts gespenstischer Erzählung «Der Tunnel». Die Versuchung ist deshalb gross, Daniel Glattauers neuen Roman «In einem Zug» in diese Reihe zu stellen. Schliesslich spielt der ganze Roman im Schnellzug von Wien nach München. Das stimmt zwar, trotzdem passt der Roman nicht in diese Reihe. Das Zugabteil, in dem sich der bekannte Schriftsteller Eduard Brünhofer und die Psychotherapeutin Catrin Meyr zufällig treffen, setzt nur den Rahmen, der diese zufällige Begegnung möglich macht. Eine Begegnung, die zu einem doppelten Dialog wird. Denn die beiden, der bekannte Autor von Liebesromanen, der aber seit dreizehn Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat, und die Psychotherapeutin, die sich in Liebesdingen nicht binden kann, vertiefen sich in ein Gespräch. Allerdings gegen den Willen des Autors. Der will eigentlich nur seine Ruhe haben und kommentiert innerlich alles, was gesagt und natürlich auch, was nicht gesagt wird. Das ist die zweite Ebene des Dialogs. Das Resultat ist – verblüffend. Warum das so ist und warum ich Ihnen das Buch zur Lektüre empfehle, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 240. Buchtipp.
Um diesen Kalauer gleich abzuräumen: Das Buch können Sie natürlich in einem Zug lesen, und zwar in beiden Bedeutungen des Satzes. Es wäre aber eine verpasste Chance, wenn Sie das Buch nur aus den Gesichtspunkten passsender Reiselektüre oder als Stoff für Schnellleser betrachten würden. Das wäre, wie wenn Sie ein Gemälde aufgrund seines Rahmens beurteilen würden. Auch dass die beiden Passagiere über die Liebe sprechen, scheint mir nicht ganz so zentral zu sein. Was mich am Buch fasziniert hat, ist weniger der äussere Dialog zwischen den beiden Zufallsbekanntschaften, als der innere Dialog, den der Schriftsteller dabei mit sich selber führt.

Aber von vorne. Eduard Brünhofer reist mit dem Zug von Wien nach München. Das ist eine vierstündige Zugreise. Er ist Schriftsteller von Beruf und leidlich bekannt: Er schreibt Liebesromane. Allerdings ist der letzte Roman schon dreizehn Jahre her und so langsam lastet das schriftstellerische Schweigen schwer auf Eduard Brünhofer. Ihm schräg gegenüber sitzt, wie er selber sagt, eine Frau frühen mittleren Alters». Sie heisst Catrin Meyr und ist Psychotherapeutin.
Was mir bald aus dem halb toten Winkel meines linken Auges auffällt: Die Frau macht das Gleiche wie ich – NICHT. Und zwar drei Dinge gleichzeitig. Sie liest nicht, sie hört nicht, sie schläft nicht. Kein Handy, kein Laptop, keine Ohrenstöpsel, kein Buch, kein Frauenmagazin, kein Männermagazin, kein Fachmagazin, kein Unterfachmagazin, gar nichts. Und ihre Augen sind offen und wach. (Okay, ich habe einmal kurz schräg hinübergeschaut. Sie hat es nicht bemerkt. Oder so getan, als hätte sie es nicht bemerkt.)
Menschen, die einfach einmal nichts tun, fallen sofort auf. Denn wir leben in einer Zeit, wo man nach zehn Sekunden Nichtstun, also ohne multimedial vollstreckte Ablenkung, normalerweise in ein Loch fällt. Überhaupt im Zug, da fällt man in ein Loch und atmet Zugluft, das ist an sich eine ernst zu nehmende Vorstufe zur Depression.
Faktum: Die Frau und ich tun schräg gegenüber voneinander seit gut fünfzehn Minuten tatsächlich nichts. Das ist revolutionär. Wir demütigen damit den gesamten Streaming-Markt mit seinen soeben frisch für uns ins Netz gegangenen Milliarden neuen Bildern, Texten, Postings, Videos und Podcasts.
Spontan mutmaße ich, dass sie gerade der gleichen im Aussterben begriffenen Beschäftigung nachgeht wie ich: Denken. Vielleicht sogar Nachdenken. Aber dann bemerke ich etwas, ja, ich erwische sie förmlich dabei, als mein insgesamt zweiter Sekundenblick über sie hinwegstreicht: Sie tut fast nichts, aber sie tut doch etwas. Sie schaut mich an. (Seite 10)
Vielleicht haben Sie es gemerkt: Das Buch ist im Präsens geschrieben. Daniel Glattauer erzählt also keine «Es war einmal»-Geschichte, in der ein Schriftsteller in einem Zug sass und die Frau betrachtete, die ihm schräg gegenüber sass. Wir nehmen quasi live an den Gedanken von Eduard Brünhofer teil, an seinem Bewusstseinsstrom. Der englische Begriff dafür lautet «Stream of Consciousness». Das ist eine literarische Erzähltechnik, die versucht, den inneren Gedanken- und Gefühlsfluss einer Figur direkt und ungefiltert darzustellen. Glattauer erzählt also kein äusseres Geschehen, sondern bildet die Wahrnehmung seiner Figur so ab, wie sie sich subjektiv selber erlebt. Das ist manchmal auch sprunghaft, assoziativ und wenig strukturiert.
Der bekannteste literarische Text, der einen solchen Stream of Consciousness abbildet, ist der Monolog von Molly Bloom im «Ulysses» von James Joyce. Das soll Sie nicht abschrecken, der Roman von Daniel Glattauer ist problemlos zugänglich. Der Bewusstseinsstrom von Eduard Brünhofer, sein innerer Dialog mit sich selbst, ist nur eine Ebene im Buch. Die andere Ebene ist der äussere Dialog zwischen Brünhofer und seiner Zufallsbekanntschaft. Interessant ist das, weil die Dialoge sich oft widersprechen. Brünhofer geht zum Beispiel von Annahmen aus, die sein Gegenüber mit unerwarteten Reaktionen unterläuft. Oder er sagt etwas ganz anderes, als er sich selber gedacht hat.
«SIE sind Eduard Brünhofer?» Ich werde ihren Blick jetzt nicht beschreiben. Zu schwierig, ich müsste ihn erst einmal selbst analysieren.
«Ja, der bin ich.»
«Da sitze ich ja neben einer Berühmtheit.»
Daneben nicht, schräg gegenüber, genau genommen.
Außerdem: «Berühmt bin ich nicht, höchstens bekannt.»
«Wahnsinn», sagt sie. Ja richtig, das ist ihr Blick.
«Ich habe natürlich schon sehr viel von Ihnen … gehört.»
Gehört? Hörbücher? Ich bin verwundert, lasse es mir aber natürlich nicht anmerken. Wobei ich mit dem Nicht-anmerken-Lassen momentan ziemlich inflationär umgehe.
«Aber ich habe, das muss ich zu meiner Schande gestehen, ich habe noch nie etwas von Ihnen gelesen», sagt sie.
Ich bin entsetzt, mehr über mich selbst. Eine derartige Fehleinschätzung hätte ich mir nicht zugetraut.
«Dafür muss man sich wirklich nicht genieren», sage ich in angestrengter Demut und jenem Gefühlszustand, der nach dem Hochmut steil bergab geht.
«Ich lese nämlich fast nur Sachbücher, kaum … äh … Belletristik», sagt sie.
«Das verstehe ich. Mir geht es genauso», erwidere ich. Übrigens wahrheitsgemäß.
«Und wenn, dann lieber angloamerikanische und britische Literatur.»
Das hat bestimmt der Englischlehrer angerichtet.
«Wunderbar. Dann sind Sie ja ohnehin bestens versorgt», sage ich.
Wir nicken uns gegenseitig zu, wie man es tut, wenn man vorhat, das Gespräch zu beenden, weil nun wirklich alles Notwendige gesagt zu sein scheint. Nein, sie nickt ein bisschen anders. Sie nickt so, als würde sie darauf warten, dass von mir noch etwas kommt. Und da will ich vorsichtig sein. Nicht dass sie nachträglich zu ihren Freunden sagt: Stellt euch vor, ich habe im Zug Eduard Brünhofer kennengelernt. Er wollte aber nur von seinen Büchern reden. Ich selbst war für ihn Luft. Er hätte mich wenigstens fragen können … (Seite 19f.)
Eigentlich will unser Schriftsteller also nur seine Ruhe. Um den Eindruck zu vermeiden, dass er mit Menschen, die seine Bücher nicht gelesen haben, nicht redet, gibt er sich einen Ruck und fragt zurück: «Und Sie? Was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?» – und verheddert sich so immer tiefer in ein Gespräch mit der Frau. Wie ein Krokodil, das seine Beute packt und langsam und unerbittlich ins Wasser schleppt, zieht Catrin Meyr den Schriftsteller immer tiefer ins Gespräch und bringt ihn dazu, genau darüber zu reden, worüber er sich zu schweigen eisern vorgenommen hat: die Liebe. Und zwar nicht irgendeine, sondern seine Liebe. Die Liebe zu seiner Frau Regina, genannt Gina. Anders als ein Krokodil braucht Catrin Meyr keine sieben Zahnreihen, die den Schriftsteller unerbittlich packen. Er manövriert sich gleich selber dahin, wo er nicht hinwill. Es ist eine Mischung aus männlicher Eitelkeit, verletztem Schriftstellerstolz, Neugierde und Ungeschick. Das Resultat aber ist interessant. Hören wir noch einmal in den Bewusstseinsstrom von Eduard Brünhofer rein.
Verschnaufpause. Wir sind uns gerade ein Stück nähergekommen, also ist es an der Zeit, wieder ein Stück voneinander abzurücken. Catrin schaut zum Fenster raus und sieht Schwanenstadt vorbeiziehen. Das kann man unkommentiert so stehen lassen.
Ja
So ist es.
In einem Zug.
Von Wien.
Nach München.
Schön, wenn einmal keiner etwas sagt, keiner und keine. «Stillbeschäftigung» nannte man das in der Schule. Wurde inzwischen vom Internet abgelöst.
Ich habe mich immer schon gerne still beschäftigt. Dabei bin ich auf meine besten Gedanken gekommen. Man braucht nämlich nicht zu glauben, dass einem die guten Gedanken zufliegen. Die muss man herbeidenken. Dazu muss man sich still mit ihnen beschäftigen, still und ausdauernd.
Das Problem: Man kann sich nur Gedanken herbeidenken, die irgendwo auch schon in einem drinnen sind. Man muss sie also in seinem Inneren suchen. Gerade als Schriftsteller kann es einem leicht passieren, dass man verzweifelt nach guten Gedanken sucht, die aber gar nicht in einem drinnen sind. Man sucht und sucht und sucht, aber man findet sie nicht.
Erschwerend kommt hinzu, dass man nie weiß, ob man die guten Gedanken nicht findet, weil sie gar nicht in einem drinnen sind oder weil sie sich einfach so verdammt gut versteckt haben. Oft sind sie zugeschüttet von anderen, qualitativ minderwertigen Gedanken, von dem ganzen Werbescheiß, der einem ständig durch den Kopf schießt, der sich oft schon in dicken Schichten über die guten Gedanken gelegt hat. Man muss die guten Gedanken also nicht nur suchen, man muss förmlich nach ihnen graben, sie erst freischaufeln. Das ist mühselige Arbeit, noch dazu reine Kopfarbeit, und dann kommen die Physiotherapeutinnen, die Catrins dieser Welt, und sagen, du solltest mehr für deinen Körper tun. Und vielleicht etwas weniger denken. Haha.
Die Frage ist freilich auch, wie lange man den guten Gedanken Zeit gibt, sich zu zeigen, also zu beweisen, dass sie in einem drinnen sind. Eines kann ich dazu aus Erfahrung sagen: Dreizehn Jahre sind wahrscheinlich zu viel.
Ich bewundere die Kolleginnen und Kollegen, deren gute Gedanken so dicht und zugänglich sind, dass sie sie jederzeit abschöpfen und folglich jedes Jahr ein neues Buch auf den Markt werfen können, das vor guten Gedanken nur so strotzt.
Natürlich kann man zu seinen Gedanken auch folgende Einstellung haben: Ich bemühe mich redlich, meine besten Gedanken herbeizudenken, aber ich werde nicht lange nach ihnen suchen. Wenn ich sie nicht bald finde, dann nehme ich eben die zweitbesten oder drittbesten. Oder die erstbesten, die mir in den Sinn kommen. Das hätte ich vielleicht machen sollen. Die Masse ist sowieso dankbar für jeden erstbesten Gedanken, der möglichst flach daherkommt, damit man bequem auf ihn aufspringen kann. Darum auch die Millionen Posts in den asozialen Medien jeden Tag.
Aber wenn man einmal dreizehn Jahre auf der Suche nach seinen besten Gedanken ist, dann bringt man es schwer übers Herz, Gedanken zu nehmen, die einem schon dreizehn Jahre an der Oberfläche herumtanzen. Außerdem kann man ja nie wissen, ob man seinen allerbesten Gedanken nicht bereits dicht auf den Fersen ist, ob sie nicht morgen bereits durchschimmern bis zum Sehnerv und man sie übermorgen vollständig wird freilegen können im Gehirn. Denn eines ist klar: Wenn sie in einem drinnen sind, die guten Gedanken, dann leben sie und entfalten sich, einmal entdeckt, in voller Blüte, auch noch nach dreizehn Jahren. Dann muss man sie nur noch niederschreiben.
«Eduard?»
«Ja?»
Ich schrecke auf, fühle mich ertappt. Habe ich geschlafen? Habe ich geschnarcht?
«Eduard, weißt du, was mich interessieren würde?», fragt Catrin. (Seite 55)
Und wirft damit den nächste Haken aus. Den unser Schriftsteller bereitwillig schluckt.
Die Passage zeigt aber vor allem, um was es in dem Buch geht: Woher kommt das, was in mir drin ist? Gedanken, aber auch Gefühle – wie entstehen die, und wie bemerke und finde ich sie? Woher kommt, was ein Schriftsteller beschreibt, warum liebt ein Liebender? Und vor allem: Wissen wir wirklich, wer wir sind und was wir denken und fühlen?
Catrin Meyr lockt den Schriftsteller nicht nur immer tiefer in ein Gespräch hinein, sondern auch aus sich heraus. Sie zwingt ihn mit ihren Fragen, sich zu erklären. Zunächst wehrt er die Fragen gekonnt ab. Im inneren Monolog erklärt er, warum er strategisch so antwortet und was er nicht sagen will. Das funktioniert aber nicht lange. Spätestens ab Linz ist es mit der Strategie vorbei. Catrin Meyr legt unerbittlich Widersprüche offen. So sagt der Schriftsteller etwa, Vorstellungskraft sei für das Schreinben wichtiger als Erfahrung: «Die Vorstellung lebt von der Fantasie. Die Erfahrung macht sie zunichte.»

Die Psychotherapeutin braucht kaum drei Dialogzeilen, um das Bonmot von Eduard Brünhofer zu demontieren und ihm vor Augen zu führen, dass seine These gefährlich ist für einen Autor von Liebesromanen. Es würde bedeuten, dass er entweder schreiben oder lieben kann. Vielleicht ist das auch der Grund für die Schreibkrise des Autors: Seine Erfahrung mit der Langzeitbeziehung zu seiner Frau hat seine Liebesfantasie zunichte gemacht.
Im Laufe der Reise verschränken sich die beiden Dialoge, der innere, den Eduard Brünhofer mit sich selber führt, und der äussere, den er mit Catrin Meyr führt, immer mehr. Sie werden zu einem spannenden Psychogramm und zu einer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Paul Watzlawick lässt grüssen.
Gegliedert ist das Buch übrigens nach den Stationen, an denen der Zug von Wien nach München hält, von Wien-Hütteldorf und Sankt Pölten über das erwähnte Linz und natürlich Salzburg bis nach Rosenheim, München Ost und München Hauptbahnhof. Da kommt es zu einer überraschenden Wendung, mehr sei hier aber nicht verraten.
Daniel Glattauer: In einem Zug. Roman. DuMont Buchverlag, 208 Seiten, 32.90 Franken; ISBN 978-3-7558-0040-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783755800408
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 30.01.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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